Zwischen Hamas-Sieg und dem Diktat Israels und des Westens
Über die Einschätzung des Wahlsiegs der Hamas und dessen Folgen sprach Urs Diethelm von der Palästina-Solidarität Basel mit Muhammad Jaradat, Koordinator der Refugee Rights Campaign der in Bethlehem angesiedelten palästinensischen Flüchtlings-NGO Badil.
25.04.2007
In einer
Stellungnahme zu den Wahlen spricht die Koordination palästinensischer
NGOs aus den besetzten Gebieten und dem Golan (OPGAI) von einem Votum
zugunsten der „fundamentalen Rechte der PalästinenserInnen“ und von
einer „grundlegenden Veränderung der Beziehungen zur internationalen
Gemeinschaft“. Kannst du erklären, was damit gemeint ist?
Wenn wir PalästinenserInnen von fundamentalen Rechten sprechen, dann
meinen wir damit das Recht auf Freiheit von fremder Besatzung, das
Recht auf Widerstand und das Recht auf Selbstbestimmung. Diese drei
Rechte gehören zu jenen Grundrechten, die – zumindest gemäß den
Statuten der Vereinten Nationen – die friedliche Zusammenarbeit von
Staaten und Nationen leiten sollten.
Der Wunsch nach einer grundlegenden Veränderung der Beziehung zwischen
PalästinenserInnen als Volk oder Nation und der internationalen
Gemeinschaft bezieht sich auf das breite Bedürfnis nach Beendigung der
politischen und wirtschaftlichen Abhängigkeit von und der Erniedrigung
durch die US-Regierung und ihre europäischen Verbündeten.
PalästinenserInnen in den von Israel besetzen Gebieten der Westbank und
des Gazastreifens haben jegliches Vertrauen verloren, dass die vom so
genannten Quartett (USA, EU, Russland, UNO) vermittelte
„Nahost-Friedenspolitik“ auch nur annähernd zu einer Anerkennung und
Unterstützung ihrer fundamentalen Rechte führen kann. Die Wahl von
Hamas soll den Bruch mit dieser Nahostpolitik, die das Leben der
palästinensischen Menschen seit Beginn der 90er Jahre dominiert, und
den Bruch mit der Fatah, die diese Politik mitgetragen hat,
sicherstellen.
Die erniedrigende Art und Weise, wie die US-amerikanische und britische
Regierung am 14. März das Schutzabkommen für die sechs
palästinensischen PFLP- und Fatah-Gefangenen in Jericho einfach aufhob
und diese schutzlos der israelischen Militärmaschinerie überließ, ist
eine weitere Bestätigung dafür, dass westliche Regierungen nicht bereit
sind, für die Rechte der PalästinenserInnen und der Abkommen mit diesen
einzustehen. Das hat die Wut und Frustration nur verstärkt, obwohl das
Verhalten von Großbritannien und den USA eigentlich keine Überraschung
war.
Ist
es richtig, dass bei diesen Wahlen das Recht auf Rückkehr ein wichtiges
Thema war und z.B. KandidatInnen, die Initiativen unterstützt haben,
die dieses Recht zugunsten von Friedensvereinbarungen opfern wollten
(z.B. Genfer Initiative), nicht gewählt wurden?
Das Recht auf Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge wurde im
Wahlkampf von allen KandidatInnen betont und war ein zentrales Thema.
Kein einziger Kandidat, keine einzige Kandidatin hat sich für eine
Aufgabe des Rückkehrrechts ausgesprochen, auch nicht jene, die für ihr
Engagement in der Genfer Initiative bekannt waren. Letztere wurden
einfach nicht gewählt, weil ihnen niemand vertraut und weil sie als
Teil jener korrupten Politik betrachtet werden, die nun endlich
abgelöst werden sollte.
Wie wirken sich die Wahlen auf die Lebensbedingungen der Frauen aus? Haben die Frauenquoten ein positives Signal gesetzt?
Die neue palästinensische Regierung unter der Führung von Hamas hat
sich noch nicht formiert. Deshalb ist es noch viel zu früh, um Aussagen
über die langfristigen Auswirkungen auf die Situation der Frauen zu
machen.
Die Quotenregelung für Frauen wurde in den vorangehenden Kommunalwahlen
eingeführt, mit dem Ergebnis, dass Frauen nun sowohl in den Gemeinden
als auch im Parlament stärker vertreten sind. Unter allen Parlamenten
arabischer Staaten ist das neu gewählte Parlament der palästinensischen
Autonomiebehörde (PA) nun gleich hinter Tunesien das mit der größten
Anzahl von Parlamentarierinnen. Letztere finden sich in allen
politischen Fraktionen, viele von ihnen auch in der Hamas, und es wird
sich weisen, ob und inwiefern sich die politischen Positionen und
Schwerpunkte der Parlamentarierinnen von denen ihrer männlichen
Kollegen unterscheiden.
Der unerwartet eindeutige Wahlsieg von Hamas gab und gibt Anlass zu
großer Besorgnis um die zukünftigen gesellschaftspolitischen
Prioritäten, nicht nur unter Frauen und der deklariert nichtreligiösen
Bevölkerung oder den ChristInnen, sondern auch in einer breiten
Bevölkerungsmehrheit. Die Stimme für Hamas war eine Stimme für eine
politische Alternative, aber kein Mandat für die Praxis
religiös-fundamentaler Gesellschaftspolitik. Unmittelbar nach den
Wahlen kursierte auf palästinensischen Märkten, in Taxis, Geschäften
und Institutionen eine Flut von „Hamaswitzen“, die diese Besorgnis
öffentlich zum Ausdruck brachte.
Hamas-Sprecher waren bemüht, in öffentlichen Stellungnahmen zu
erklären, dass sie ihr Mandat als politisches Mandat im Sinne des
Programms der nationalen Befreiungsbewegung verstehen und nicht als
Auftrag zur Errichtung eines islamischen Staates in Palästina. Was
zukünftig davon zu erwarten ist, wird sich weisen.
Bei der
Parlamentswahl wurden 13 Abgeordnete gewählt, die in israelischen
Gefängnissen sitzen. Haben sie jetzt eine Chance auf Freilassung?
Die Erwartung, dass palästinensische Gefangene aufgrund ihrer Wahl in
das Parlament von Israel freigelassen würden, ist naiv und beruht auf
einer grundlegend falschen Analyse israelischer Zukunftspläne. Diese
Erwartung gab es auch vor ein paar Jahren, als der hochrangige
Fatah-Aktivist Marwan Barghouthi verhaftet wurde. Inzwischen wurde er
von einem israelischen Zivilgericht zu einer mehrfach lebenslänglichen
Haftstrafe verurteilt, und RechtsexpertInnen des israelischen
Justizministeriums sind soeben damit beschäftigt zu klären, wie sie die
sechs neuen politischen Gefangenen von Jericho nun am besten für den
Rest ihres Lebens hinter Gitter bringen können. Es ist Israels Ziel,
den organisierten palästinensischen Widerstand und alle Organisationen
und Einrichtungen, die PalästinenserInnen befähigen, koordiniert und
unabhängig zu handeln, für die nächsten 10–20 Jahre zu zerschlagen.
Israelische Regierungen sind zum Schluss gekommen, dass der bestehenden
palästinensischen Führung kein Friede unter israelischen Bedingungen
diktiert werden kann, und alle einflussreichen internationalen Akteure
sind bereit, Israels neue Politik mitzutragen. Mit militärischer Macht
durchgesetzter Unilateralismus hat schon lange die
Verhandlungsstrategie der Oslo-Ara ersetzt. In diesem Szenario braucht
es keine palästinensischen PartnerInnen und die Freilassung von
politischen Gefangenen wäre absurd.
Die USA und
die EU haben nach dem Wahlsieg der Hamas mit der Einstellung der Gelder
für die PA gedroht. War diese Reaktion für euch unerwartet?
Nein, diese Reaktion war nicht wirklich unerwartet, obwohl die
Bösartigkeit der jeweiligen Realpolitik dann doch oft das übertrifft,
was gewöhnliche, in ihre Alltagsrealität eingebundene Menschen als
Reaktion auf ihr Handeln erwarten. Alle hier waren darauf bedacht, die
Korrektheit der Parlamentswahlen zu garantieren und die Wahlen so
demokratisch zu gestalten, wie dies unter Bedingungen militärischer
Besatzung möglich ist. Diese Bemühungen waren auch erfolgreich, nur
wurden „die Falschen“ gewählt. Den Menschen in Palästina sind die
doppelten Standards des Westens, was die Demokratisierung des Nahen
Ostens und der arabischen Region betrifft, wohl vertraut. Überraschend
war nur die Einheit und Geschwindigkeit der Reaktion seitens der USA,
der EU und ihrer Mitgliedstaaten und Verbündeten.
Mittlerweile sind sich alle hier bewusst, dass die endgültige
Entscheidung darüber, ob und in welchem Umfang der Westen der PA in
Zukunft Gelder überweisen wird, nichts mit den Bedürfnissen der
palästinensischen Bevölkerung zu tun hat. Die zukünftige Finanzierung
der PA hängt alleine davon ab, wie die USA und die EU die
Zweckmäßigkeit des Zerfalls der PA für ihre geopolitischen Interessen
einschätzen. Die Antwort auf diese Frage ist derzeit noch nicht
entschieden, unter anderem auch, weil die politischen und militärischen
Strategen Israels noch nicht entschieden haben, ob Israel fähig und
willens ist, im Falle der Zerschlagung der PA wieder die volle
Verantwortung für die Versorgung der palästinensischen Bevölkerung in
den besetzten Gebieten zu übernehmen. Die Situation ist prekär, da die
PA und mit ihr die Bevölkerung von externer Finanzierung abhängig sind.
Obwohl die PA wahrscheinlich ohne Gelder aus den USA und der EU
manövrieren könnte, ist ihr der Zugang zu finanziellen Alternativen
verwehrt: Jeglicher Bankverkehr zwischen den besetzen Gebieten und dem
Ausland wird gemäß dem Wirtschaftsabkommen von Paris (1994) von Israel
und den USA kontrolliert.
Der Westen verlangt für die Weiterführung der Hilfe die Anerkennung von Israel. Wie wird die Frage bei euch diskutiert?
Im Grunde gibt es dazu nicht sehr viel Diskussionen, da die
PalästinenserInnen die wiederholten Aufforderungen des Auslands, Israel
anzuerkennen, schon lange leid sind und begriffen haben, dass sie zu
nichts führen. Seit den 70er Jahren stehen sowohl die PLO als auch
später die PA unter ständigem Druck, Israel anzuerkennen. Beide haben
dies auch wiederholt getan, ohne dass die damit verbundenen Versprechen
und Garantien eingelöst worden wären. Darüber hinaus haben die
PalästinenserInnen inzwischen verstanden, dass es nicht um die
Anerkennung des Staates Israel geht, sondern um die Anerkennung des
Staates Israel als „jüdischem Staat“. Letzteres wäre ein
Einverständnis, dass in Israel lebende PalästinenserInnen Staatsbürger
zweiter Klasse bleiben und die Rechtsansprüche der Palästinaflüchtlinge
aus dem Jahr 1948 annulliert werden – mit anderen Worten, dass
PalästinenserInnen die Ideologie des Zionismus unterschreiben. Und dies
ist eine Forderung, die sogar das politische Establishment Israels
immer wieder absurd findet.
Bisher
hat sich kaum jemand im Westen gegen die Kürzungen ausgesprochen, weil
sich fortschrittliche Kräfte nicht hinter die Hamas stellen wollen.
Viele hätten auch nichts dagegen, wenn das koloniale Konstrukt PA
abgeschafft und die große Zahl von Polizisten reduziert würde. Was
denkst du über diese Zurückhaltung?
Ich denke, dass die bisherigen Ausführungen bereits ganz gut zeigen,
warum PalästinenserInnen nicht einfach für eine Strategie der
Zerschlagung der PA eintreten können. Es geht nicht nur um die durch
die Oslo-Abkommen geschaffene und viel kritisierte palästinensische
Behörde, sondern um den Fortbestand organisierter palästinensischer
Politik überhaupt. Die PA, palästinensische Politik und Widerstand und
das Wohlbefinden der Bevölkerung sind eng miteinander verbunden. Der
Weg vorwärts führt nicht über die Zerschlagung der PA von außen. Der
Weg vorwärts muss von PalästinenserInnen selbst gegangen werden und
führt über eine Reform der bestehenden politischen Organisationen –
auch mit Hamas – über die PA hinaus zu einer Wiederbelebung der
Institutionen der PLO, die letztendlich alle PalästinenserInnen in
Palästina und im Exil vertritt. Die zurückhaltenden Proteste
fortschrittlicher Kräfte im Westen gegen den Versuch westlicher
Regierungen, den palästinensischen Widerstand und die Bevölkerung
mittels wirtschaftlicher Sanktionen in die Knie zu zwingen, ist
Ausdruck eines bedauerlichen Missverständnisses, das schnellstens
korrigiert werden sollte.
Israel hat
nach der Wahl mit verschiedenen Verschärfungen und Kollektivstrafen
reagiert? Was bedeuten diese Verschärfungen für die Bevölkerung?
Israels stärkste Waffe und Kollektivstrafe ist das Zurückbehalten der
monatlichen Rückvergütungen der Steuereinnahmen, die Israel basierend
auf bestehenden Abkommen für die PA kassiert. Das Volumen dieser
Steuern übertrifft bei weitem das Volumen der Auslandszahlungen an die
PA und dient fast gänzlich zur Auszahlung der Löhne an die Bediensteten
des öffentlichen Sektors in den besetzen Gebieten.
Die Rückhaltung des Steuertransfers durch Israel während eines Monats
bedeutet, dass Hunderttausende von PalästinenserInnen einen Monat lang
kein Einkommen beziehen – bei weitem nicht nur die Familien von
Polizisten, sondern auch jene von LehrerInnen, ArtztInnen,
MitarbeiterInnen im Gesundheitswesen, im Amt für Statistik, im
Verkehrsamt etc. Weitere Verschärfungen sind die Einschränkung der
Bewegungsfreiheit, die weitere Beschlagnahmung von Land, der Mauerbau,
der Bau von zusätzlichen Siedlungen, militärische Überfälle auf
Flüchtlingslager und Dörfer, Verhaftungswellen und das gesamte Arsenal
bekannter Maßnahmen.
Was erwartet ihr in der neuen Situation von der internationalen Solidaritätsbewegung?
Wir erwarten möglichst starke Proteste gegen die Politik der Erpressung
des palästinensischen Volkes durch westliche Regierungen und gegen
deren Komplizenschaft mit Israels militärischer Machtpolitik.
Wir hoffen auf Unterstützung durch die internationale
Solidaritätsbewegung, vor allem durch eine breite und koordinierte
Boykott- und Desinvestitionskampagne, die darauf zielt, Israel zu
isolieren und westliche Regierungen unter Druck zu setzen, bis die
fundamentalen Rechte der PalästinenserInnen in Palästina anerkannt und
respektiert werden. Eine solche Kampagne ist derzeit die einzige
Alternative zum gewaltsamen, militärischen Widerstand, zu dem das
palästinensische Volk berechtigt ist, der aber viele Menschenleben
fordert und allein nicht wirksam sein kann.
15-05-2006, 19:38:00 |Interview mit Muhammad Jaradat