Steuern und Finanzkapital: Für Finanzoligarchen ist jede Steuer Diebstahl
Winfried Wolf
Steuern sind die Korrektive des frei wütenden Marktes. Sie erlauben die Wahrung des Gemeinwohls, Umverteilung und Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben und Dienste. Sie sind ein konstitutives Instrument des demokratischen Staates. Über die Haltung der zeitgenössischen Finanzoligarchen gegenüber den Steuern schreibt Heiner Flassbeck, Chafökonom der UNCTAD: "Der demokratische Staat als Korrektiv ist ihnen zuwider, weil er ihre Überlegenheit wenigstens in einigen Teilbereichen in Frage stellt. Von einer solchen Position zur Abschaffung der Demokratie ist es übrigens nicht weit."
22.05.2007
Heiner Flassbeck ist Chefökonom der UNCTAD (United Nations Conference of Trade and Development). Er ist verantwortlich für den alljährlichen im September in New York und Genf publizierten Trade and Development Report. Dieser Report gilt weltweit — noch vor dem Jahrbuch der Weltbank und dem Jahresbericht des Weltwährungsfonds — als die wichtigste, häufig auch kritischste und visionärste Analyse der Weltwirtschaft, ein Referenzwerk für Regierungen und Zentralbanken auf der ganzen Welt.
Steuern sind die Korrektive des frei wütenden Marktes. Sie erlauben die Wahrung des Gemeinwohls, Umverteilung und Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben und Dienste. Sie sind ein konstitutives Instrument des demokratischen Staates. Über die Haltung der zeitgenössischen Finanzoligarchen gegenüber den Steuern schreibt Flassbeck: "Der demokratische Staat als Korrektiv ist ihnen zuwider, weil er ihre Überlegenheit wenigstens in einigen Teilbereichen in Frage stellt. Von einer solchen Position zur Abschaffung der Demokratie ist es übrigens nicht weit."
Steuerbeamte sind Wegelagerer
Die Antinomie zwischen den Beutejägern des internationalen Finanzkapitals und dem demokratischen Rechtsstaat ist absolut. Vom vormaligen Weltbankpräsidenten und milliardenschweren Investmentbanker James Wolfensohn stammt das prophetische Postulat für eine "worldwide stateless governance". Gemeint ist, dass die Profitmaximierung des Finanzkapitals maximal wird, wenn sich der Weltmarkt — frei von jeglichem normativen Eingriff — autonom reguliert.
Demokratische Rechtsstaaten sind in einer solchen Welt nicht gefragt. Alles, was an institutioneller Regelinstanz noch nötig ist, sind einige Söldnerorganisationen wie die Welthandelsorganisation, der Weltwährungsfonds und staatsunabhängige Zentralbanken.
Lichtjahre trennen die Weltsicht der Oligarchen des globalisierten Finanzkapitals von jener der Demokratie. Die Konfrontation findet statt auf einem besonderen Terrain: dem der Steuern und des Finanzwesens.
Den meisten Beutejägern ist es ontologisch unerträglich, Steuern zu bezahlen. Das Gleiche gilt natürlich für Sozialabgaben und jede andere Art von Solidaritätsbeiträgen. Für die Oligarchen kommt die Steuer einer Konfiszierung gleich. Fiskalbeamte sind Wegelagerer. Die Oligarchen des globalisierten Finanzkapitals sehen sich selbst als die allwissenden, allmächtigen Herrscher der Welt, als einziger Motor der Wertschöpfung und des wirtschaftlichen Fortschritts.
Steuerbeamte sind unnütze, verächtliche Wesen. Der Staat, in dessen Namen sie konfiszieren, ist verschwenderisch, unproduktiv, arrogant. Eine Horrorvision treibt den Finanzhai um: der erzwungene Transfer eines erheblichen Teils seines Gewinns an den überflüssigen, ineffizienten Staatsapparat. Kurz: Für den durchschnittlichen Investmentbanker, Vermögensverwalter oder Börsenspekulanten ist Steuer Diebstahl.
Diesen Diebstahl zu verhindern — oder wenigstens sein Produkt zu minimieren — sind heilige Pflichten des Privatbankers: er schuldet dies seinem Klienten.
Das Bankgeheimnis leistet dabei ausgezeichnete Assistenz. Mehr als ein Drittel aller Offshorevermögen der Welt werden von in der Schweiz beheimateten Instituten verwaltet.
Steuerhinterziehung ist kein strafrechtlich relevantes Delikt nach Schweizer Recht. Daher wird auch keine Rechtshilfe geleistet. Der "Montbourg-Bericht" von 2001 (benannt nach dem Präsidenten der Untersuchungskommission betreffend die Kapitalflucht der französischen Nationalversammlung) schätzt den Anteil des unversteuerten Offshorevermögens auf Schweizer Konten auf rund 90%. Die Deutsche Bank geht von einem Anteil von über 70% aus.
Persönlich stört mich diese Plünderung der Staatskassen unserer demokratischen Nachbarstaaten nicht besonders. Diese Staaten hätten die rechtstaatlichen Instrumente, um dem Unfug des helvetischen Bankgeheimnisses, der bodenlosen Hypokrisie der hiesigen Banker und der servilen Gefolgschaft des Bundesrats ein Ende zu setzen. Sie tun es nicht! Das haben die Verhandlungen über die Bilateralen Verträge II zwischen der Schweiz und der EU erneut gezeigt.
Fluchtgeld tötet
Wenn aus Deutschland mehrere Milliarden Euro von Schwarzgeld abfließen und mit der Komplizität der hiesigen Banker in den Ali-Baba-Kellern von Genf, Zürich und Basel gehortet werden, stirbt niemand an Hunger.
Ganz anders ist die Situation für die Völker der Dritten Welt: Wenn die korrupten Halunken in Marokko, Gabun, Indonesien, Honduras die Staatskasse plündern anstatt Steuern zu zahlen, ihre Beute in die Schweiz transferieren, dann blutet dort das Gemeinwesen aus. In den Spitälern fehlen die Medikamente, in den Schulen die Lehrer. Unterernährung, Elend und Verzweiflung von Millionen und Abermillionen geplagter Menschen sind die unmittelbare Folge der Fluchtkapitalströme aus den Ländern der südlichen Hemisphäre.
100000 Menschen sterben jeden Tag an Hunger oder seinen unmittelbaren Folgen. Im Jahr 2005 ist alle fünf Sekunden ein Kind unter zehn Jahren verhungert. 852 Millionen Menschen sind permanent schwer unterernährt. Das ist einer von sechs Menschen auf unserem Planeten — der im Übrigen von Reichtum überquillt!
Es gibt keine Fatalität. Ein Kind, das heute an Hunger stirbt, wird ermordet. Die Weltordnung des globalisierten Raubtierkapitalismus ist nicht nur mörderisch. Sie ist auch absurd. Sie tötet, aber sie tötet ohne Notwendigkeit.
Für Großkunden haben die Schweizer Banken ihre Niederlassungen in den exotischen Finanzparadiesen aufgebaut. Beispiel: die Bahamas. In der Hauptstadt New Providence gibt es 34 Schweizer Bankniederlassungen.
Die Piraten schauen auf Diskretion. Sie scheuen das Licht der Öffentlichkeit. Einkommen-, Vermögen-, Erbschaftsteuern sind im Paradies der Bahamas unbekannt. Eine originelle Institution, die IBC (International Business Company) garantiert absolute Anonymität: die IBC wird in maximal 24 Stunden mit einem Stammkapital von 5000 Dollar gegründet. Anwalts- und Registrationskosten sind unbedeutend. Die IBC ist eigentlich eine Aktiengesellschaft. Aber weder die Namen der Aktionäre noch der geschäftsführenden Personen noch der Aufsichtsratsmitglieder werden genannt.
Ein Strohmann (oder eine Strohfrau), ein Briefkasten genügen. Seit dem Inkrafttreten des IBC-Act von 1990 sind rund 110000 solcher Gesellschaften gegründet worden. Gemäß dem Financial Service Board kommen jedes Jahr rund 10000 dazu.
Kriminaloberrat Schwerdtfeger, vormals Leiter der Abteilung "Organisierte Kriminalität" im Landeskriminalamt von Nordrhein-Westfalen, sagt: "Organisiertes Verbrechen ist verschärfter Kapitalismus." In den Steuerparadiesen verblassen die Grenzen zwischen legal und verbrecherisch beschafftem Kapital.
Was Steuern und Einkommensverteilung angeht ist die Schweiz eines der ungleichsten Länder der Welt: 90% der Steuerpflichtigen besitzen 30% aller Vermögenswerte. Den Staat zu Tode sparen ist das Ziel der helvetischen Reaktionäre, die das Bankgeheimnis in der Verfassung festschreiben wollen. Mit unglaublicher Aggressivität betreiben sie die Politik der leeren Kassen. Steuerreduktionen für die Reichen sind die direkte Ursache der organisierten Debilität des Gemeinwesens.
Die Konsequenz? Der Steuerausfall legitimiert die Politik der Austerität. Es gibt keinen zynischeren Satz als: "Man muss den Gürtel enger schnallen." Wie eng? Nach der Caritas-Studie vom Juni 2005 leben heute in der Schweiz über 550000 Menschen knapp am oder unter dem Existenzminimum. Drogenabhängige? Arbeitsscheue Vaganten? Nein! Die erdrückende Mehrzahl der im Elend, in täglicher Angst vor dem nächsten Morgen lebenden Menschen in unserem Land sind sog. "working poor", anständige, arbeitsame Familien, die sich abrackern, aber wegen der unsinnig hohen Lebenskosten und unanständig geringen Einkommen keine Chance auf eine erträgliche Existenz haben.
Wo ist Hoffnung?
Pierre Bourdieu schreibt: "Der Neoliberalismus ist wie Aids. Er zerstört zuerst die Immunkräfte des Opfers." Die neoliberale Wahnidee will uns glauben machen, dass das Wirtschaftsleben allein Naturgesetzen gehorcht. Die rasant fortschreitende soziale Ungleichheit, das wirtschaftliche Elend so vieler Familien, die tiefe psychologische Verunsicherung, die Existenzangst, die Rechtlosigkeit, die der Raubtierkapitalismus auch in der Schweiz befördert, werden noch immer von vielen unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger als "natürliche", nicht umzukehrende Vorgänge aufgefasst. Die Theorie von der Naturgesetzlichkeit der "unsichtbaren Hand" des Marktes ist eine Terror-Theorie, ein Obskurantismus, eine Irrationalität schlimmster Sorte.
Die französische Revolution begann vor 217 Jahren mit einem Steuerstreit. Die Deputierten des Dritten Standes wollten, dass fürderhin auch die Aristokraten (und die Kirchenfürsten) Steuern bezahlen sollten. Ludwig XVI. weigerte sich. Der Dritte Stand konstituierte sich als Nationalversammlung. In der Nacht zum 4.August 1789 erklärte diese die radikale Abschaffung des Feudalsystems. 1793 beschloss sie, den König zu opfern.
Der Kampf um die Steuergerechtigkeit ist eine der Grundvoraussetzungen für einen sozial gerechten, tatkräftigen Staat. In unserem Land ist sein Ausgang heute unsicherer als je zuvor. Sicher ist nur eines: Sieg oder Niederlage hängen ausschließlich ab von unserer demokratischen Mobilisierung, von der kollektiven Bewusstwerdung.
Wie schreibt Bertolt Brecht in Mutter Courage und ihre Kinder:
Es kommt der Tag, da wird sich wenden
Das Blatt für uns, er ist nicht fern.
Da werden wir, das Volk, beenden
Den großen Krieg der großen Herrn.
Die Händler all mit ihren Bütteln
Und ihrem Kriegs- und Totentanz
Sie wird auf ewig von sich schütteln
Die neue Welt des g‘meinen Manns.
Es wird der Tag, doch wann er wird
Hängt ab von mein und deinem Tun.
Drum wer mit uns noch nicht marschiert
Der mach‘ sich auf die Socken nun.
Jean Ziegler
(Der Autor ist UNO-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung. Von ihm erschien zuletzt Das Imperium der Schande. Der Kampf gegen Armut und Unterdrückung, München 2005)
Quelle: SOZ, Mai 2007