Russland: Kapitalistischer Normalzustand
Russland meldet sich in der Umverteilung der Macht und des Kapitals zurück. Putin inszeniert Gasstreit mit der Ukraine, und der westliche Kapitalismus traut seinen Augen nicht.
24.04.2007
NACH EINIGEN TAGEN Muskelspiel sowohl in Kiew als auch in Moskau erhält die Ukraine nun wieder voll ihre Lieferungen von russischem Gas. Die veröffentlichten neuen Konditionen sind derart eigenartig und unglaubwürdig, dass man von einem Geheimabkommen ausgehen muss, das wahrscheinlich in den nächsten Monaten stückweise bekannt werden wird. Der Konflikt selbst ist nicht neu. Schon seit den 90er Jahren hat es immer wieder Reibereien zwischen der armen Ukraine und dem nicht ganz so armen Russland über ausstehende Zahlungen für russische Gaslieferungen gegeben. Neu waren die Aufmerksamkeit und die Reaktion der EU. Brüssel sieht sich in Osteuropa noch immer als kapitalistische Speerspitze, als Garant für die Einführung der Marktwirtschaft. Doch das ist nicht mehr zeitgemäß.
Russland meldet sich als neuer, junger kapitalistischer Staat in der Weltordnung zurück. Der Zerstörungsphase der alten staatswirtschaftlichen Strukturen durch den Trunkenbold Boris Jelzin folgen nun der Aufbau und die Stärkung der neuen marktwirtschaftlichen Strukturen. Und Russlands Präsident Wladimir Putin tritt den alten Kapitalfraktionen in den USA und Europa offensiv(er als bisher) gegenüber. Das irritiert die konservative bürgerliche Öffentlichkeit. Wiewohl sich immer mehr westliche Manager, Fonds und Konzerne mit dem Russland Putins anfreunden. Vermutlich wird sich im Verhältnis von West- und Mitteleuropa in diesem Jahrhundert das 19. Jahrhundert wiederholen: Es wird sich wieder ein prorussischer Flügel in der Bourgeoisie herausentwickeln. Der russlandfeindliche Flügel existiert ja ohnehin schon lange und ist sehr solid.
Noch ist Russland für viele mit dem Flair der Revolution, des Aufbruchs in eine neue Welt verbunden. Doch das neue kapitalistische Russland ist um kein Jota besser als Deutschland, Großbritannien oder Frankreich. Wladimir Putin versucht, eine bürgerliche Gesellschaft zu formen, in der es ähnliche Spielregeln wie in den alten kapitalistischen Industriestaaten gibt. Russland soll nicht wie China in den 20er Jahren sein: ein zerstückeltes Staatsgebilde, das von einer Vielzahl von Warlords beherrscht wird. Die Warlords der Neuzeit heißen nur anders: Oligarchen. Unter Jelzin zu Geld und Macht gekommen, hat sie Putin gezähmt. Khodorkowski, der Chef des nun zerschlagenen Ölkonzerns Yukos, war die Galionsfigur der Oligarchen. Er sitzt jetzt im Gefängnis. Mit seinem Fall hat sich Putin endgültig gegen die Oligarchen durchgesetzt. Bereits vor der Demontage des Yukos-Eigentümers hatte sich der russische Präsident mit zwei weiteren Oligarchen – Beresowski und Gussinki – angelegt. Diese waren nicht so blind wie Khodorkowski und sind deshalb auch rechtzeitig ins Ausland geflüchtet. Doch mit ihnen hatte der Kampf zwischen einem Warlord-Russland und einem gesamtkapitalistisch und einheitlich auftretenden Russland, wie es Putin vorschwebt, erst begonnen.
Der Gasstreit mit der Ukraine dürfte eine neue Etappe des jungen kapitalistischen Russland einleiten: die Aufnahme als Partner in die kapitalistische Staatengemeinschaft. Der Ablauf des Gasstreits in den wenigen Tagen um den Jahreswechsel brachte paradoxerweise in der westlichen Öffentlichkeit alte antirussische („antikommunistische“) Ressentiments zum Vorschein. Der russische Bär versuche nun statt mit Waffen und Gewalt Europa mit Gas und Öl unter seine Pranken zu bekommen. Die von den Russen geforderte Anhebung der Gaspreise für die Ukraine sei kalte Erpressung, moralisch letztklassig. Der ganze Konflikt zeige nur, wie gefährlich die große Abhängigkeit Europas vom russischen Gas sei.
Neue Energieszenarien müssten überlegt werden. Sollte die Atomenergie aus diesem Blickwinkel nicht doch eine positive Rolle spielen können?
Der Schwachsinn dieser Gedanken ist von unglaublicher Intensität. Österreich hat sich ihm genauso geöffnet wie Deutschland. Man möchte glauben, dass Blödheit neben der Profitlogik der zweite Pfeiler der bürgerlichen Meinungsmache ist. Schauen wir trotzdem dahinter.
Zunächst zum Konflikt selbst: Die Ukraine bezog bisher Erdgas aus Russland zu einem absoluten Freundschaftspreis. Für den Kubikmeter musste sie nur 5 US-Cent zahlen. Russland will die Ukraine zu weltmarktüblichen Konditionen beliefern. Diese liegen um rund 500 Prozent darüber. Österreich zum Beispiel bezieht drei Fünftel seines Gasbedarfs aus Russland, das sind im Jahr rund 5,5 Milliarden Kubikmeter. Der jüngste Einstandspreis liegt bei 21,9 Euro-Cent pro Kubikmeter, umgerechnet etwa 24 bis 25 US-Cent. Die Ukraine soll künftig 23 US-Cent zahlen, verlangt der russische Gaskonzern Gazprom. Das ist etwas weniger als Österreich bezahlt, weil ja auch die Transportkosten in die Ukraine niedriger als nach Österreich sind. Immerhin kommt das Gas aus Westsibirien, vom Polarkreis rund 4.500 km und noch mehr von Wien entfernt.
Die westliche bürgerliche Meinungsmache stellt die Preiswünsche von Gazprom als Willkür und Tyrannei des Kreml hin. Daran stimmt, dass Gazprom mehrheitlich dem russischen Staat gehört und daher direkt von Putin gelenkt wird. Was MarxistInnen aber nachdenklich machen könnte, ist der Umstand, dass dümmliche kleinbürgerliche JournalistInnen in Weltmarktpreisen auf einmal Willkür und Tyrannei sehen. Dieser Denkansatz wäre ja gar nicht so schlecht, aber sie meinen ja nicht die Weltmarktpreise; ihnen geht es um das alte Feindbild Russland mit dem neuen Zaren Putin.
Bei aller Kritik an den Weltmarktpreisen. Gerade als MarxistIn muss man sich klar sein, dass diese nicht in Verschwörungsseparées von Konzernherren, Spekulanten und Tyrannen erfunden bzw. gemacht werden, sondern im wirtschaftlichen Alltag entstehen. Sie ent-halten lebhaftesten Wettbewerb, wie im IT-Bereich, Preisabsprachen wie bei Papier oder Zement, staatliche Interventionen mit Schutzzöllen oder wettbewerbsbehindernde Qualitätsstandards und vieles mehr. Weltmarktpreise enthalten all diese Faktoren, niemals nur einen. Die kapitalistischen Marktkriterien mit dem Wertgesetz im Mittelpunkt machen sich immer geltend, auch wenn das die kleinbürgerliche Journaille nicht begreift.
Putins Kalkül
Die kapitalistische Wirklichkeit wird nicht von Freundschaftspreisen, sondern von Marktpreisen geprägt. Putin reklamiert dies auch für Russland. Die Ukraine kann diesen Preis wegen ihrer Armut nicht zahlen. Nach zwei Tagen Lieferunterbrechung haben sich die beiden Parteien auf einen Übergangspreis von 9,5 US-Cent pro Kubikmeter geeinigt. Das ist fast eine Verdoppelung, aber noch immer weit unter den Weltmarktprisen von 23 bis 25 US-Cent. Angeblich soll dieser Preis möglich sein, weil Russland in seine Lieferungen künftig auch Gas aus Zentralasien, aus Turkmenistan, mischen wird. Und das ist ja so viel billiger.
Diese Begründung ist lachhaft. Russisches Gas ist das billigste in Europa. Wenn Österreich an der slowakischen Grenze derzeit 21,9 Euro-Cent für den Kubikmeter zahlt, dann fährt es damit weit günstiger als mit Erdgas aus Norwegen. Norwegen verlangt bis zu einem Fünftel mehr als Russland, und Norwegen bekommt diesen Zuschlag dennoch. Ihr Argument: Norwegen birgt im Gegensatz zu Russland kein Risiko. Aus Gründen der Versorgungssicherheit bezieht Österreich seit den 90er Jahren auch Gas aus der norwegischen Nordsee – rund 1 Mrd. Kubikmeter im Jahr. Doch weil es so teuer und deutlich teurer als das Gas aus Russland ist, wird diese Menge auch nicht aufgestockt. Und die andere Alternative für Österreich – Erdgas aus Algerien über Italien – übertrifft die Norwegerpreise noch einmal, so dass diese Variante überhaupt weg fällt. Dass auf einmal turkmenisches oder anderes zentralasiatisches Gas um ein Vielfaches billiger als Gas aus Russland sein soll, kann nur noch als Desinformation interpretiert werden. Diese Desinformation ist jedoch leicht erklärbar: Weder die ukrainische noch die russische Regierung wollen Stoff für eine seriöse Sieger-Verlierer-Bilanz liefern. Jeder feiert sich selbst als Sieger. Und das lassen die Informationen, die über die Einigung bekannt gemacht wurden, problemlos zu.
Putin hat mit der Preisdebatte zwei Fliegen mit einem Schlag getroffen. Zum einen möchte Russland weg von den alten Freundschaftspreisen des Comecon zu den Marktpreisen des Kapitalismus, verdienen doch Russlands Konzerne und mit ihren Steuerabgaben auch der russische Staat mehr daran. Und zum anderen möchte und kann er die nach Westen strebende Ukraine unter Druck setzen und den neuen Präsidenten Juschtschenko als Abenteurer auf Kosten seines Volkes hinstellen. Denn Juschtschenko sollte versuchen, Gas aus der von ihm hofierten EU – eben von Norwegen oder auch aus den gasreichen Niederlanden – zu beziehen. Sie würden ihn auslachen und umgehend nach Kiew heim schicken, wenn er 9,5 US-Cent für einen Kubikmeter anbietet. Der ukrainischen Bevölkerung ist dringend anzuraten, von der EU keine Freundschaftspreise à la Russland zu erwarten.
Der Stopp der Gaslieferungen in die Ukraine dauerte zwei Tage. In diesem Zeitraum hat sich die Ukraine aber selbst bedient: Sie zweigte das für Mittel- und Südeuropa bestimmte Gas für sich ab. Österreich bekam am zweiten Tag des Lieferstopps für die Ukraine um ein Drittel weniger Gas als üblich. Ungarn, die Slowakei, Italien, Polen, Tschechien und Deutschland waren ebenso betroffen. Das Problem: Das meiste russische Gas wird über Fernpipelines exportiert, die über die Ukraine gehen. Schon früher hatte die Ukraine Gas einfach entnommen, das nicht für sie bestimmt war. Doch das wurde letztlich immer wieder korrigiert. Was sich diesmal davon abhob, waren die weit größeren Mengen der Entnahmen als in den Jahren zuvor.
Zweierlei Maß
Die bürgerlichen Schwätzer haben aus dem aktuellen Ereignis sofort eine Grundsatzdebatte gemacht: Wir brauchen eine neue Energiepolitik, die uns weg von Russland führt. Tatsächlich war die Versorgungssicherheit weder in Österreich noch in Italien oder Deutschland gefährdet. Russland schickte am dritten Tag so viel Gas durch die Pipelines, dass sowohl der Bedarf der Ukraine als auch die Vertragsmengen im Westen bedient werden konnten, ohne den Lieferboyokott formal gegen die Ukraine aufzuheben. Diese „provisorische“ Lösung konnte natürlich kein Dauerzustand sein. Aber von einer Gefährdung der Versorgung konnte ebenso wenig die Rede sein.
Der „vernunftorientierte“ Teil der Bourgeoisie war ja auch sogleich bemüht, die von den Schwätzern inszenierte Hysterie einzudämmen. Österreichs Wirtschaftsminister Martin Bartenstein lobte die Zuverlässigkeit der russischen Gas-Lieferungen. Österreich bezieht seit mehr als 37 Jahren Gas aus Russland und hatte nie Probleme. Und er erwähnte auch, dass neue Pipelines nötig wären, die nicht durch die Ukraine führten. Bartenstein signalisierte also Verständnis für Putins Aufnahmeantrag in den Klub der Marktwirtschaft.
Dass Bartenstein, der ja seit dem Beginn der EU-Präsidentschaft Österreichs auch Vorsitzender des EU-Rates der Energieminister ist, die russische Position so verständnisvoll kommentierte, ist aus der Sicht der EU mehr als gerechtfertigt. Natürlich braucht das kapitalistische Russland – und damit Putin – ein konstruktives Verhältnis zur EU. Doch Russland hat so wie Großbritannien zahlreiche außereuropäische Interessen. Die neue Gasstrategie spiegelt dies wider. Das mit rund 550 Milliarden Kubikmeter im Jahr größte Gasförderland der Welt will seine Gasexporte nach Asien steigern. In Europa sollen nur die kontrahierten Mengen (plus die vertraglich geregelten Mengensteigerungen), aber keine neuen Verpflichtungen mehr erfüllt werden. Derzeit exportiert Russland an die 110 Milliarden Kubikmeter im Jahr nach Europa. Die Märkte der nächsten Jahrzehnte für Russland liegen aber in Japan, Korea, China und Südostasien. Der mittel- und westeuropäische Kapitalismus wird sich demnach auf japanische und chinesische Konkurrenz beim Einkauf von russichem Gas einstellen müssen. Das kapitalistische Russland ist zur Neuaufteilung der Welt angetreten.
SERGE
(Wien, 6. 1. 2006)
26-01-2006, 19:11:00 |