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Russland: Erste Schritte zur Erneuerung der antikapitalistischen Linken – Dritter Kongress von “Wperjod”

Anfang April veranstaltete die SOAL (Sozialistsiche Alternative) eine Informations- und Diskussionsveranstaltung mit Masha von der Gruppe “Wperjod”. Am ersten Februar-Wochenende hat die Organisation “Wperjod” (Vorwärts) in Moskau ihren dritten Kongress abgehalten. Der Verfasser dieses Berichts ist Redakteur der französischen Inprecor und Mitglied des Büros der IV. Internationale, als deren Repräsentant er an dem Kongress teilgenommen hat.

30.04.2008

Jan Malewski

Auf diesem Kongress wurde deutlich, dass die “Sozialistische Bewegung Vorwärts” (russisch: Sozialistitscheskije dwishenije Wperjod), eine kleine Gruppe der antikapitalistischen Linken in Russland, stärker geworden ist. Sie ist jetzt in etwa zehn Städten präsent, in zweien davon erst seit kurzem.(1) Sie hat außerdem eine Fülle von Kontakten, das belegten die Anwesenheit von eingeladenen Nichtmitgliedern, die von dem kommunistischen und von dem sozialdemokratischen Jugendverband kamen, sich an der Diskussion beteiligten und am Ende des Kongresses sagten, sie hätten viel Neues erfahren, und von aktiven GewerkschafterInnen, die über ihre Erfahrungen in Kämpfen berichteten und sich sowohl für die politischen als auch organisatorischen Überlegungen auf dem Kongress offen zeigten.
Zwar nahmen nur die Mandatsträger unter den Delegierten an den Abstimmungen teil, aber mehr als siebzig Personen beteiligten sich zumindest an einem Teil der Diskussion, ein guter Teil ergriff das Wort, eine größere Zahl aber traute sich nicht, im Saal zu sprechen, holte das aber bei informellen Diskussionen während der Zigarettenpausen oder der gemeinsamen Mahlzeiten nach.
Es war bemerkenswert, dass einige linke Intellektuelle kamen, um auf dem Kongress ein Grußwort zu halten, aber auch um die Diskussion zu verfolgen und die neue Generation von Aktivisten und Aktivistinnen (von denen es weniger gibt) kennen zu lernen. Boris Kagarlizki ging nach einem sehr herzlichen Grußwort auf die Auswirkungen der internationalen Finanzkrise auf Russland ein (die russischen Banken und Trusts sind von den Kreditbeschränkungen stark betroffen) und unterstrich, dass es in Russland auf der Linken ein immenses Vakuum gibt, und dass Wperjod zwar nicht den Anspruch erheben könne, es unmittelbar auszufüllen, doch sei die Existenz solch eines Kern von jungen Kadern für alle diejenigen von wesentlicher Bedeutung, die den Weg zum Sozialismus wieder beschreiten wollen. Denn die große Mehrzahl der Mitglieder von Wperjod ist jung und hat erst im 21. Jahrhundert begonnen, in politische Aktivitäten einzusteigen. Die Gruppe steht zwar in der trotzkistischen Tradition, doch haben einige Mitglieder ihre ersten Schritte innerhalb der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (KPRF) oder im anarchistischen Milieu gemacht. Diese verschiedenartigen politischen Kulturen trugen zur Bereicherung der Diskussion bei.

Zur politischen Lage

Ilja Budraizkis betonte in seiner Einleitung zu dem Tagesordnungspunkt zur politischen Lage in Russland, dass sich alle “traditionellen” neoliberalen politischen Kräfte am Rande des Geschehens befinden – wobei solch eine Tradition nicht über das vorige Jahrzehnt hinaus zurückreicht. Dies ist die Auswirkung der putinschen Politik der Stabilisierung der kapitalistischen Restauration in Russland um einen starken Staatsapparat und einer auf diesen Staatsapparat gestützten Partei, nämlich “Jedinaja Rossija” (Einiges oder Geeintes Russland). Für die anstehende Präsidentschaftswahl hat die herrschende Klasse sich hinter Dmitri Anatoljewitsch Medwedjew, den von Putin präsentierten Kandidaten, gestellt. Die anderen bürgerlichen Parteien, elitäre Strukturen ohne Massenbasis, sind in sich zusammengesackt. Die politische Landschaft in Russland ähnelt also einem leer gefegten Tisch, die WählerInnen wenden sich massiv von der institutionellen Politik ab, und die politischen Widersprüche verlagern sich zu den sozialen Konflikten. Davon zeugt der starke Widerhall der wenn auch isolierten, so doch oft harten und kämpferischen Streiks, die im vergangenen Jahr bei Awtowaz in Togliattigrad, bei Ford in der Nähe von St. Petersburg(2) oder in dem riesengroßen Zementwerk Michailowzement stattgefunden haben.
In Anbetracht dieser Entwicklung pendelt die kleine Linke in Russland zwischen zwei Strategien: der einer konservativen Verteidigung des (politischen) Terrains und einer weitgehend abstrakten Propaganda einerseits, und andererseits der einer Auflösung in die sozialen Bewegungen, was die kleinen politischen Gruppen aus dem Blick geraten lässt. Die Mitglieder von Wperjod haben sich vorgenommen, diese beiden Klippen zu umschiffen. Sie wollen eine Organisation aufbauen, die mit dem Klassenkampf verbunden und verflochten ist, die bei den Streiks präsent ist und sich um die Solidarität mit den Streikenden kümmert, eine Kaderorganisation im Dienste der Arbeiterbewegung, die weitgehend erst noch aufzubauen ist.

Aufbau der Arbeiterbewegung

Um die Frage des Aufbaus der Arbeiterbewegung, in erster Linie der Gewerkschaften, ging es bei dem zweiten Punkt auf der Tagesordnung des Kongresses. Maria Kursina betonte in ihrer Einleitung, dass die russische Gewerkschaftsbewegung zur Zeit zwischen den kämpferischen Gewerkschaften (die sich der Sofortforderungen der abhängig Beschäftigten annehmen und sie unter Umständen mobilisieren und Streiks organisieren) und den nicht-kämpferischen Gewerkschaften (deren Führungen als Vermittler zwischen den Lohnabhängigen und den Unternehmern auftreten und die auf “Sozialpartnerschaft” setzen) gespalten ist. Diese Trennlinie, die vor allem an der Basis der offiziellen Gewerkschaften festzustellen ist, ist wichtiger als die zwischen den alternativen Gewerkschaften, die noch wenig verankert sind, und den offiziellen Gewerkschaften, die nach wie vor vorherrschen. (3)
Die Mitglieder von Wperjod geben der Zusammenarbeit mit der Allrussischen Konföderation der Arbeit(4), dem bedeutendsten Zusammenschluss von alternativen Gewerkschaften, den Vorrang, sie können jedoch den betrieblichen Strukturen der offiziellen Gewerkschaften (vielfach gibt es keine anderen) nicht den Rücken zukehren, wenn diese für die Interessen der Lohnabhängigen eintreten oder sich in diese Richtung bewegen. Die Diskussion nach dem Einleitungsreferat hat gezeigt, wie unterschiedlich die Erfahrungen der anwesenden Mitglieder sind. Denn unter den Gästen waren der Streikführer von Michailowzement (WKT), RepräsentantInnen des Verbands Saschtschita Truda (Verteidigung der Arbeit) und der neuen Gewerkschaft im Moskauer Renault-Werk, und unter den Delegierten einige hauptamtliche GewerkschaftsorganisatorInnen sowie junge AktivIstinnen, die führend an der Solidarität mit dem großen Streik in der Ford-Fabrik beteiligt waren. Auf der anderen Seite haben andere – vor allem Studierende und junge Berufstätige – die Gewerkschaftsarbeit neu kennen gelernt.
Die Beschlüsse, dass eine Reihe von Mitgliedern von Wperjod GewerkschaftsorganisatorInnen werden sollen und dass in hoher Auflage Flugblätter, in denen erklärt wird, was eine Gewerkschaft ist und wie sie arbeiten und strukturiert sein sollte, verbreitet werden sollen, sind also teilweise ein bewusster künstlicher Akt. Einige Mitglieder, die stark von der zentralen Bedeutung der Arbeiterklasse überzeugt sind, werden zweifellos einige Zeit des Dazulernens benötigen, um ihre abstrakte Überzeugung in die Praxis umsetzen zu können. Dies ist umso mehr der Fall, als diese Aktivitäten nicht ohne staatliche Repression bleiben: Zwei Wochen nach dem Kongress musste ein junges Mitglied der sozialistischen Bewegung Wperjod aus Samara (Süd-Russland) diese Erfahrung machen. Die Polizei nahm Anton Turin in seiner Wohnung fest und brachte ihn in das Büro der Abteilung für die Bekämpfung des organisierten Verbrechens (die zugleich für die Bekämpfung des “politischen Extremismus” zuständig ist).Er wurde gezwungen, eine Erklärung zu unterschreiben, er werde “sich während der Kampagne für die Präsidentschaftswahl nicht an extremistischen und kriminellen Aktivitäten beteiligen”. In den Augen der Staatsschutzabteilung der russischen Polizei kommt also die Verteilung von Flugblättern, in denen erklärt wird, wieso es im Interesse der LohnarbeiterInnen liegt, sich gewerkschaftlich zu organisieren, offenbar “extremistischer und krimineller Betätigung” gleich …
Organisationsfragen

Am zweiten Tag beschäftigte der Kongress sich mit Organisationsfragen. Wie soll man sich organisieren, wo es ja auf dem Gebiet des Organisationslebens in der herrschenden politischen Kultur wenig Tradition gibt und die oft recht kleinen Gruppen sich allzu leicht in Kreise von Befreundeten verwandeln können, die kaum dazu in der Lage sind, Neue zu integrieren? Wie kann die Zeitung verbessert werden, die mit geringen materiellen Mitteln und personellen Ressourcen erstellt wird und heftig kritisiert wurde? Wie kann sichergestellt werden, dass die Webseite von Wperjod(5) – das “Schaufenster” der Organisation und die wichtigste Quelle für Informationen und Analysen – nicht “zu moskowitisch” ist, wobei die politischen Kader ungleich verteilt sind und durchaus nicht alle Zugang zu einem Computer und zum Internet haben?
Es wurde eine lebendige, lebhafte und selbstkritische, gelegentlich auch leidenschaftliche Diskussion. Am Ende wurde die Einführung eines Beitrags, den alle Mitglieder monatlich zu zahlen haben (bislang gab es in mehreren Ortsgruppen keine regelmäßige Beitragszahlung) sowie die regelmäßige Anfertigung von Protokollen der Sitzungen der Gliederungen beschlossen; die Protokolle sollen herumgeschickt werden, um innerhalb einer Organisation, die zwar klein ist, aber über ein enorm großes geographisches Gebiet verteilt ist, eine größere politische Homogenität herzustellen. Außerdem wurden ein Exekutivausschuss und ein Rat von RegionalrepräsentantInnen gewählt.
Schließlich hat der Kongress sich noch die internationalen Beziehungen vorgenommen. Dieser Punkt wurde mit einem Bericht des Genossen Nikolai eingeleitet. Als überzeugte InternationalistInnen(6) waren Mitglieder von Wperjod bei internationalen Demonstrationen (Rostock, Juni 2007) und Sozialforen (Paris, London, Athen) dabei, sie sind sich aber auch ihrer Isolation und ihrer geringen Erfahrungen bewusst. Daher sind sie auf der Suche nach internationalen Beziehungen. Zugleich sind sie misstrauisch – eine Reihe von internationalen Gruppierungen, die sich trotzkistisch nennen, haben in Russland Gruppen aufzubauen versucht, indem sie Hauptamtliche hinschickten und kein Problem damit hatten, die russischen Mitglieder ihrer importierten Disziplin zu unterwerfen … Einige Mitglieder von Wperjod waren früher in dem Komitee für eine Arbeiter-Internationale, dessen Repräsentant in Moskau, ein Brite, eine besonders dirigistische Auffassung von interner Demokratie an den Tag gelegt hat.(7)
Nachdem man sich mit VertreterInnen von verschiedenen internationalen Gruppierungen getroffen, auf dem vorigen Kongress mit Alain Krivine, einem der führenden LCR-Mitglieder,8 diskutiert und im vergangenen Jahr an der Sitzung des Internationalen Komitees der IV. Internationale teilgenommen und verschiedene Länder besucht hatte, um Gespräche mit verschiedenen Organisationen der Vierten Internationale zu führen, hatte Wperjod zu diesem Kongress nun einen Repräsentanten der LCR und der Internationale eingeladen. Um einen Redebeitrag gebeten  hat letzterer kurz etwas zur internationalen Lage gesagt, unterstrichen, wie weit die dominierenden Organisationen der Arbeiterbewegung zerfallen sind und welcher Raum für den Aufbau von neuen antikapitalistischen Parteien entstanden ist, und die Erfahrungen und die Debatten hierüber in der IV. Internationale zusammengefasst. Er machte den Vorschlag, Wperjod solle als Organisation mit dem Status von “permanenten Beobachtern” an den Gremien der IV. Internationale teilnehmen, und regte zugleich an, die russische Organisation solle ihre internationalen Beziehungen nicht hierauf beschränken. Nach einer lebhaften Debatte stimmte der Kongress dafür, man solle den Status von permanenten Beobachtern beantragen (78,5 % der Mandate dafür, 21,5 % dagegen).
Die russische Arbeiterbewegung, die vom Stalinismus zerschlagen worden war und dann die niederschmetternde Auswirkung der brutalen Restauration des Kapitalismus erfahren hat, beginnt sich wieder zu regen. Ihr Wiederaufbau verläuft zur Zeit hauptsächlich über die kollektiven Kämpfe der LohnarbeiterInnen und über die Erneuerung der Gewerkschaftsbewegung. Unter den Kräften, die die Traditionen der Linken für sich in Anspruch nehmen, ist die ausgesprochen bürokratische KPRF nach wie vor mit Abstand die größte, auch wenn sie sich im Niedergang befindet. Weil es keine Alternative gibt, kann sie weiterhin junge RebellInnen anziehen. Die Entwicklung von Wperjod kann sich am Entstehen einer solchen Alternative beteiligen und damit zur Erneuerung der Linken und der Arbeiterbewegung in Russland beitragen.
Quelle: Jan Malewski, “Russie: Premiers pas d’un renouveau de la gauche anticapitaliste”. In Inprecor, Nr. 534/535, Januar/Februar 2008. Sofern nicht anders angegeben, stammen die Anmerkungen vom Übersetzer.

Übersetzung: Friedrich Dorn

1     In der Nummer 7 (oder 1/2008) der Zeitung Wperjod vom Februar 2008 (als pdf-Datei im Internet: http://vpered.org.ru/gazeta/vpered_7_2008.pdf) werden folgende Städte in der Russischen Föderation genannt: Jaroslawl, Jekaterinburg, Lipezk, Moskwa, Nishni Nowgorod, Samara, Saratow, St.-Peterburg Stary Oskol, Tjumen, Tomsk, Wolgograd, Woronesh; außerdem Minsk (Belarus oder Weißrussland), Kyjiw bzw. Kiew (Ukraine).
2     Siehe Carine Clément, “Eine Serie von Streiks und antigewerkschaftliche Repression in Russland”, in Inprekorr, Nr. 432/433, November/Dezember 2007; Maria Kurzina, “Ford-Vsevolozhsk strike continues” (http://www.internationalviewpoint.org/spip.php?article1390), “Appeal by strikers at St Petersburg Ford factory” (article1374) sowie Carine Clément, “Strike At Ford-Vsevolojsk. A unique and exemplary struggle” (article1376).
3     Vgl. den Artikel über die antikapitalistische Linke und soziale Kämpfe in Russland, den Maria Kursina zusammen mit Ilja Budraizkis verfasst hat und der in der von Boris Kagarlizki herausgegebenen Zeitschrift Lewaja Politika (Linke Politik), Nr. 1/2007, veröffentlicht worden ist; auf Deutsch in Inprekorr, Nr. 432/433, November/Dezember 2007.
4     Wserossijskaja Konfederazija Truda – WKT, wurde im August 1995 gegründet, gibt an, sie habe 1,27 Millionen Mitglieder, gehört dem Internationalen Gewerkschaftsbund an; Website: www.vkt.org.ru.
5     http://www.vpered.org.ru/
6     An dem Kongress haben ein politischer Aktivist aus Kasachstan und zwei Delegierte der Marxistischen Organisation aus der Ukraine teilgenommen. In ihrer Grußansprache an den Kongress sind die Ukrainer auf die Schwierigkeiten eingegangen, die ihre im vergangenen Jahr gegründete, sehr plurale Organisation durchgemacht hat; sie haben die Abspaltung des am stärksten stalinistisch orientierten Teils erwähnt, der zuerst weit mehr Gewicht auf interne Diskussionen als auf Arbeit nach außen gelegt und dann beschlossen hat, die Organisation zu verlassen.
Die OM gibt die zweimonatlich erscheinende Zeitschrift Robitnitscha Solidarnist (Arbeitersolidarität) heraus. Inprecor hat einen Bericht über die Gründung der OM gebracht [Inprecor, Nr. 526/527, April/Mai 2007; im Internet: http://www.inprecor.org/; auf Deutsch: http://www.inprekorr.de/]. (Anm. J. M.)
7     Das Komitee für eine Arbeiter-Internationale (KAI; englisch: Committee for a Workers International, CWI) ist eine internationale Gruppierung um die britische “Socialist Party” (SP, hervorgegangen aus der Mehrheit der früheren “Militant Tendency”); zum Aufbau von Sektionen hat es Mitglieder geschickt. (Anm. J. M.)
[Das KAI oder CWI ist in Deutschland durch die Sozialistische Alternative (SAV), in Österreich durch die Sozialistische LinksPartei (SLP) vertreten.
Eine Liste der Mitgliedsorganisationen des KAI ist zu finden unter: http://www.socialistworld.net/area/areas.html.]
8     Alain Krivine war Ende November 2006 in Russland; vgl. den Bericht in Rouge, Nr. 2185, 15.12.2006, Rouge n° 2185, http://orta.dynalias.org/archivesrouge/article-rouge?