Russland: Die Krise erfordert radikale Veränderungen
Die verheerende wirtschaftliche Lage in Russland ruft Protestbewegungen gegen die drohenden Entlassungen hervor. Die wirtschaftliche Krise trifft heute alle ArbeiterInnen in Russland. Seit dem Sommer 2008 geht die Industrieproduktion dramatisch zurück – in einigen Sektoren um bis zu 30% – und hat zu umfangreichen Entlassungen oder vorrübergehender Einstellung der Produktion geführt.
05.03.2009
In so unterschiedlichen Branchen wie Maschinenbau, Autoindustrie, Metallerzeugung und -verarbeitung sind zehntausende ArbeiterInnen in Kurzarbeit mit Lohnabzug geschickt worden. Zahlreiche kleine Städte auf dem Land leben fast ausschließlich von einem kleinen Unternehmen oder einem kleinen Industriepark und aufgrund der angekündigten umfangreichen Entlassungen droht diesen Städten eine wirkliche soziale Katastrophe. Die Krise trifft auch massenhaft die Angestellten des Dienstleistungssektors der großen Städte. Sie werden entlassen und erhalten noch nicht mal den vollen Lohn für ihren letzten Arbeitsmonat. Die Mittelklasse der großen Städte war in den letzten Jahren des Wirtschaftsaufschwungs gewachsen und ist heute großenteils arbeitslos und muss jetzt ihre Konsumentenkredite zurückzahlen.
Die Regierungsmaßnahmen folgen derselben neoliberalen Logik. Hier geht es darum, die Banken zu retten und den großen Unternehmen zu helfen, ihre Schulden zurückzuzahlen. So ist der seit Jahren mithilfe des hohen Ölpreises gebildete Reservefonds, der „Stabilisierungsfonds“, bereits um 150 Mrd. US-Dollar geplündert worden, um den Großunternehmen zu helfen, und gleichzeitig bleibt das Arbeitslosengeld auf 4.900 Rubel im Monat beschränkt (das sind 100 €).
Die ungeschickten Versuche der Regierung, die russische Autoindustrie dadurch zu retten, dass auf ausländische Gebrauchtwagen eine Steuer erhoben wird, hat zu einer massiven Protestkampagne im Osten Sibiriens geführt, wo Hunderttausende von Menschen vom Umbau und Vertrieb billiger japanischer und koreanischer Autos leben. Gegen die Einführung dieser Steuer gab es in Wladiwostok große Demonstrationen und heftige Zusammenstöße mit der Polizei. Im Verlauf dieser Bewegung tauchten neben der Steuerfrage andere wirtschaftliche und politische Forderungen auf: Garantien gegen die illegalen Entlassungen, Anerkennung des Versammlungs- und Demonstrationsrechts und sogar die Entlassung der Regierung Putin wurde gefordert. Auch wenn die letzte Demonstration von der Polizei ohne große Umstände aufgelöst werden konnte, so hat die herrschende Elite doch sehr große Schwierigkeiten, die steigende soziale Wut nur mit brutalen Mitteln zu ersticken.
Das Ende eines Konsenses
Die Wirtschaftskrise hat ihre Auswirkungen in allen Teilen der Gesellschaft. Die oppositionelle Haltung entwickelt sich an der Basis, aber auch innerhalb der Eliten. Spaltungen treten vor allem auf zwischen den entlegeneren regionalen Machteliten und der Zentralmacht in Moskau. Heute, da der Vertrauensvorschuss, über den Präsident Medwedjew verfügte, aufgebraucht ist, trachten die lokalen Amtsinhaber nach mehr Autonomie und sie zögern nicht mehr, offen ihre Ablehnung bestimmter Regierungsmaßnahmen zum Ausdruck zu bringen. Es treten sogar Spaltungen in der Regierungspartei „Einiges Russland“ auf. Eine Gruppe bekannter Abgeordneter hat kürzlich einen Brief an die Presse geschickt, in dem sie eine Anhebung der sozialen Absicherung für entlassene ArbeiterInnen fordern und die Regierung dafür kritisieren, dass sie unnötigerweise den großen Unternehmen gewaltige Mittel zur Verfügung gestellt hat.
Dieses Jahr werden sich die sozialen Widersprüche verschärfen und die politische Konjunktur wird sich dadurch stark verändern. Umso dringlicher ist deshalb die Bildung einer neuen politischen Kraft, und zwar von unten her. Es braucht diese Kraft, um die Opposition gegen die Massenentlassungen und gegen die Regierungspolitik zu organisieren. Sie kann nur auf der Grundlage wirklicher sozialer Bewegungen und kämpferischer Gewerkschaften aufgebaut werden, an denen die radikale Linke sich aktiv beteiligen muss. In einer ganzen Reihe von Regionen beobachten wir bereits abgestimmte Aktivitäten von Komitees, in denen politische und soziale AktivistInnen mitarbeiten. Bestimmte Gewerkschaften wollen zur Bildung einer Arbeiterpartei aufrufen. Auch wenn zum gegenwärtigen Zeitpunkt diese Bewegungen nur eine kleine Minderheit unter ihnen repräsentieren, so sind sie doch in der Lage, in naher Zukunft eine breitere Anhängerschaft zu gewinnen. Die sozialistische Bewegung Vperiod („Vorwärts“), hat sich vorgenommen, an all diesen Initiativen beteiligt zu sein und dort eine aktive Rolle zu spielen, um ihnen einen antikapitalistischen Inhalt zu verleihen.
Ilya Boudraïtskis (Moskau)
Übers. aus dem Französischen.: D. B.