Naher Osten: Der Terror der Ohnmächtigen
Es gibt einen Unterschied in der Methode zwischen Organisationen wie der von Bin Laden und solchen wie Hamas und Hizbollah: Jener glaubt, dass ein bewaffnetes Netzwerk, das an die Stelle von Massenkämpfen tritt, den Imperialismus mit Terror zurückdrängen kann, letztere aber sind Massenorganisationen, die erst in zweiter Linie zu bestimmten bewaffneten Aktionen übergehen. Ein Interview mit Gilbert Achcar.
25.04.2007
Nach Meinung der nordamerikanischen
Medien war es die Gewalt der Hizbollah, welche die israelische Antwort
provoziert hat. Sind Sie damit einverstanden?
Die militärische Operation der Hizbollah war, wie ihrer Führer Hassan
Nasrallah erklärt hat, von langer Hand vorbereitet und mit den
Verbündeten abgestimmt. Aber auch die israelische Militäroffensive war,
wie die israelische Presse enthüllt hat, von langer Hand geplant. Ihr
Ziel ist die Zerstörung der Infrastruktur des Libanon. Sie will mit
Gewalt die UN-Resolution 1559 durchsetzen, die der Sicherheitsrat 2004
verabschiedet hat: d.h. den Rückzug der syrischen Truppen aus dem
Libanon, die Entwaffnung der Hizbollah und der palästinensischen
Flüchtlinge in den Flüchtlingslagern. Wenn Israel erklärt, es fordere
die vollständige Anwendung der Resolution 1559, ist das unerhört
unverfroren: Bald vierzig Jahre wartet man darauf, dass Israel die
Resolution 242 umsetzt, die seinen Rückzug hinter die Grenzen vom Juni
1967 fordert.
Die USA und Israel sind besessen von der Vorstellung eines
Hauptfeindes. Früher war dies die Sowjetunion, heute ist es der Iran
und das starke regionale Bündnis, das ihn unterstützt: von den Schiiten
im Irak über das syrische Regime (ein zweitrangiger Feind und für
Israel das kleinere Übel, denn andernfalls hätte es Chaos an seinen
Grenzen) bis zur Hizbollah (die der iranischen Ideologie nahesteht) und
zur Hamas (eine sunnitische Organisation). Diese Allianz dient dem Iran
dazu, gegen die USA und Israel eine gesamtislamische Front in Stellung
zu bringen, die nicht nur eine schiitische Allianz ist.
Um die öffentliche Meinung gegen Hamas und Hizbollah aufzubringen,
setzen die den USA ergebensten Regime wie Saudi-Arabien, Jordanien und
Ägypten auf die Karte des Konfessionalismus. Sie spielen auf der
Klaviatur des sunnitisch-schiitischen Antagonismus und behaupten, der
Iran wolle die Araber in einen Krieg verwickeln will, der sie nichts
angehe. Heute heißen die Helden der öffentlichen Meinung jedoch Hamas
und Hizbollah — die Mehrzahl ist angewidert vom fehlenden Zusammenhalt
der arabischen Länder. Nasrallah ist mit Sicherheit populärer als Bin
Laden: dem hat seine radikale Feindschaft gegen den Westen einen
gewissen Kredit eingebracht, aber mit seinen im wahrsten Sinne des
Wortes terroristischen Aktionen hat er die Mehrheit der Öffentlichkeit
abgestoßen. Mit dem Begriff Terrorismus, der fast zu einer
metaphysischen Kategorie geworden ist, werden mittlerweile ja fast alle
Formen bewaffneter Opposition bezeichnet: von Bin Laden bis zum
Widerstand gegen die Besatzung, manchmal sogar Formen radikaler
Opposition im Westen.
Sie dagegen verwenden den Begriff der asymmetrischen Barbarei. Was ist damit gemeint?
Der Terrorismus der Mächtigen und der der Opfer sind beide barbarisch.
Sie haben jedoch verschiedene Ursachen, Verantwortlichkeiten und
Folgen, deshalb können sie nicht auf dieselbe Stufe gestellt werden.
Die Selbstmordanschläge der Hamas — die jetzt unterbrochen wurden —
sind eine Kleinigkeit im Verhältnis zur Gewalt durch die israelische
Unterdrückung: beim letzten Konflikt war die Zahl der Toten auf
palästinensischer und libanesischer Seite mehr als zehnmal größer als
auf israelischer Seite. Dabei werden im Libanon nur die Toten gezählt,
die man feststellen kann, wer weiß, wie viele noch unter den Trümmern
der zerstörten Wohnhäuser liegen. Über 90% der Opfer der israelischen
Gewalt sind Zivilpersonen, nicht Kombattanten oder Aktivisten. Die
Gefangennahme eines israelischen Soldaten durch Palästinenser hat zum
Sturm auf Gaza geführt, aber Israel hält über 10.000 palästinensische
Gefangene fest. Zum größten Teil handelt es sich um Zivilpersonen, die
auf dem Territorium entführt wurden, das Israel seit 1967 illegal und
völkerrechtswidrig besetzt hält. Man darf der Heuchelei des
herrschenden westlichen Diskurses nicht auf den Leim gehen.
Wie sind dann die von Hamas gegen Zivilpersonen gerichteten Aktionen zu bewerten?
In manchen Teilen der Welt kann man nicht neutral bleiben, Vorrang hat
der Kampf gegen Besatzung und Krieg. Und es gibt einen Unterschied in
der Methode zwischen Organisationen wie der von Bin Laden und solchen
wie Hamas und Hizbollah: Jener glaubt, dass ein bewaffnetes Netzwerk,
das an die Stelle von Massenkämpfen tritt, den Imperialismus mit Terror
zurückdrängen kann, letztere aber sind Massenorganisationen, die erst
in zweiter Linie zu bestimmten bewaffneten Aktionen übergehen, sie
weisen ähnliche Strukturen auf wie die großen Parteien und unterhalten
gesellschaftliche Organisationen, die an die Stelle der staatlichen
treten. Ihre Weltsicht ist im Wesentlichen ähnlich, religiös und
fundamentalistisch. Man darf sie deshalb nicht rot anstreichen und als
Verbündete derer betrachten, die für eine fortschrittliche Alternative
kämpfen.
Vom Irak bis Palästina ist es dieselbe Tragödie: das gänzliche Fehlen
glaubwürdiger progressiver Kräfte. Die Hegemonie über die Kämpfe der
Massen haben fundamentalistische Strömungen. Im Irak führen sie einen
legitimen Kampf gegen die Besatzer, aber zugleich auch einen ganz und
gar nicht legitimen Krieg gegen die Schiiten und gegen das, was sie die
iranische Besatzung nennen — das ist eine reaktionäre und
konfessionelle Vorstellung. Aber Hunderttausende, die mehrfach gegen
die Besatzung auf die Straße gegangen sind, haben gezeigt, dass man
eine oppositionelle Massenbewegung aufbauen kann, die sogar wirksamer
ist als der militärische Widerstand, der per definitionem die
Bevölkerung zu einer gewissen Passivität nötigt.
Der islamische Fundamentalismus dominiert heute in nahezu der gesamten
muslimischen Welt. Ich sehe darin einen Ausdruck des sozialen und
politischen Protests. Er ist so stark, dass es kaum Platz für die
Entwicklung einer anderen Alternative gibt. Das ist ein Teil der Welt,
in dem es keine organisierte Arbeiterbewegung gibt — sie wurde von
despotischen rechten Regierungen zerstört oder von nationalistischen
Diktaturen unterdrückt, die ihre autonome Entwicklung verhindert haben.
Darüber hinaus hat der Imperialismus den islamischen Fundamentalismus
als Waffe im Kampf gegen den progressiven Nationalismus und gegen die
UdSSR eingesetzt. Diese Sachlage wird sich erst ändern, wenn der
islamische Fundamentalismus sich als unfähig erweist, mit den
bestehenden Problemen fertig zu werden — wie es beim arabischen
Nationalismus Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre der Fall war.
Eine andere Bedingung aber ist, dass
ein neues linkes Projekt entsteht, das in den Augen der Bevölkerung
glaubwürdig ist. Der islamische Fundamentalismus wird von manchen als
Islamofaschismus definiert. Sind Sie mit dieser Bezeichnung
einverstanden?
Ich bezeichne sie als weder faschistisch noch fortschrittlich. Einige
Randströmungen des Fundamentalismus weisen gemeinsame Züge mit dem
Faschismus auf, wie er in Europa zwischen den beiden Weltkriegen
aufgekommen ist — dessen soziale Basis wurde zum Teil vom
Kleinbürgertum gebildet und hatte vor allem einen im engeren Sinne
reaktionären Charakter, d.h. den festen Willen — wie Marx es
ausgedrückt hat —, das Rad der Geschichte zurückzudrehen.
Darüber hinaus gibt es jedoch wichtige Unterschiede. In der ersten
Hälfte des 20.Jahrhunderts war der Faschismus ein vom Großkapital gegen
die Arbeiterbewegung benutztes Instrument, während es im größten Teil
der Länder, in denen sich der islamische Fundamentalismus entwickelt,
leider keine kämpfende Arbeiterbewegung gibt. Der islamische
Fundamentalismus ist der fehlgeleitete Ausdruck des Unmuts der Masse
der Bevölkerung über die imperialistische Fremdherrschaft, über den
lokalen Despotismus und auch über ihre wirtschaftliche Lage. Sieht man
in Hamas und Hizbollah jedoch faschistische Organisationen, kommt man
zu der Art von Reaktion, wie sie Israel und die USA vertreten — die
allerdings erst erklären müssten, warum sie nie denselben Maßstab an
Pinochet in Chile angelegt haben oder heute an Saudi-Arabien anlegen —
dieses Regime ist reaktionärer als das im Iran. Wir haben es jedoch mit
etwas anderem zu tun: mit dem Zorn der Massen, die in einer
unerträglichen Lage leben. Statt die libanesische oder palästinensische
Bevölkerung zu bombardieren müssen die Ursachen für diesen Zorn
ausgeräumt werden.
Glauben Sie, dass die Entsendung von UNO-Truppen die libanesische Krise lösen wird?
Der Frieden muss mit allen Beteiligten am Konflikt ausgehandelt werden,
einschließlich der Hizbollah, die von Israel die Freilassung der
politischen Gefangenen und die Herausgabe des letzten Stücks besetzten
libanesischen Territoriums fordert. Der Widerstand im Libanon wird von
der schiitischen Bevölkerung unterstützt, Israel müsste diese
vernichten, um zu siegen. Eine UNO-Intervention würde nur nützen, wenn
sie die Interessen aller wahrte und nicht als Feigenblatt der NATO
handelte.
Das Interview erswchien zuerst in der italienischen Zeitung "Il Manifesto"
06-09-2006, 19:50:00 |Interview mit Gilbert Achcar