Mord im Exil: der Fall Litwinenko
Boris Kargilizki
Nach dem Mord an der Journalistin Anna Politkowskaja sagte ich eine Fortsetzung dieser Geschichte voraus. Leider hatte ich Recht. Die vermutliche Vergiftung Alexander Litwinenkos in London wurde eine Topmeldung.
11.05.2007
Einige Tage nach dem Ereignis bestätigte Scotland Yard öffentlich, dass
Litwinenko, ein ehemaliger KGB-Offizier, der erst vor einem Monat die
britische Staatsbürgerschaft erhalten hatte, vergiftet wurde. Am
24.November starb er. Zusammen mit dieser Nachricht beeilte sich
Litwinenkos Londoner Arbeitgeber, Boris Beresowski, den Namen des
Hauptverdächtigen zu nennen — Wladimir Putin.
Der Anschlag auf Litwinenko scheint mit der Ermordung von Anna
Politkowskaja in Zusammenhang zu stehen, was den Komplott verwickelter
macht. Die Ermittler glauben, dass der frühere KGB-Agent in einem
japanischen Restaurant vergiftet wurde, wo er sich mit einem
italienischen Journalisten getroffen hatte, der angeblich über
Informationen über den Fall Politkowskaja verfügte. Nachdem er von den
britischen Ermittlern verhört worden war, tauchte der Journalist aus
Angst um sein Leben irgendwo in Italien unter.
Die ganze Situation könnte perfekt als Handlung eines politischen
Kriminalromans dienen. Die Regeln dieses Genres verlangen, dass die
Beweise bis an die Spitze der Machthierarchie führen und dass die
Anzahl der Opfer mit dem Fortgang der Untersuchung steigt, aber
letztlich keine Anklage erhoben wird, obgleich alles klar ist wie der
lichte Tag.
Litwinenko hatte die Geheimdienste Russlands und des Kreml beschuldigt,
durch die Sprengung von Wohnhäusern in Moskau Putin den Weg an die
Macht geebnet zu haben. Einige der Argumente Litwinenkos waren ganz
überzeugend, einige nicht überzeugend genug. Nun, der Fall der
explodierten Häuser wird nie ganz aufgelöst werden, ebensowenig wie die
wahre Geschichte des 11.September oder die Ermordung John F. Kennedys
und viele andere hochkarätige Fälle im 20.Jahrhundert. Es gibt eine
Fülle ähnlicher Beispiele in der Geschichte wie das Verschwinden der
beiden Prinzen aus dem Londoner Tower im 15.Jahrhundert. Der Fall wurde
weder entsprechend untersucht noch gelöst.
In der Regel verliert die offizielle Version mit der Zeit ihre
Glaubwürdigkeit, während alternativen Versionen die Beweise fehlen und
die Behörden ostentativ eine Prüfung dieser Versionen ablehnen. Private
Ermittlungen produzieren widersprüchliche Fakten und Spekulationen.
Aber das Urteil wird von der öffentlichen Meinung geliefert, die stets
den bestehenden Mächten gegenübergestellt wird.
Unter den Umständen wäre die für die russische Regierung
unvorteilhafteste Taktik die Beschwörung der Gespenster der
Vergangenheit. Der in London lebende Litwinenko war kein Stachel im
Fleisch der russischen Machthaber, umso mehr als seine Version der
Explosionen in Moskau 1999 nur eine von mehreren ist und auch nicht die
überzeugendste. Aber wenn der frühere KGB-Agent Opfer eines Anschlags
wird, gewinnen seine Beschuldigungen an Glaubwürdigkeit und die ganze
Affäre gelangt in die Schlagzeilen. Die Feinde des Kreml werden sich
keine Gelegenheit entgehen lassen, um die Vergiftung Litwinenkos als
ein weiteres Argument gegen die Machthaber zu benutzen und in eine
Reihe mit Fällen wie der Ermordung Politkowskajas und der Explosion der
Wohnhäuser im Jahre 1999 zu stellen. Moskau wird erneut vom Westen als
Hauptstadt des "Reichs des Bösen" betrachtet werden. Aber was hat der
Kreml von alldem?
Nur auf dem ersten Blick scheinen die prominenten Kritiker des
gegenwärtigen Regimes die einzigen Opfer der aktuellen Ereignisse. Wenn
wir die Situation mehr im Detail betrachten, werden wir finden, dass
die Machthaber bei solchen Entwicklungen extrem verwundbar sind. Die
Schläge treffen die Kommentatoren des Großen Spiels, während die
Oppositionsführer unversehrt gelassen werden. Als Resultat erhält die
Opposition ihre Märtyrer und die Machthaber werden herausgefordert.
Unter diesen Umständen haben die Pro-Kreml-Analysten allen Grund zu
versichern, dass Litwinenkos Vergiftung und die Ermordung der
Journalistin bloße Provokationen sind und dass die Opposition selbst
und Boris Beresowski persönlich die Dinge organisiert haben, um die
herrschende Elite des Kreml zu diskreditieren.
Bei alldem ist es schwer vorstellbar, dass Herr Beresowski seinen
engsten Mitarbeiter in London umgebracht hat. Wie bösartig er auch sein
mag, verrückt ist er nicht. Herr Beresowski versteht vollkommen, dass
er nicht damit davonkäme, wenn Scotland Yard erst einmal etwas
herausgefunden hat.
Die Explosionen von 1999 in Moskau widerspiegelten den Kampf um die
Macht innerhalb einer herrschenden Elite. Die aktuellen Morde haben
denselben Charakter. Weder Präsident Putin noch Herr Beresowski würden
solche Morde beauftragen — für beide ist die Möglichkeit, dass das
Ereignis auf sie zurückfällt, höher als mögliche Vorteile. Ich vermute,
dass es andere auf niedrigeren Rängen gibt, die ihre eigenen Interessen
verfolgen und ihre eigenen Methoden haben.
Die Intensivierung des Kampfes um die Macht ist das Ergebnis ihrer
Aktivität. Je weniger stabil die Situation im Land ist, desto mehr gibt
es eine Grundlage für drastische Veränderungen im politischen Leben des
Landes. Die Untergrabung von Russlands Position in der Welt wird es den
politischen Eliten erlauben, die Kontrolle über den neuen Präsidenten
zu bewahren und ihn zu einer Geisel jener zu machen, die ihn an die
Macht geführt haben. Schmutzige und wirkungslose politische Tricks
werden den Nachfolger abhängiger von Kräften machen, die hinter dem
Kreml-Thron stehen.
Das Große Spiel läuft und dabei steht nicht der Posten des Präsidenten
auf dem Spiel, sondern der Kontrollhebel darüber, wer diesen Posten
bekommt.
(Übersetzung: Hans-Günter Mull)
16-01-2007, 20:53:00 |Boris Kagarlitzki