Mexiko: Aufstand in Oaxaca
Miriam Fischer
Die breite Protestbewegung eint die Forderung nach dem Rücktritt von Gouverneur Ulises. Aber dass es damit nicht getan ist, dass viel tiefgreifendere Veränderungen nötig sind, ist eigentlich allen klar.
25.04.2007
Wer in diesen Tagen Oaxaca besucht, um eine der zahlreichen Museen,
Galerien, Kirchen und Kathedralen der historischen Innenstadt zu
besichtigen, muss sich daran gewöhnen, dass es dort etwas anders
aussieht als in Touristenführern beschrieben: Zwar sind alle
historischen Gebäude und kulturellen Angebote der Touristenmetropole in
Südmexiko weiterhin zugänglich, aber die Spuren der Rebellion sind
unübersehbar. Überall in der Stadt campieren Menschen unter freiem
Himmel oder aufgespannten Zeltplanen, um sich vor Sonne und Regen zu
schützen, kaum ein Gebäude, das nicht von Graffitis und politischen
Parolen beschriftet wäre. Und der Zocalo, der zentrale Platz im Zentrum
der Stadt, ist bedeckt von Transparenten und Zelten. Was für die
Touristen etwas befremdlich oder auch exotisch wirkt, ist für die
Menschen in Oaxaca existenziell — dies ist kein Jugendcamp der etwas
anderen Art, sondern Ausdruck einer breiten Protestbewegung beinahe
aller Sektoren der Gesellschaft.
Vom Protest der Lehrer...
Begonnen hatte alles mit einem der schon traditionellen Streiks der
Bildungsarbeitergewerkschaft SNTE, die fast jedes Jahr im Frühling für
eine bessere Bezahlung kämpft, aber auch für Verbesserungen der
Situation ihrer Schüler wie Schulfrühstück, Schuhe, kostenlose Bücher
und Schreibmaterialien. Nachdem die Regierung Ulises Ruiz die Proteste
ignorierte, erklärten die Lehrer einen unbefristeten Streik, woraufhin
die Regierung, statt Verhandlungen anzustrengen, das Protestcamp der
Streikenden mit Polizeieinsatz räumen ließ.
Diese Räumung war selbst für mexikanische Verhältnisse, wo Polizei- und
Armeekräfte wenig zimperlich sind bei der Bekämpfung von sozialen
Bewegungen, außergewöhnlich brutal. Trotz der Anwesenheit von Kindern
wurde massiv Tränengas verschossen, sogar aus einem Hubschrauber
heraus. Mehrere Lehrer wurden durch Schläge und Schüsse schwer
verletzt. Dennoch schafften es die Lehrer, bewaffnet nur mit
Holzknüppeln gegen Tränengasgrananten und Feuerwaffen der Polizei,
diese zurückzutreiben. Gegen Mittag hatten sie die Innenstadt bereits
zurückerobert und begannen, das Camp neu zu errichten.
Doch nicht nur die Lehrer ließen sich durch die Repression nicht
einschüchtern, auch die Bevölkerung solidarisierte sich mit den
Lehrern. Durch seinen autoritären und repressiven Regierungsstil hatte
sich Ulises Ruiz den Ärger beinahe sämtlicher Sektoren der Gesellschaft
zugezogen. Hinzu kam die übermäßige Korruption, bei der Milliarden von
Pesos in mysteriösen Bau- und Sanierungsvorhaben verschleudert wurden,
die nicht nur nichts zur Verschönerung der Stadt oder zur Verbesserung
der Infrastruktur beitrugen, sondern das kulturelle Erbe der Stadt und
damit die Identität ihrer Bewohner beschädigte. Und das in einem
Bundesland, das als eines der ärmsten Mexikos gilt und in dem über die
Hälfte der Bevölkerung unter der Armutsgrenze lebt.
Auch die indigenen Gemeinschaften hatten reichlich Grund zur Wut auf
Ulises. Seit Amtsantritt hatte er in zahlreichen Gemeinden die
traditionell selbst gewählten und demokratisch kontrollierten
Autoritäten abgesetzt und durch Mitglieder seiner Partei PRI (Partei
der Institutionalisierten Revolution, die 70 Jahre lang das Land
praktisch als Einparteiendiktatur regiert hatte) ersetzt. Auf
Widerstand reagierte er mit massiver Repression. Zahlreiche indigene
Führer und soziale Aktivisten wurden eingekerkert oder umgebracht.
...zum Volksaufstand
Die Räumung des Protestcamps war damit der berühmte Tropfen, der das
Fass zum Überlaufen brachte. Binnen Stunden fand sich die
Zivilgesellschaft unter einer einzigen Forderung zusammen: Gouverneur
Ulises Ruiz muss gehen! Innerhalb weniger Wochen sah Oaxaca
Demonstrationen mit mehreren hunderttausend Teilnehmenden, einige
sprechen sogar von einer Million (Oaxaca hat eine Bevölkerung von
weniger als einer Million).
Seitdem vergeht kaum ein Tag ohne Demos oder andere Protestaktionen. In
der ganzen Stadt gibt es Camps, in denen Mitglieder der Bewegung Tag
und Nacht präsent sind. Die ganze Innenstadt ist verbarrikadiert und
blockiert, ebenso wie einige Zufahrtsstraßen. Alle Einrichtungen und
Gebäude des Staates und der Stadt sind besetzt. Diese Strategie bezieht
sich auf einen Verfassungsartikel, der besagt, dass bei einem
"Verschwinden der Gewalten" der zuständige Gouverneur von der
Bundesregierung oder dem Senat abgesetzt werden kann. Dies ist in
Oaxaca seit Monaten der Fall: Regierung und Parlament befinden sich im
Untergrund, die Gerichte arbeiten nicht mehr, die Polizei hat sich auf
ihre Stützpunkte zurückgezogen und tritt gar nicht mehr offen in
Erscheinung. Es herrscht eine Art Anarchie — aber es funktioniert.
Seither hat sich die Bewegung von einer Bewegung des Magistrats der
Lehrer zu einer Volksbewegung ausgeweitet, die sich in der APPO
(Asamblea Popular de los Pueblos de Oaxaca — Volksversammlung der
Völker von Oaxaca) organisiert haben. Sie ist Organisation, Bündnis und
Versammlung zugleich, wo sich Delegierte der über 350 Organisationen
täglich treffen, um aktuelle Fragen zu diskutieren, zu organisieren und
Entscheidungen zu treffen. Natürlich ist es nicht leicht, in einem
Bündnis, das neben der Lehrergewerkschaft nicht nur Organisationen und
Gruppen von Arbeitern verschiedener Bereiche, Studierende und
Professoren, Indigene, Frauen, Jugendliche, kirchliche Basisgemeinden,
Ärzte und Gesundheitsarbeiter, Nachbarschaftsorganisationen umfasst,
sondern auch ideologisch unterschiedlich ist (von verschiedensten
marxistischen Strömungen zu libertären, aber auch reformistischen
Ideen), zu gemeinsamen Positionen zu kommen. Umso erstaunlicher, dass
die Zusammenarbeit und Entscheidungsfindung bisher ohne größeren Streit
und Spaltungen zu funktionieren scheint.
Das einigende Band besteht in der Forderung nach dem Rücktritts von
Ulises. Aber dass es damit nicht getan ist, dass viel tiefgreifendere
Veränderungen nötig sind, ist eigentlich allen klar. Deshalb gibt es
Diskussionen über eine neue Verfassung und umfassende Reformen. Doch so
wichtig diese Debatten über die Zukunft der Bewegung sind, so schwierig
ist es, die Mobilisierungen aufrechtzuerhalten und sich gleichzeitig
diesen fundamentalen Fragen zu widmen. Vor allem angesichts der immer
wieder brutale Formen annehmenden Repression: Anfang August wurde bei
einer Demo ein Mechaniker erschossen; in der Nacht vom 20. auf den
21.August wurde eine weitere Person bei der Bewachung eines Camps vor
einem besetzten Radiosender erschossen.
Kampf um Kanal 9
Die Vorgeschichte: Am 1.August wurde der lokale Fernsehsender Kanal 9
(eine staatliche regionale Station, die im gesamten Staat Oaxaca
sendet, vergleichbar mit den dritten Programmen in Deutschland), von
einer mit großen Kochtöpfen bewaffneten Frauendemo kurzerhand besetzt,
weil dieser ständig gegen die Bewegung gehetzt hatte. Angesichts
tausendfacher Frauenpower kapitulierten die Angestellten des Senders
ohne Kampf. Die Bewegung hatte plötzlich einen eigenen Fernsehsender!
Mit der Hilfe von einigen Kommunikationsprofessoren und -studierenden
gelang es, diesen in Betrieb zu nehmen. Innerhalb von zwei Wochen
kletterte der vorher uninteressante kleine Sender mit seiner
Einschaltquote weit nach oben. Doch dann gelang es der Polizei, die
Antennen und Sendeanlagen zu zerstören. Maskierte Männer griffen mit
Maschinengewehren die Wachen an, mehrere Menschen wurden von Kugeln
getroffen und zum Teil schwer verletzt. Die Antwort der Bewegung war
jedoch ebenso schnell wie erfolgreich: Noch in derselben Nacht
besetzten sie zwölf andere Radiostationen, von denen vier in Betrieb
genommen wurden.
Obwohl sich die APPO und das Magistrat der Lehrer seit Anfang November
in Verhandlungen mit dem Staatssekretariat der Bundesregierung
befindet, ist die latente Drohung einer militärischen "Lösung" des
Konflikts nicht geringer geworden. So forderte der von der PRI und der
rechtskonservativen Regierungspartei PAN dominierte Senat das
Eingreifen der Regierungstruppen. Mehrmals sah es so aus, als würden
Armee und PFP die Protestcamps räumen, doch bisher blieb es "nur" bei
der permanenten Bedrohung.
Spiel auf Zeit
Ohnehin scheint die Bundesregierung, anders als die Regierung Oaxacas,
deutlich zögerlicher mit dem Einsatz des Militärs, denn es ist
offensichtlich, dass es mit einer einmaligen Intervention nicht getan
ist, weil sich der bisher friedliche Protest angesichts der Stärke der
Bewegung leicht in einen Bürgerkrieg ausweiten könnte. Daran hat jedoch
die Bundesregierung wenig Interesse, ist sie doch ausreichend damit
beschäftigt, den Protest gegen den offensichtlichen Wahlbetrug des
PAN-Kandidaten Felipe Calderón gegen den Kandidaten der
sozialdemokratischen PRD, López Obrador, zu kontrollieren. Zu der
Unzufriedenheit weiter Teile der Bevölkerung nach zwei Jahrzehnten
neoliberaler Politik kommt nun noch die Wut über den Betrug — da könnte
das Beispiel Oaxaca leicht Schule machen.
Das ist der Konflikt, in dem sich die Bundesregierung befindet: Sie
kann Ulises Ruiz nicht einfach absetzen, denn die PAN braucht die
Unterstützung der PRI zur Absicherung ihrer Macht und kann daher nicht
offen gegen einen PRI-Gouverneur agieren. Ein Sieg der Bewegung wäre
Signal für Bewegungen in anderen Bundesstaaten. In einigen haben sich
schon APPOs gegründet. So im Bundesstaat Sonora, wo die Lehrer streiken
und sich dabei an den Erfahrungen in Oaxaca orientieren. Anderseits
könnte sich eine Repression gegen die Bewegung in Oaxaca leicht zu
einem Flächenbrand über das ganze Land ausweiten.
Daher blieb bisher nur das Spiel auf Zeit und die Hoffnung, dass sich
der Protest irgendwann von selbst ausbrennt. Doch danach sieht es
bisher nicht aus. Obwohl nach mittlerweile vier Monaten Mobilisierung
alle müde und erschöpft sind, ist von Resignation und Aufgabe keine
Spur. Im Gegenteil, Ende November brachen mehrere tausend Mitglieder
und Sympathisanten der APPO zu Fuß zu einem Protestmarsch in die 500 km
entfernte Hauptstadt auf. Damit sollte der Druck auf die
Bundesregierung erhöht werden, die Hauptforderung der Bewegung, die
Absetzung von Ulises, zu erfüllen. Das Ultimatum des Innenministeriums,
den Unterricht wieder aufzunehmen, lehnt die APPO ab und fordert
stattdessen den Rücktritt der gesamten Regierung von Oaxaca.
Für den 21.Oktober hat die Bewegung zu einem zivilen Bürgerstreik und
zu einer Großdemonstration nach Mexiko-Stadt aufgerufen. Allerdings
könnte sich der Kampf sogar schon vorher entscheiden: In der Woche
zuvor wird der Bericht der Senatskommission erwartet, die über die
"Unregierbarkeit" Oaxacas entscheiden soll. Kommt sie zum Ergebnis der
Unregierbarkeit, könnte Ulises Ruiz tatsächlich abgesetzt werden.
Sollte Ulises Ruiz wirklich gehen, wird es aber auch ein künftiger
Gouverneur schwer haben, gegen den Willen des Volkes zu regieren. Die
Vorschläge für eine neue Verfassung, an denen APPO-Mitglieder arbeiten,
sehen eine scharfe Kontrolle der Regierenden seitens des Volkes vor.
Die Philosophie, dass die Regierung dem Volke gehorchen soll und nicht
umgekehrt, hat eine lange Tradition in den indigenen Gemeinschaften und
ist u.a. von den Zapatistas unter dem Begriff "mandar obediciendo"
("gehorchend befehlen") bekannt geworden.
23-11-2006, 21:44:00 |Miriam Fischer