Massenrevolte in Griechenland
Zu Hunderttausenden erklären die griechischen Empörten ihren neoliberalen Henkern den Krieg: Zwei Wochen nach ihrem Beginn überflutet die Bewegung der "Empörten" die Plätze der Städte im Land mit gewaltigen Menschenmengen, die ihre Wut hinausschreien, und lässt die Regierung Papandreou und ihre lokalen und internationalen UnterstützerInnen zittern. Es ist nicht mehr nur ein einfacher Protest oder eine breite Mobilisierung gegen die Sparpolitik. Von nun an ist es eine wirkliche Massenrevolte, die durch Griechenland fegt!
16.06.2011
Zwei Wochen nach ihrem Beginn überflutet die Bewegung der "Empörten" die Plätze der Städte im Land mit gewaltigen Menschenmengen, die ihre Wut hinausschreien, und lässt die Regierung Papandreou und ihre lokalen und internationalen Unterstützer zittern. Es ist nicht mehr nur ein einfacher Protest noch eine breite Mobilisierung gegen die Sparpolitik. Von nun an ist es eine wirkliche Massenrevolte, die durch Griechenland fegt! Eine Revolte, die ihre Weigerung, "ihre Krise" und "ihre Schulden" zu bezahlen, laut hinausschreit und dabei das neoliberale Zwei-Parteien-System, wenn nicht gar das gesamte politische Personal in äußerste Bedrängnis bringt.
Wie viele waren es am Sonntag, den 5. Juni 2011 auf dem Syntagmaplatz im Zentrum von Athen, direkt gegenüber dem Parlament? Schwer zu sagen, denn eine der Besonderheiten dieser Massenversammlungen ist, dass es mangels zentraler Ansprachen oder eines Konzerts ein ständiges Kommen und Gehen von Demonstranten gibt. Aber nach der Schätzung der Verantwortlichen der Athener U-Bahn, die wissen, wie sie die Anzahl ihrer Fahrgäste berechnen, strömten an diesem denkwürdigen Abend mindestens 250.000 Menschen auf den Syntagmaplatz! Insgesamt waren es mehrere Hunderttausende, wenn man die Massenansammlungen "historischen" Ausmaßes auf den zentralen Plätzen Dutzender anderer griechischer Städte hinzuzählt.
In diesem Moment stellt sich jedoch eine Frage: Wie ist es möglich, dass eine solche Massenbewegung, die zudem dabei ist, eine griechische Regierung zu erschüttern, die im Zentrum des europäischen Interesses steht, von allen westlichen Medien mit einem ohrenbetäubenden Schweigen bedacht wird? Während der ersten zwölf Tage praktisch kein Wort, kein Bild von dieser beispiellosen Menge, die ihre Wut gegen den IWF, die Europäische Kommission, die Troika und auch Frau Merkel und die ganze internationale neoliberale Crème herausschreit. Absolut nichts. Nur bisweilen einige Zeilen über "Hunderte Demonstranten" auf den Straßen Athens, die dem Aufruf der Gewerkschaften folgen. Eine seltsame Vorliebe für die dürren Kundgebungen der völlig diskreditierten Gewerkschaftsbürokraten, während einige hundert Meter weiter seit zwei Wochen gewaltige Massen bis spät nach Mitternacht demonstrieren...
Das ist einfach Zensur, von bislang unbekanntem Ausmaß. Eine sehr organisierte und systematische Zensur, die um jeden Preis das Übergreifen der griechischen Bewegung auf Europa blockieren und verhindern will! Angesichts dieser neuen Waffe der modernen Heiligen Allianz wird es erforderlich sein, dass wir alle gemeinsam reagieren, um diesen Skandal anzuprangern und die Mittel zu finden, dieses Verbot der Information der Öffentlichkeit zu umgehen: durch die Entwicklung der Kommunikation zwischen den sozialen Bewegungen ganz Europas und die Schaffung unserer eigenen alternativen Medien...
Zu den "Empörten" (griechisch "Aganaktismeni") muss man bemerken, dass es sich um eine zunehmend plebejische Bewegung handelt, ein Abbild der griechischen Gesellschaft, wie sie in 25 Jahren absoluter Herrschaft der neoliberalen Ideologie geformt wurde - die auf ihre zynische, rassistische, chauvinistische und individualistische Weise alles in Waren verwandelt hat. Deshalb ist das Bild, das daraus entsteht, oft widersprüchlich, zum Beispiel wenn dieselbe Person ostentativ einen rassistischen, griechischen Patriotismus zur Schau stellt und dabei eine tunesische (oder spanische, ägyptische, portugiesische, irische, argentinische) Flagge schwenkt, um seine... internationalistische Solidarität mit den kämpfenden Bevölkerungen dieser Länder auszudrücken.
Müssen wir also die Schlussfolgerung ziehen, dass es sich um eine Masse aus schizophrenen Demonstranten handelt? Absolut nicht. So wie es keine Wunder oder politisch "reine" soziale Revolten gibt, so radikalisiert sich die Bewegung der empörten Griechen zusehends und ist dabei von 25 Jahren sozialen und moralischen Desasters geprägt. Aber, Vorsicht: All diese "Mängel" sind einem zentralen gemeinsamen Nenner untergeordnet: radikale Ablehnung der Troika, ihres Memorandums*, der Staatsverschuldung, der Regierung, der Sparpolitik, der Korruption, dieser fiktiven parlamentarischen Demokratie, der Europäischen Kommission, des ganzen Systems!
Es ist also kein Zufall, dass diese Hunderttausende von Empörten sich seit 14 Tagen die Lunge aus dem Leib schreien und dabei vielsagende Worte wiederholen wie: "Wir müssen nichts, wir verkaufen nichts, wir zahlen nichts", "Wir verkaufen nicht und wir lassen uns nicht verkaufen", "Sie sollen alle abhauen, Memorandum, Troika, Regierung und Schulden" oder "Wir bleiben, bis sie abhauen". Losungen dieser Art einen alle Demonstranten, wie übrigens alles, was sich auf die Weigerung bezieht, die Schulden anzuerkennen oder zu bezahlen. Deshalb hat die Initiative für die Offenlegung der Schulden fast im ganzen Land einen Bombenerfolg, ihr Stand auf dem Syntagmaplatz wird ständig von einer Menge belagert, die den Aufruf unterschreiben will oder Unterstützerdienste anbietet...
Zunächst waren sie fast völlig unorganisiert, doch nach und nach haben sich die Empörten des Syntagmaplatzes eine Struktur gegeben, deren Höhepunkt die Volksversammlung ist, die jeden Abend um 21 Uhr mehrere hundert Teilnehmer vor einer Kulisse von einigen tausend sehr aufmerksamen Zuhörern anzieht. Die Debatten sind oft von hoher Qualität (z.B. die über die Staatsverschuldung) und übertreffen bei weitem das Beste, was die großen Fernsehkanäle bieten. Und all dies trotz des Lärms (im überfüllten Zentrum einer 4-Millionen-Stadt), des Kommens und Gehens Zehntausender Menschen und vor allem trotz der bunten Zusammensetzung dieser gewaltigen Auditorien mitten in einem ständigen Camp auf dem Platz, das mitunter an einen wahrhaften Turm zu Babel erinnert.
All diese Tugenden der "direkten Demokratie", die Tag für Tag auf dem Syntagmaplatz erprobt wird, dürfen nicht über ihre Schwächen, Zweideutigkeiten oder Mängel hinwegtäuschen: zum Beispiel ihre anfängliche Allergie gegen alles, was sich auf Parteien, Gewerkschaften oder jede Art von organisiertem Kollektiv bezieht. Wenngleich diese Aversion gegen die "Parteien" bei der Masse der "Empörten" unbestreitbar dominiert und sie die Tendenz haben, die gesamte politische Sphäre unterschiedslos abzulehnen, ist doch auch eine spektakuläre Entwicklung in den Volksversammlungen festzustellen - in Athen wie in Saloniki: Von der Ablehnung der Gewerkschaften sind sie nämlich dazu übergegangen, diese einzuladen, ihre Demonstrationen auf dem Syntagmaplatz enden zu lassen, damit sich die Arbeiter den Empörten anschließen können...
Offensichtlich hat es mit der Zeit eine Klärung der politischen Landschaft auf dem Syntagmaplatz gegeben: Die radikale und anarchisierende Linke besetzt den Platz und kontrolliert die Volksversammlung und das ständige Camp, die Rechte und extreme Rechte versammelt sich auf dem Platz oberhalb, direkt vor dem Parlament. Obwohl die radikale Linke den Ton angibt und allen Aktivitäten und Demonstrationen auf dem Syntagmaplatz ihren Stempel aufdrückt und in ein tiefes Rot färbt, lässt sich daraus zweifellos nicht schlussfolgern, dass die diversen Schattierungen der populistischen, chauvinistischen, rassistischen oder sogar offen neonazistischen Rechten ihre Versuche einstellen, diese gewaltige Volksbewegung zu beeinflussen. Sie werden weitermachen, und alles hängt letzten Endes von der Fähigkeit der Avantgarde der Bewegung ab, in den Wohnvierteln, an den Arbeitsstätten und den Schulen Fuß zu fassen und sie für Ziele zu gewinnen, die eine Brücke bilden zwischen den unmittelbaren Erfordernissen und dem rachsüchtigen Zorn der Menge auf das System.
Ziemlich verschieden von seinem spanischen Gegenstück in Ausmaß, sozialer Zusammensetzung, Radikalität und politischer Heterogenität, teilt der Syntagmaplatz mit dem Tahrirplatz in Kairo oder der Puerta del Sol in Madrid denselben Hass auf die politische und wirtschaftliche Elite, die die bürgerlich-parlamentarische Demokratie ihres Inhalts entleert. Gleichzeitig drückt sich darin den Wunsch nach Teilhabe, Gewaltfreiheit und Demokratie aus, der jede Volksrevolte zu Beginn dieses 21.Jahrhunderts kennzeichnet. Unsere Schlussfolgerung kann nur sehr provisorisch sein: Unabhängig von den stürmischen Ereignissen, die noch kommen, stellt die Bewegung der Empörten eine Wende in der Geschichte des Landes dar. Von nun an ist alles möglich und nichts wird mehr sein wie zuvor...
Yorgos Mitralias
* Im Frühjahr 2010 schrieben IWF, EU-Kommission und Europäische Zentralbank ihre Bedingungen für einen 110-Milliarden-Euro-Kredit in einem Memorandum an die griechische Regierung nieder (d. Übers.)