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Kurdistan: Im Nordirak haben die USA das Sagen

In der kurdischen Autonomiezone im Nordirak schaffen die unterschiedlichen Interessenlagen der US- Besatzer, der großen regionalen Machtblöcke KDP und PUK und der Anrainerstaaten ein sich überlagerndes Bündnis- und Abhängigkeitsgeflecht; gegenseitige Instrumentalisierung und Erpressung gehören zum politischen Alltagsgeschäft. Nur vor diesem Hintergrund ist das Vorgehen und Taktieren der beteiligten Kräfte bei der jüngsten Krise nachvollziehbar, die durch den Einmarsch der Türkei im Nordirak ausgelöst wurde. Brigitte Kiechle hat sich im vergangenen Jahr länger in der Region aufgehalten und mehrere Bücher über den Irak geschrieben.

15.04.2008

In der Vergangenheit hat die türkische Armee schon mehrmals die Grenze zum Irak überschritten. Diesmal hatte ihre Militäroperation jedoch eine neue Qualität.
Unter Berufung auf das „Selbstverteidigungsrecht gegenüber Terroristen” ermächtigte das türkische Parlament am 17.10.2007 die Regierung, militärisch im Nordirak einzugreifen. Die türkische Regierung erhielt dafür für den Zeitraum eines Jahres völlige Handlungsfreiheit. Ziel der Militärintervention sollte die Zerschlagung der PKK-Stellungen im Nordirak sein.
Die Intervention wurde von der US-Besatzung im Irak nicht nur gebilligt, sondern auch direkt unterstützt. Die USA haben eng mit der türkischen Regierung zusammengearbeitet. Schon beim Besuch des türkischen Premierministers Erdogan bei US-Präsident Bush im November letzten Jahres wurde die PKK in einer Abschlusserklärung zum „gemeinsamen Feind” von USA und Türkei erklärt, deren Bekämpfung als Teil des weltweiten „Antiterrorkampfs” eingestuft. Mit diesem „Gütesiegel” konnte die Türkei trotz ihres völkerrechtswidrigen Vorgehens davon ausgehen, dass sie dafür nicht international verurteilt würde. Vom US-Geheimdienst, der dafür Satellitenfotos auswertete, bekam die türkische Armee in der Folgezeit Informationen über Stützpunkte der PKK-Guerilla geliefert, um gezielte Luftangriffe zu ermöglichen.
Vor Ort übten die USA massiven Druck auf ihre kurdischen Bündnispartner, die Demokratische Partei Kurdistans (KDP) und die Patriotische Union Kurdistans (PUK) aus — sie sollten bei der Bekämpfung der PKK kooperieren und deren Bewegungs- und Handlungsmöglichkeiten innerhalb der kurdischen Autonomiezone einschränken. Nur so könne eine Militärintervention der Türkei längerfristig verhindert werden.
Die Bevölkerung sah im Angriff der türkischen Armee vor allem eine gezielte Destabilisierung der kurdischen Autonomiezone. Durch die Bombenangriffe wurden Hunderte von Menschen vertrieben, Dörfer und die Infrastruktur im Grenzgebiet auf irakischer Seite zerstört. Mit Menschenketten und Sitzstreiks blockierten Ortsansässige das Vorwärtskommen der türkischen Panzer. Es gab erste Meldungen, Peshmerga-Gruppen hätten sich der PKK-Guerilla angeschlossen.
Der Druck der Bevölkerung auf die Führung von KDP und PUK, endlich gegen den türkischen Vormarsch vorzugehen, wurde zu groß. Die kurdische Bevölkerung im Nordirak betrachtet die Guerilleros von der PKK nicht als Terroristen, sondern als Freiheitskämpfer, und ihren Kampf um die Rechte der kurdischen Bevölkerung in der Türkei als legitim. An der Basis genießt die Solidarität mit dem kurdischen Befreiungskampf immer noch Vorrang vor taktischen Absprachen zwischen US-Besatzern und der eigenen kurdischen Regionalregierung.
Vor diesem Hintergrund forderten die USA die Türkei bereits wenige Tage nach Beginn der türkischen Bodenoffensive auf, diese umgehend zu beenden. Die irakische Regierung und das kurdische Regionalparlament hatten zuvor mit einiger zeitlicher Verzögerung die Grenzüberschreitung verbal verurteilt und die türkische Armee zum Rückzug aufgefordert. Demonstranten in mehreren Städten der Autonomiezone hatten die kurdische Regionalregierung zum Schutz der Bevölkerung im Grenzgebiet aufgefordert.

Die Euphorie ist verflogen


Fünf Jahre nach der Invasion im Irak ist das Land nach wie vor nicht befriedet im Sinne der US- Regierung. Die katastrophale Sicherheitslage ist immer noch das größte Hindernis für die Realisierung der — vor allem von US-amerikanischen Unternehmen — erhofften Gewinne aus dem Wiederaufbaugeschäft, der Entstaatlichung der irakischen Wirtschaft, des öffentlichen Dienstleistungssektors und vor allem des Ölsektors. Steigende Gewinne verzeichnen nur die Industriezweige, die an der Fortdauer des Krieges verdienen: die Rüstungsindustrie und private Sicherheitsfirmen. Die finanziellen und personellen Kosten des Krieges werden jedoch immer mehr auch zu einem Stabilitätsrisiko an der Heimatfront.
Die US-Besatzer sind mehr denn je darauf angewiesen, dass es im Nordirak vergleichsweise ruhig bleibt, keine zusätzliche militärische Front entsteht und die von ihnen unterstützte Ordnungsmacht, bestehend aus KDP und PUK, die eng gesetzten Grenzen des Autonomiestatus beachtet und gleichzeitig die notwendige Disziplinierungskraft gegenüber der eigenen Bevölkerung beibehält.
Die US-Armee kann bei der Bekämpfung des Widerstands auch nicht auf die militärische Unterstützung der kurdischen Peshmerga-Einheiten verzichten, die zwischenzeitlich in die Uniform der irakischen Armee geschlüpft sind. Ein Abzug der kurdischen Einheiten würde die Lage im Zentralirak für die US-Besatzer entscheidend verschlechtern.
Derzeit herrscht im Nordirak eine explosive Stimmung, die den Interessen der USA sehr zuwiderläuft. Die Bevölkerung in Irakisch-Kurdistan hat sich von der „Autonomen Region Kurdistan” tatsächliche Unabhängigkeit und soziale Gerechtigkeit versprochen und sieht sich nun um ihre Ziele betrogen.
Die Spaltung der Gesellschaft in der Nach- Saddam-Ära in Gewinner und Verlierer wird immer greifbarer. In den kurdischen Gebieten des Irak ist die Euphorie nach dem Fall des Baath-Regimes längst verflogen.
KDP und PUK haben anfänglich versucht, den auch für die Autonomieregion geltenden Besatzungsstatus zu verschleiern. Dies gelingt jedoch immer weniger. Wenn die US-Besatzer ohne Absprache mit der irakischen Regierung und der kurdischen Regionalregierung in Erbil den irakischen Luftraum für türkische Kampfflugzeuge öffnen, zeigt dies deutlich, wer tatsächlich Herr im Land ist. Zusammenstöße von Söldnern und US-Soldaten mit Einheimischen fachen die Wut der Bevölkerung an. Denn auch in den kurdischen Gebieten treten die Besatzungstruppen und ihre Helfer wie Herrscher auf, die sich jeder Kontrolle und jeglicher Verantwortung für ihr Handeln entziehen. Heute auf die Realität der US-Besatzung angesprochen, ist die überwiegende Mehrheit der kurdischen Bevölkerung im Nordirak der Auffassung, es sei gut dass die US-Truppen Saddam gestürzt hätten, aber dann hätten sie wieder abziehen sollen.

Eine abhängige Autonomie

KDP und PUK haben als Gegenleistung für ihre Unterstützung der US-Invasion im Irak und ihre Beteiligung an der Aufstandsbekämpfung an der Seite der Besatzungstruppen im Zentralirak den derzeitigen Autonomiestatus zugestanden bekommen. Diese „Autonomie” ist jedoch völlig abhängig von den Besatzungstruppen.
Für KDP und PUK ist sie auch noch nicht der Endpunkt ihrer politischen Vorstellungen. Im Bewusstsein, dass die USA derzeit keinen Bruch mit ihren kurdischen Verbündeten riskieren können, treten sie immer offensiver für eine gebietsmäßige Erweiterung der Autonomieregion ein. Auf einer von der kurdischen Regionalregierung verbreiteten Landkarte reicht Irakisch-Kurdistan fast bis Bagdad. Besonders brisant ist die Auseinandersetzung um die Ölregion Kirkuk, die von kurdischer Seite als „kurdisches Gebiet” beansprucht wird.
Eine Volksabstimmung soll über die Zugehörigkeit der Region entscheiden. Im Hinblick darauf versuchen KDP und PUK zielgerichtet, die Bevölkerungszusammensetzung in der Region zu ändern. Dabei geht es nicht nur um die freiwillige Rückkehrmöglichkeit der von Saddam vormals vertrieben kurdischen Bevölkerung, sondern auch um Zwangsrücksiedlung und Vertreibung der arabischen Bevölkerung in großem Stil.
Auf Druck der US-Besatzer — denen es letztlich egal ist, wem die Ölregion Kirkuk zugeordnet wird, Hauptsache es klappt mit dem Abschluss von lukrativen Erschließungs- und Förderverträgen für US-amerikanische Firmen — wurde die Volksabstimmung bereits mehrfach verschoben. Die Besatzer haben Angst, dass der Konflikt sowohl im Irak als auch mit dem NATO-Partner Türkei eskaliert.
Weder die schiitische irakische Regierungsmehrheit noch die Türkei werden einen Anschluss der Region Kirkuk an das kurdische Autonomiegebiet hinnehmen. Die Pläne von KDP und PUK können damit zu einem Risikofaktor für die US-Interessen im Irak werden. Obwohl sie KDP und PUK als wichtige Bündnispartner nicht verprellen wollen, ist den US-Besatzern daran gelegen, deren weitere Autonomiepläne zu stoppen und ihren Handlungsspielraum zu begrenzen.

Warum stimmten die USA dem Militärschlag zu?

Für die USA ist die Zusammenarbeit mit dem NATO-Partner Türkei strategisch genauso wichtig wie das Bündnis mit KDP und PUK. Ein großer Teil des Nachschubs an Ausrüstung und Logistik der Besatzer wird über den türkischen Hafen Incerlik abgewickelt. Im Gegenzug versichern die USA der Türkei, dass niemals ein kurdischer Staat im Nordirak entstehen wird. Auch hinsichtlich der PKK kamen sie der türkischen Regierung entgegen: gemeinsam hat man sie — ganz nach den türkischen Vorstellungen — als gemeinsamer Feind eingestuft, dem mit allen Mitteln der Terrorismusbekämpfung zu begegnen sei.
Hintergrund für dieses Zugeständnis ist nicht in erster Linie die Interessenlage der USA im Irak, sondern es sind ihre Kriegspläne gegenüber dem Iran. Türkei und Iran haben im letzten Jahr eine enge Zusammenarbeit vereinbart — unter dem Vorwand, die USA nutzten ihre Besatzungsrolle nicht ausreichend zur „Terrorismusbekämpfung” im Nordirak. Dies Entwicklung kommt der US-Außenpolitik ungelegen, weil sie ihrem Wunsch zuwiderläuft, den Iran zu isolieren, und diesen sogar zu einem wichtigen Verbündeten des NATO-Partners Türkei macht.
Vor diesem Hintergrund erfüllte die Zustimmung zur Militäraktion der Türkei auf irakisch-kurdischem Gebiet für die US-Strategen gleich mehrere Funktionen: Die Türkei wurde als Bündnispartner zunächst einmal zufrieden gestellt. Die türkische Regierung hatte zuvor gedroht, sie werde die Kriegsunterstützung für die US-Truppen im Irak einstellen, wenn sich die USA im Kampf gegen die PKK im Irak nicht an ihre Seite stellten. Der kurdischen Regionalregierung, die im Angriff der türkischen Armee vor allem einen Angriff auf die kurdische Regionalverwaltung vermutete, wurde sowohl ihre Abhängigkeit vom „good will” der US-Besatzer verdeutlicht, als auch die Grenzen ihrer „Autonomie” aufgezeigt.

Die Lage in der Region: Ausverkauf zum Schnäppchenpreis


Im Nachkriegs-Nordirak verschärfen sich die sozialen Unterschiede, die Infrastruktur welkt vor sich hin, die Türkei kauft Land und gründet Schulen und Universitäten, die ohne die kurdische Sprache auskommen.
Die Stadt Erbil, Sitz des kurdischen Regionalparlaments, sieht aus wie eine große Baustelle. Überall werden große Hotelneubauten hochgezogen und moderne Einkaufzentren gebaut. Am Stadtrand entstehen bewachte Wohnsiedlungen in US- amerikanischem Stil, überall sind protzige Villenbauten zu sehen.
Hinter den Bauprojekten stehen private Geldgeber. Dabei handelt es sich in der Regel um einflussreiche Persönlichkeiten aus KDP und PUK, die sozusagen über Nacht reich geworden sind. Wo das Geld für die Bauprojekte herkommt, bleibt im Dunkeln, selbst Parlamentsabgeordnete können darauf keine Antwort geben. Man spricht von der Selbstbedienungsmentalität des Barsani- und Talabani-Clans, von Bodenspekulationen durch Landverteilungsaktionen der großen Parteien KDP und PUK, von Korruption und Vetternwirtschaft.
Gleichzeitig wird die Wirtschaft entsprechend der US-Pläne für den gesamten Irak nach neoliberalen Vorbildern umgebaut. Ein Transformationsprozess wurde in Gang gesetzt. Obwohl er noch am Anfang steht, zeitigt er bereits gravierende gesellschaftliche Auswirkungen und wirft Fragen der Verteilungsgerechtigkeit auf.
Das kurdische Autonomiegebiet soll für ausländische Firmen unter Berücksichtigung der Vorgaben von IWF und Weltbank geöffnet werden. Dies bedeutet Privatisierung des öffentlichen Dienstleistungssektors und der wenigen Produktionsbetriebe im Land. Diese Entwicklung findet in einer Situation statt, in der noch nicht einmal ansatzweise eine Grundversorgung z.B. im Gesundheits- und Ausbildungssektor gesichert ist. Gebaut werden nun Privatuniversitäten, Privatkrankenhäuser, Stromkraftwerke usw. Ausländische Investoren werden mit Steuerfreiheit und „billigen inländischen Arbeitskräften” angelockt. Auf Mindeststandards für Arbeitsbedingungen wird verzichtet. Es findet keinerlei Wirtschaftskontrolle oder gar Wirtschaftsentwicklungsplanung statt. Alles wird dem freien Spiel der Kräfte überlassen. Kritiker dieser Entwicklung sprechen bereits vom Ausverkauf des Landes zum Schnäppchenpreis.

Die Solidarität schwindet

In wenigen Jahren hat sich die Schere zwischen Arm und Reich dramatisch erweitert. Vom vordergründigen Wirtschaftsaufschwung profitieren nur wenige, die Mehrheit der Bevölkerung kämpft angesichts hoher Arbeitslosigkeit (bis zu 50%) und geringem Einkommen ums tägliche Überleben. Die Preise für Lebensmittel und Wohnraum gleichen sich dem EU-Niveau an, die Löhne liegen unterhalb des Existenzminimums.
Ein Grundschullehrer verdient etwa 150 Dollar im Monat, ein Wachmann 400 bis 500 Dollar. Arbeitsplätze gibt es fast nur bei der Polizei, im Sicherheitsgewerbe oder beim Militär. Wer sich meldet, steht letztlich auf der Gehaltsliste von KDP oder PUK und ist somit direkt von den im Autonomiegebiet bestimmenden Parteien abhängig. Die wirtschaftliche Not führt damit zu politischer Abhängigkeit. Jeder weiß, dass er mit öffentlich geäußerter Kritik an den herrschenden Regierungsparteien auch seinen Job riskiert.
Die völlig unzureichende soziale Infrastruktur, der ständige Mangel an Strom und sauberem Wasser führt immer öfter zu Protestaktionen wie Streiks, Besetzungen und Demonstrationen. Die Sicherheitskräfte von KDP und PUK reagieren mit Repression: Verhaftungen, Knüppel- und Schusswaffeneinsatz.
Im letzten Jahr ist in mehreren Landesteilen der kurdischen Autonomieregion die Cholera ausgebrochen. Die Untätigkeit der Regierung und ihre beschwichtigenden Erklärungen haben den Unmut über die Regionalregierung und die Debatte über die Verwendung der Haushaltsgelder verschärft. 30% der Wasserleitungen in Kurdistan müssen dringend erneuert werden. Ebenso die Wasserspeicher, die oft oben offen sind. Die Kanalisation ist veraltet, die Müllbeseitigung schlicht eine Katastrophe. Der Müll wird teilweise einfach in die Flüsse gekippt.
Mit der Entschuldigung der Behörden, es fehlten ihnen die finanziellen Mittel zur Sanierung von Wasserleitungen und Stromnetzen geben sich die Menschen nicht mehr zufrieden. Die kurdische Regionalverwaltung erhält von der irakischen Regierung jedes Jahr etwa 8 Milliarden Dollar an Ausgleichszahlungen aus den staatlichen Erdöl- und Steuereinnahmen. Bis heute gibt es keinen kontrollierbaren Haushaltsplan des kurdischen Regionalparlaments für die Verwendung der Gelder.
Wirtschaftlich ist die kurdische Autonomieregion vollständig von Auslandslieferungen abhängig. Fast der gesamte Warenverkehr läuft über die Türkei und den Iran. Wenn die Grenzen geschlossen werden, spürt man dies rasch an den fehlenden Lebensmitteln und der Einschränkung des Warenangebots auf dem Basar. Linksoppositionelle Kräften fordern deshalb ein sofortiges Entwicklungsprogramm für die Landwirtschaft und den Aufbau eigener Produktionsstätten nach Genossenschaftsmodellen.
Die Gesellschaft, in der in der Vergangenheit gegenseitige Hilfsbereitschaft der Normalfall war, beklagt heute einen Entsolidarisierungsprozess. Jeder ist sich selbst der Nächste und versucht, im Verteilungskampf ein Stück vom Kuchen zu erhalten. Es gibt immer mehr Stimmen, die eine radikale Änderung des wirtschaftlichen und politischen Kurses fordern und dies mit der Forderung nach tatsächlicher Demokratie und Einhaltung der Menschenrechte verbinden.
Nur der äußere Druck und die Angst der Bevölkerung, selbst der erreichte Autonomiestatus könnte erneut in Frage gestellt werden, hat bisher eine soziale Explosion verhindert. Man befürchtet, innerkurdische Auseinandersetzungen könnten der kurdisch-nationalen Sache schaden.

Hilfe vom Islam


Wenn die soziale Frage und nicht mehr die nationale Frage in den Mittelpunkt der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen rückt, wird dies unmittelbar Einfluss auf die Integrationsfähigkeit von KDP und PUK haben. Dann müssen diese um ihren Einfluss in der kurdischen Bevölkerung fürchten und werden auch gegenüber dem US-Besatzer an Gewicht als Bündnispartner verlieren. Erst vor kurzem wurde eine unabhängige Organisation mit Namen Hatakay gegründet: Ihr Ziel ist, eine Million Unterschriften zur Durchsetzung von Neuwahlen zum kurdischen Regionalparlament zu sammeln. Auch das ist ein Ausdruck der Unzufriedenheit mit der Politik der dominierenden Parteien KDP und PUK.
Der kurdische Ableger der KP Iraks — die größte linke Kraft in den kurdischen Gebieten, die über eine gewisse gesellschaftliche Verankerung verfügt — ist bis jetzt nicht in der Lage, die Unzufriedenheit aufzugreifen, in ihrem Sinne zu bündeln und auf ökonomischer wie politischer Ebene eine Alternative zu entwickeln. Sie hat die undemokratischen Manöver und Absprachen bei der Bildung des kurdischen Regionalparlaments mitgetragen und sich in die Regierungsverantwortung einbinden lassen, ohne wirklich etwas bewirken zu können. Ein Parlamentsmitglied der KP formulierte dies folgendermaßen: Wir sind in der Regierung, aber wir regieren nicht.
Die soziale Unzufriedenheit versuchen vor allem islamistische Kräfte zu nutzen, die Verbindungen zur türkischen Regierungspartei AKP unterhalten. Türkische Unternehmen mit Verbindungen zur AKP sind derzeit die größten Anleger und Landaufkäufer im Nordirak. Türkische Trägervereine bauen Schulen und Universitäten, an denen Türkisch und Englisch, aber nicht Kurdisch unterrichtet wird. Die Vergabe von Stipendien ermöglicht auch Nichtvermögenden ein Studium. Mit „islamischem Geld” wurde außerdem eine Vielzahl neuer Moscheen in der kurdischen Autonomieregion gebaut. Islamische Hilfsorganisationen mit Verbindung zur Türkei kümmern sich um die Unterstützung der Armen. Mit Sach- und Geldspenden erreichen sie eine Anbindung an die religiösen Kräfte. Die Islamisierung ist in den kurdischen Städten im Nordirak nicht mehr zu übersehen. Auf politischer Ebene wird diese Entwicklung durch die Gründung eines Ablegers der türkischen AKP vorangetrieben.
Die nichtreligiöse Opposition spricht bereits vom „türkischen Imperialismus” in den kurdischen Gebieten des Irak und sieht in dieser Entwicklung die größte Gefahr für die Zukunft. Insbesondere deshalb, weil sich mit einer „gemäßigt islamischen Partei”, die über eine Basis im kurdischen Autonomiegebiet verfügt, für die Besatzungsmacht USA neue Bündnisperspektiven ergeben, die mit den Entwicklungsvorstellungen der USA für den Gesamtirak kompatibel sind und dem NATO-Partner Türkei ganz neue Einflussmöglichkeiten auf die kurdische Autonomiezone eröffnen würden.

Jeder Türke ein Soldat!? Widerstand gegen die Invasion gibt es auch in der Türkei

Allmählich wird sichtbar, dass es auch in der Türkei eine Antikriegsstimmung und -bewegung gibt.
Die Kriegskoalition aus AKP, MHP und CHP hat vor der Militäroperation im Nordirak die Stimmung in der Türkei ordentlich angeheizt.Die Medien übernahmen kritiklos die offizielle Sprachregelung vom „Kampf gegen den Terrorismus” und einer PKK, die angeblich völlig isoliert sei. Es sollte so aussehen, als ob die gesamte Türkei geschlossen hinter dem Kriegskurs der Regierung steht.
Der Verweis auf den angeblichen Separatismus und Terrorismus der PKK greift aber nicht mehr. Auch die türkische Linke, die traditionell die Einheit der türkischen Arbeiterklasse betont und der kurdischen Befreiungsbewegung distanziert gegenübersteht, solidarisierte sich mit der kurdischen Antikriegsbewegung und brandmarkte die Großmachtpläne der Türkei im Nahen Osten.
In den Kurdengebieten gab es Demonstrationen unter dem Motto „Edi bese — Es reicht! Schluss mit dem Krieg in Kurdistan!”, unterstützt von Millionen kurdischer Binnenflüchtlinge im Westen der Türkei und von der Partei DTP. Sie forderten den sofortigen Rückzug der türkischen Armee aus dem Irak, das Ende der Unterdrückung der Kurden und eine friedliche Lösung der kurdischen Frage. Auch Schriftsteller und Intellektuelle forderten die Regierung zum Kurswechsel auf. Wenn nun die alten Spaltungslinien zwischen der kurdischen Bewegung und der Linken dauerhaft aufbrechen, wird das die Opposition zweifellos stärken.
Fatal für die Kriegstreiber in der Türkei ist jedoch der Stimmungswandel im bürgerlichen Lager. Kennzeichnend dafür ist das mutige Auftreten der bekannten Schlagersängerin Bülent Ersoy. Zur besten Sendezeit in einer der beliebtesten Fernsehshows sprach sie sich gegen die Militäroperation aus und kritisierte falsches Heldentum und Kriegsverherrlichung: „Immer dieselben Klischees, immer dasselbe Geschwätz, Kinder sterben, es gibt Blut, Tränen, Tote ... und dann diese hohlen Worte von Ehre und Vaterland. Für diesen Krieg würde ich mein Kind nicht unter die Erde schicken!” Das löste eine heftige Debatte aus. Die Sängerin wurde prompt wegen „Entfremdung des Volkes vom Militärdienst” angeklagt, wofür es drei Jahre Haft gibt. Viele bekannte Frauen in der Türkei — Schriftstellerinnen, Schauspielerinnen, Sängerinnen, Journalistinnen — schlossen sich Bülent Ersoys Aufruf nach einer friedlichen Lösung der kurdischen Frage an.
Die Armee trug selbst zur wachsenden Antikriegsstimmung bei. Bei Kämpfen zwischen der türkischen Armee und der Guerilla der PKK im türkisch-irakischen Grenzgebiet nahm die Guerilla acht Soldaten gefangen, zwölf starben. Als die Gefangenen freigelassen wurden, freuten sich die Militärführung und die türkische Regierung keineswegs mit den Familien der Soldaten darüber, dass sie noch am Leben sind; sie warfen ihnen im Gegenteil „Befehlsverweigerung und Zusammenarbeit mit dem Feind” vor. Sie hätten sich lieber selbst töten sollen, als in Gefangenschaft zu geraten. Nun sind sie in Haft und es droht ihnen einen mehrjährige Gefängnisstrafe.
Kritik gibt es auch an den Kosten der Kriegsoperation, die Sinnhaftigkeit der gesamten Aktion wird in Frage gestellt. Der plötzliche Rückzug der türkischen Armee ist nicht vermittelbar. Warum wurde die Operation abgebrochen, wo doch die Armee angeblich so erfolgreich war? Was ist tatsächlich passiert? Die Militärs werden zunehmend unglaubwürdig. Selbst wenn nur ein Teil der kurdischen Medienberichte zutrifft, war diese Winteroffensive für die türkische Armee ein Desaster. Wegen des schlechten Wetters und meterhohem Schnee kam sie nur mühsam vorwärts, viele Soldaten sind erfroren.
Die PKK-Guerilla leistete offensichtlich unerwartet starken und erfolgreichen Widerstand. Deshalb erhält die Forderung nach einer friedlichen Lösung der kurdischen Frage auch in bisher staatstreuen Gesellschaftsschichten Unterstützung.
Militärs und Regierung halten unbeirrt an einer militärischen Lösung fest. Eine Entspannung der Situation in den Kurdengebieten ist nicht in Sicht. Ob eine Kursänderung möglich wird, hängt u.a. davon ab, ob es den Kriegskritikern in der Türkei gelingt, die Bewegung für eine friedliche Lösung zu stärken und ein Verständnis dafür zu entwickeln, dass die kurdische Frage nicht nur eine Angelegenheit der kurdischen Bevölkerung ist, sondern eine politische Kernfrage für jede fortschrittliche und linke Bewegung in der Türkei.

Brigitte Kiechle
Quelle: SOZ