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Griechenland: Keine "Krawalle" sondern soziale Revolte

Der Ausbruch der Revolte zehntausender Jugendlicher, Schüler, Schülerinnen und Studierender nach der Ermordung des 15-jährigen Alexis Grigoropoulos durch die Polizei ergab sich spontan und für alle politischen Kräfte des Landes ganz unerwartet, wenn auch keineswegs wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Die massenhaften Proteste mit Besetzungen von Schulen und Universitätsfakultäten sowie vorübergehenden symbolischen Besetzungen von Radiosendern, Rathäusern in verschiedenen Vororten von Athen und der Zentrale des Gewerkschaftsbundes GSEE dauern nun schon über zwei Wochen an und geben kaum Anzeichen für eine „Beruhigung der Lage“.

12.01.2009

Dass die griechische Polizei Menschen tötet oder mordet, ist nichts Ungewöhnliches. In den letzten vier Jahren gehen zwölf Tote auf ihr Konto. Zuletzt wurde ein junger Pakistani von ihr getötet, als er bei der zuständigen zentralen Behörde der Ausländerpolizei Athens einen Antrag auf Asyl stellen wollte. Alexis wurde ohne jeden ersichtlichen Grund auf offener Straße regelrecht hingerichtet, als er mit Freunden in Exarchia spazieren ging. Exarchia ist ein Viertel im Zentrum von Athen, das als Hochburg linksradikaler Jugendlicher und Organisationen gilt und seit Jahren unter der ständigen Belagerung massiver Polizeieinheiten steht. Der Polizist, der die tödliche Kugel abfeuerte, hat behauptet, er habe nur einen Warnschuss in die Luft abgegeben, sodass Alexis möglicherweise unglücklich von einem Querschläger getroffen worden sei. Die Aussagen von mehreren unbeteiligten Augenzeugen widerlegen diese Vermutung, die hier allgemein nur als übler Witz angesehen wird, eindeutig. Dies hat die deutschen Massenmedien aber nicht davon abgehalten, diese abstruse Version eifrig zu kolportieren.

Spontane Reaktion auf den Straßen

Die Reaktion auf die Nachricht von Alexis’ Ermordung, die sich sofort wie ein Lauffeuer verbreitete, begann schon am selben Abend. Eine Massenbewegung von 15- bis 17-jährigen und anderen jungen Leuten entwickelte sich, kam in einer ganzen Reihe von Protestformen zum Ausdruck und äußerte sich, vor allem in den ersten Tagen, teilweise auch gewalttätig, als Banken und Geschäfte zerschlagen wurden, Autos und andere Sachen auf den Straßen in Flammen aufgingen usw. Die friedlichen Proteste überwogen aber, besonders beeindruckend sind die Aktionen der Jugendlichen zur Freilassung der Verhafteten vor den Polizeiwachen und der Athener Polizeizentrale. Es handelt sich um eine Welle der Politisierung einer Generation ganz junger Menschen, die in Konfrontation mit den staatlichen Repressionsorganen gerät und die soziale und politische Situation des Landes mit einem Schlag durcheinanderbringt.

Die Ermordung von Alexis war nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Schon 15-Jährige nehmen wahr, dass ihnen die bestehende Staats- und Gesellschaftsordnung nichts zu bieten haben wird außer steigender Arbeitslosigkeit – die Arbeitslosigkeitsrate der jungen Menschen liegt bei 25 %, wer ein Universitätsdiplom hat, bekommt in aller Regel keinen entsprechenden Job etc. – einer tristen und sich verschlechternden ökonomischen Situation für breiteste Schichten der arbeitenden Bevölkerung, zunehmender staatlicher Repression, verstärkter rassistischer Hetze und zynischer Verachtung seitens der „demokratischen“ PolitikerInnen und der von den Herrschenden kontrollierten Massenmedien. Diese Schülergeneration ist von den außerordentlichen Mobilisierungen der Studierenden inspiriert, die sich vor zwei Jahren gegen die Verfassungsänderung des Paragrafen 16 und damit gegen eine verstärkte Privatisierung der Universitäten richteten, und trifft sich mit der Verbitterung der „Generation der 700 Euro“, der vorwiegend 20- bis 30-Jährigen, die auf schamlo­se Weise vom Kapital ausgebeutet werden.

Dazu kommen die „Rettungsmaßnahmen“ der Regierung für die Banken in Höhe von 28 Mrd. Euro und die weiterhin enormen Staatsausgaben für das Militär, während die Bereiche Bildung und Erziehung, öffentliche Gesundheit sowie Umweltschutz, z. B. gegen die Waldbrände – erst letztes Jahr ist u. a. etwa der halbe Waldbestand des Peloponnes abgebrannt –, vor sich hinsiechen. Die prozentualen Ausgaben für den Erziehungssektor sind die niedrigsten in der gesamten EU und jetzt, mit der Verabschiedung des neuen Staatshaushalts für 2009, auf unter 3 % des Budgets gesunken. Dabei hatte die rechte Regierung der Neuen Demokratie (ND) bei ihrem Amtsantritt 2004 versprochen, diese Ausgaben auf über 5 % zu steigern.

Insofern kam die soziale Explosion der jungen Generation zwar unerwartet, aber alles andere als zufällig. Wenn Massenmedien und PolitikerInnen der anderen EU-Länder wie z. B. Sarkozy darüber räsonieren, dass sich ähnliche Entwicklungen wie die in Griechenland auch bei ihnen entwickeln könnten, haben sie sicher Recht. Der Aufstand in den Pariser Vororten und die massiven Proteste gegen den Gesetzentwurf zur Erstbeschäftigung (CPE) in Frankreich sind noch in guter Erinnerung. Die Situation der jungen Generation in Griechenland mag im EU-Vergleich besonders schwierig sein, die strukturellen Probleme sind aber überall dieselben. Es ist also zu hoffen, dass die Explosion in Griechenland nur den Beginn eines gesamteuropäischen Trends markiert.
Regierung und Oppositionsparteien
Die Mobilisierungen besonders der ersten Tage waren zum Teil von direkten Konfrontationen mit der Staatsgewalt und erheblichen Ausschreitungen gekennzeichnet, also von Kampfformen, wie sie in den letzten 15 – 20 Jahren nicht nur in Griechenland von Teilen der rebellierenden Jugendlichen verwendet werden. Das Zerschlagen und Verbrennen von Banken, Geschäften und Autos und Schlagabtäusche mit der Polizei sind Methoden, die vorwiegend aus dem Arsenal der autonomen und Anarcho-Szene stammen. Auch das ist nicht weiter verwunderlich, vor allem wenn man die politische Schwäche und den Reformismus der großen linken Parteien, d. h. der Kommunistischen Partei Griechenland (KPG) und des Synaspismos (SYN) / SYRIZA (dem Bündnis aus SYN, einer aus der eurokommunistischen Tradition stammenden und nun zur „Europäischen Linken“ gehörenden Partei mit einigen kleineren, vorwiegend linksradikalen Organisationen) bedenkt, um von der Hauptoppositionspartei PASOK schon gar nicht zu reden. Die Gewerkschaftsbürokratie, die größtenteils von PASOK kontrolliert wird, betreibt schon seit vielen Jahren eine Ausverkaufs- und Kapitulationspolitik, sodass die ArbeiterInnenbewegung große Schwierigkeiten hat, sich gegen die fortgesetzten Angriffe von Regierung und Kapital erfolgreich zur Wehr zu setzen. Die antikapitalistische und sich als revolutionär verstehende Linke ist weiterhin in eine Vielzahl untereinander konkurrierender Organisationen und Gruppen zersplittert und schon daher nur begrenzt in der Lage, wirksam in die zentralen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen einzugreifen.

Die Regierung und die gesteuerten Massenmedien haben natürlich alles in ihrer Macht Stehende getan, um die öffentliche Meinung gegen die „blinde Zerstörungswut“ und die „Gewalttätigkeit“ der Protestierenden zu lenken. Das hatte bisher nur wenig Erfolg und es ist eine der Stärken der sich gegen die Repression richtenden Bewegung, dass sie sich, wohl zum ersten Mal seit vielen Jahren, auf eine wohlwollende Neutralität breitester Bevölkerungskreise stützen kann. Gleichzeitig wird die Situation der Regierung, die im Parlament nur noch eine Stimme Mehrheit hat, immer schwieriger. Sie ist tief in Korruptionsskandale verwickelt und liegt in den letzten Meinungsumfragen schon über vier Prozentpunkte hinter PASOK. Trotzdem konnte sie in den laufenden Auseinandersetzungen einige kleine Pluspunkte verbuchen. PASOK hat sich aus allen Mobilisierungen herausgehalten und praktisch zu ihrem Ende und zu „Gewaltfreiheit“ aufgerufen, um in den eventuell schon bald anstehenden Wahlen die Macht (und den Zugang zu beträchtlichen Pfründen) zurückzuerobern. In den letzten Tagen haben rechte PASOK-PolitikerInnen sogar zu einer Art großen Koalition oder „Allparteien“-Regierung aufgerufen, um gemeinsam die vor dem Bankrott stehenden Staatsfinanzen und die griechische Wirtschaft zu retten.

Der Generalstreik

Am erstaunlichsten – und am erschreckendsten – war, dass die Führung der wohl immer noch stärksten linken Partei, der Kommunistischen Partei Griechenland, die Regierungspropaganda aufgegriffen und unterstützt hat, indem sie die „gewalttätigen Kapuzenträger“ zur Hauptgefahr erklärte und ihrem Hauptrivalen auf der Linken, also SYN / SYRIZA, vorwarf, „deren Ohren zu streicheln“ und auf diese Weise Wählerstimmen fangen zu wollen. Praktisch ergab sich ein Block aus Regierung, dem rechtsradikalen LAOS und KPG, die eine öffentliche Gefahr vonseiten „gewaltbereiter“ Demonstranten, der Linksradikalen und des SYN / SYRIZA erkennen wollten und verurteilten. Diese Propaganda zielte eindeutig auf die Eindämmung der Jugendproteste ab. Dazu kam, dass schon Wochen zuvor für den 10.  Dezember, vier Tage nach dem Tod von Alexis, ein 24-stündiger Generalstreik gegen die antisoziale Wirtschafts- und Sozialpolitik der Regierung angesetzt war. Die Regierung forderte die Gewerkschaften auf, ihre geplante Demonstration wegen der Unruhen abzusagen. Tatsächlich gaben die Organisatoren des Streiks und PASOK, aber auch die Führung des SYN nach, indem sie auf den üblichen Marsch durch Teile des Athener Zentrums verzichteten und die Kundgebung auf die direkte Nachbarschaft des Parlaments verlegten. Im Übrigen blieb es bei dem eintägigen Streik, weitere Streikaktionen und Mobilisierungen sind seitens der Gewerkschaftsführung nicht vorgesehen. Die Führung des SYN hat sich dieser Rückweichstrategie angepasst und damit zu erkennen gegeben, dass auch ihr Ziel ein „friedlicher“ Regierungswechsel durch Wahlen und ein möglichst gutes Wahlergebnis sind. Die sich als revolutionär verstehenden Organisationen, die sich am SYRIZA beteiligen, bleiben damit einer prinzipiell reformistischen Strategie untergeordnet. All dies kommt natürlich der Regierung zugute, die die Repression verschärft, von nationaler Einheit schwadroniert und wegen der Abwiegelungstaktik ihrer direkten Opponenten darauf hoffen kann, sich trotz allem noch einige Monate über Wasser zu halten.

Ihre eigene Rolle spielt die KPG-Führung. Zunächst trat sie nach dem 6. Dezember als „Ordnungsfaktor“ in Erscheinung, was zu ihrer programmatischen Orientierung einer „Volks-Ökonomie“ im Rahmen eines angestrebten Bündnisses mit dem Kleinbürgertum und mittelständischen Unternehmern passt – schließlich waren nicht zuletzt GeschäftsbesitzerInnen die Leidtragenden der Unruhen. Darüber hinaus schwächte sie, wie schon seit vielen Jahren üblich, die Bewegung durch die Organisierung ihres eigenen, von allen anderen streng abgetrennten Blocks und führte am Streiktag eine Demo in eine abgelegene Gegend zum Arbeitsministerium statt zum Parlament durch. Abgesehen von ihrer staats- und gesetzestreuen Fixierung propagiert sie die Wiederbelebung der revolutionären und kommunistischen Bewegung durch eine Art Wiederauferstehung Stalins von den Toten. Noch vor wenigen Wochen verbreitete sie allen Ernstes, die Anklagen und Urteile der Moskauer Prozesse von 1936 – 38 seien vollkommen gerechtfertigt gewesen. Ob diese Diskreditierung der sozialistischen Ideen durch die KP-Führung bewusst oder unfreiwillig erfolgt, ist dabei eher zweitrangig.

Die antikapitalistische Linke

Nur die meisten Organisationen der revolutionären Linken haben die Rebellion der Jugendlichen von Anfang an vorbehaltlos unterstützt, waren bei allen Mobilisierungen mit dabei und haben versucht, die Aktionen mit der ArbeiterInnenbewegung und den Militanten an den Unis in Verbindung zu bringen und ihnen damit eine antikapitalistische Stoßrichtung zu geben. An diesen Aktivitäten beteiligt sich auch die Jugendorganisation des SYN. Bei den außerparlamentarischen Organisationen, die letztes Jahr bei den Wahlen in zwei getrennten Bündnisformationen, MERA und ENANTIA, aufgetreten sind, zeichnet sich in der Revolte eine größere Bereitschaft zur Kooperation ab. Diese praktische Zusammenarbeit und die Verständigung auf einen politisch-programmatischen Rahmen ist dringend notwendig, wenn die revolutionäre Linke ihre Position in den Auseinandersetzungen verbessern und angesichts der einsetzenden weltweiten kapitalistischen Krise die ihr zukommende Rolle spielen will.

Möglicherweise ist es Zufall, dass der Ausbruch der Revolte in Griechenland zeitlich mit dem Beginn der größten ökonomischen Krise seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zusammenfällt. Dieser „Zufall“ ist aber von hoher symbolischer Bedeutung. Die Flamme des griechischen Aufruhrs lodert in gefährlicher Nachbarschaft des Pulverfasses, das durch die ökonomische Krise bereits in Stellung gebracht ist. Entscheidend wird sein, die Dauermobilisierungen in einen andauernden Kampf an den wichtigsten sozialen und politischen Fronten zu verwandeln: in den Unternehmen, an den Schulen und Universitäten und auf der Straße, gegen die Willkür des staatlichen Repressionsapparats, gegen Rassismus und Militarismus, gegen die NATO und den Wahnsinn der immensen Rüstungsausausgaben, für die Rettung der Umwelt. Der revolutionären und antikapitalistischen Linken kommt hierbei eine Schlüsselfunktion zu: Die „Erklärung der offenen Versammlung von Beschäftigten“ (siehe Kasten) vom Tage des Generalstreiks zeigt ungefähr die Umrisse des politischen Konsenses auf, aufgrund dessen die Organisationen der antikapitalistischen Linken agieren können.

Andreas Kloke, Athen
Quelle: RSB/4. Internationale