Gush Shalom: Israels Krieg
Uri Avnery
Aufruf der israelischen Friedensbewegung "Gush Shalom"
25.04.2007
EINE FRAU, eine Immigrantin aus Russland, wirft sich voller
Verzweiflung vor ihr Haus, das von einer Rakete getroffen worden war.
Sie schreit in gebrochenem Hebräisch: "Mein Sohn, mein Sohn!" da sie
glaubte, er sei tot. Tatsächlich war er nur verletzt und ins
Krankenhaus gebracht worden.
Libanesische Kinder, am ganzen Körper verletzt, in Beiruts
Krankenhäusern. Die Beerdigung der Opfer einer Rakete in Haifa. Die
Ruinen eines völlig zerstörten Stadtviertels in Beirut.
Bewohner aus dem Norden Israels fliehen vor den Katjuschas nach Süden.
Bewohner des südlichen Libanon fliehen vor der israelischen Luftwaffe
nach Norden. Tod, Zerstörung. Unvorstellbares menschliches Leid.
Und der abscheulichste Anblick: George Bush sitzt in verspielter
Stimmung auf seinem Stuhl in Petersburg - über ihn gebeugt sein loyaler
Diener Tony Blair, um das Problem zu lösen: "Sieh, was die tun müssen,
ist, die Syrer dahin zu bringen, dass sie die Hisbollah dahin bringen,
mit all der Scheiße aufzuhören - dann wäre endlich Schluss damit."
So sprach der Mächtigste der Welt - und die sieben Zwerge - "die Großen der Welt" - sagten Amen.
Syrien? Doch erst vor wenigen Monaten war es Bush - ja derselbe Bush -
der die Libanesen zwang, die Syrer aus ihrem Land zu jagen. Nun will
er, dass sie im Libanon intervenieren und für Ordnung sorgen?
Vor 31 Jahren , als der libanesische Bürgerkrieg auf seinem Höhepunkt
war, sandten die Syrer - vor allem von den libanesischen Christen
eingeladen - ihre Armee in den Libanon . Zu jener Zeit verursachte der
damalige Verteidigungsminister Peres und seine Verbündeten eine
Hysterie in Israel. Sie verlangten, Israel möge den Syrern ein
Ultimatum stellen, das sie daran hindere, die israelische Grenze zu
erreichen. Yitzhak Rabin, der Ministerpräsident, sagte damals zu mir,
dass dies reiner Unsinn sei, weil es das Beste für Israel wäre, wenn
sich die syrische Armee entlang der Grenze formieren würde. Nur dies
könnte die Ruhe sicherstellen, die gleiche Ruhe, die an der Grenze
Israels zu Syrien herrscht.
Doch Rabin gab der Medienhysterie nach und stoppte die Syrer weit
entfernt von der israelischen Grenze. Das so geschaffene Vakuum wurde
1982 von der PLO gefüllt. Ariel Sharon vertrieb die PLO - und das
Vakuum füllte sich mit der Hisbollah.
All dies, was sich dann dort ereignete, wäre nicht geschehen, wenn wir
den Syrern erlaubt hätten, von Anfang an die Grenze zu besetzen. Die
Syrer sind vorsichtig, sie handeln nicht leichtsinnig.
Was hat Hassan Nasrallah nur gedacht, als er entschied, die Grenze zu
überqueren und eine Guerilla-Aktion durchführen zu lassen, die den
augenblicklichen Hexensabbat verursacht? Warum hat er es getan? Und
warum zu diesem Zeitpunkt?
Jeder hält Nasrallah für eine kluge Person. Er ist auch besonnen. Seit
Jahren hat er einen großen Vorrat an Raketen aller Art angelegt, um
eine Art Terrorbalance herzustellen. Er wusste, dass die israelische
Armee nur auf die Gelegenheit wartete, sie zu zerstören . Trotzdem hat
er eine Provokation ausgeführt, die der israelischen Regierung den
perfekten Vorwand lieferte, den Libanon anzugreifen - mit dem vollen
Einverständnis der Weltgemeinschaft. Warum?
Möglicherweise war er vom Iran und von Syrien, die ihn mit Raketen
ausstatten, aufgefordert worden, etwas zu tun, um den amerikanischen
Druck von ihnen abzulenken. Und tatsächlich hat die plötzliche Krise
die Aufmerksamkeit von den iranischen Bemühungen im Nuklearbereich
abgelenkt. Und es scheint, Bushs Haltung habe sich gegenüber Syrien
verändert.
Aber Nasrallah ist weit davon entfernt, eine Marionette des Iran oder
von Syrien zu sein. Er führt eine echte libanesische Bewegung an und
kalkuliert seine eigene Bilanz des Für und Wider.
Wenn er vom Iran oder von Syrien angefragt worden wäre, etwas zu tun -
wofür es aber keinen Beweis gibt - und er gesehen hätte, dass dies
nicht mit den Zielen seiner Bewegung übereinstimmt, dann hätte er es
nicht getan.
Vielleicht handelte er aus innerpolitischen Gründen. Das libanesische
politische System war stabiler geworden, und es war schwieriger
geworden, den militärischen Flügel der Hisbollah zu rechtfertigen. Ein
neuer bewaffneter Vorfall hätte helfen können. ( Solche Betrachtungen
sind uns keineswegs fremd, besonders nicht vor Budget-Debatten).
Aber all dies erklärt nicht den Zeitpunkt. Nasrallah hätte einen Monat
vorher oder einen Monat später handeln können , ein Jahr vorher oder
später. Es muss einen driftigeren Grund gegeben haben, der ihn davon
überzeugte, genau jetzt in solch ein Abenteuer zu schlittern.
Und tatsächlich diesen Grund gab es: Palästina.
Vor zwei Wochen begann die israelische Armee einen Krieg gegen die
Bevölkerung des Gazastreifens. Auch dort war der Vorwand eine
Guerillaaktion, in der ein israelischer Soldat gefangen genommen wurde.
Die israelische Regierung packte die Gelegenheit beim Schopfe und
führte einen seit langem vorbereiteten Plan aus:
den Widerstandswillen der Palästinenser zu brechen und die neu gewählte
palästinensische Regierung zu zerstören, die von der Hamas dominiert
wird. Und natürlich auch um die Qassams zu stoppen.
Die Operation im Gazastreifen ist eine besonders brutale - und so sieht
es auch auf den Bildschirmen in aller Welt aus. Schreckliche Bilder aus
dem Gazastreifen erscheinen täglich und stündlich in den arabischen
Medien. Tote, Verletzte, Zerstörung . Wassermangel, fehlende
Medikamente für die Verwundeten und Kranken.
Ganze Familien getötet. Kinder schreien in Agonie. Mütter weinen. Gebäude stürzen in sich zusammen.
Die arabischen Regime, die alle von Amerika abhängig sind, kommen nicht
zu Hilfe. Da sie alle von islamischen Oppositionsbewegungen bedroht
sind, schauen sie mit einiger Schadenfreude zu, was gegenüber der Hamas
geschieht. Aber 10 Millionen Araber vom Atlantik bis zum Persischen
Golf sehen zu, regen sich auf und werden über ihre Regierung wütend,
schreien nach einem Führer, der den belagerten und heldenhaften Brüdern
in Palästina zu Hilfe eilt.
Vor 50 Jahren schrieb Gamal Abdel-Nasser, der neue ägyptische Führer,
dass eine Rolle auf einen Helden wartet. Er entschied, selbst dieser
Held zu sein. Jahrelang war er das Idol für die arabische Welt, Symbol
für die arabische Einheit.
Aber Israel nützte eine Gelegenheit und stürzte ihn im Sechs-Tage-Krieg
. Danach stieg Saddam Husseins Stern am arabischen Horizont auf. Er
wagte es, sich gegen das mächtige Amerika zu stellen und Raketen auf
Israel abzuschießen - und wurde so der Held der arabischen Massen. Aber
er wurde vernichtend und in demütigender Weise von den Amerikanern, die
von Israel angespornt wurden, geschlagen.
Vor einer Woche sah sich Nasrallah derselben Versuchung gegenüber. Die
arabische Welt schrie nach einem Helden und er reagierte: Hier bin ich.
Er forderte Israel und indirekt auch die US und die ganze westliche
Welt heraus. Er begann den Angriff ohne Verbündete und wusste, dass
weder der Iran noch Syrien es riskieren würden, ihm zu helfen.
Vielleicht wird er fortgerissen wie Abd-el-Nasser und Saddam vor ihm.
Vielleicht hat er die Gewalt des Gegenangriffes, den er erwartete,
unterschätzt. Vielleicht glaubte er wirklich, dass unter dem Gewicht
seiner Katjuscha-Raketen Israels Etappe zusammenbrechen würde (So wie
die israelische Armee glaubte, die israelische Zerstörung würde das
palästinensische Volk im Gazastreifen und die Schiiten im Libanon
zerbrechen) .
Eines ist klar: Nasrallah hätte diese Gewaltspirale nicht begonnen, wenn die
Palästinenser ihn nicht um Beistand gebeten hätten. Aus kühler
Berechnung oder aus wahrer moralischer Entrüstung oder wegen beidem -
Nasrallah eilte zur Rettung des belagerten Palästinas.
Die israelische Reaktion hätte man erwarten können. Seit Jahren warten
die Armeekommandeure auf eine Gelegenheit, das Raketenarsenal der
Hisbollah zu vernichten und diese Organisation zu zerstören oder sie
wenigstens zu entwaffnen und sie sehr weit weg von der israelischen
Grenze zu befördern. Sie versuchten dies auf die einzige ihnen bekannte
Weise: durch weitreichende Zerstörung, damit die libanesische
Bevölkerung aufsteht und die Regierung zwingt, Israels Forderungen zu
erfüllen. Werden diese Ziele erreicht?
Hisbollah die authentische Vertretung der schiitischen Gemeinschaft,
die etwa 40% der libanesischen Bevölkerung ausmacht. Zusammen mit den
andern Muslimen bilden sie die Mehrheit im Land. Der Gedanke, dass die
schwächliche libanesische Regierung, die auf jeden Fall auch die
Hisbollah einschließt, in der Lage wäre, diese Organisation zu
liquidieren, ist lächerlich.
Die israelische Regierung verlangt, die libanesische Armee solle an der
Grenze entlang aufmarschieren. Dies ist jetzt zu einem Mantra geworden.
Es zeugt von totaler Ignoranz. Die Schiiten haben bedeutsame Positionen
in der libanesischen Armee inne. So gibt es überhaupt keine Chance,
dass sie einen Bruderkrieg gegen sie beginnen werden.
Im Ausland nimmt ein anderer Gedanke Gestalt an eine internationale
Truppe sollte entlang der israelisch-libanesischen Grenze aufgestellt
werden . Die israelische Regierung ist strickt dagegen. Eine wirklich
internationale Truppe - nicht wie die unglückliche UNIFIL, die seit
Jahrzehnten dort ist - würde die israelische Armee daran hindern, das
zu tun, was sie will.
Außerdem: sollte sie dort ohne das Einverständnis der Hisbollah
aufgestellt werden, würde ein neuer Guerillakrieg gegen sie beginnen.
Würde solch einer Truppe - ohne wirkliche Motivation - das gelingen,
was der mächtigen israelischen Armee nicht gelungen ist?
Dieser Krieg mit seinen Hunderten von Toten und Zerstörungswellen wird
höchstens zu einem anderen zerbrechlichen Waffenstillstand führen. Die
israelische Armee wird den Sieg ausrufen und behaupten, sie habe die
"Spielregeln" verändert.
Nasrallah (oder seine Nachfolger) werden behaupten, ihre kleine
Organisation habe sich gegen eine der mächtigsten Militärmaschinen der
Welt erhoben und ein weiteres leuchtendes Kapitel über Heldentum in den
Annalen der arabischen und muslimischen Geschichte geschrieben.
Es wird keine richtige Lösung geben, weil die Wurzel des Übels nicht angegangen wird: das palästinensische Problem.
VOR VIELEN JAHREN hörte ich im Radio eine der Reden von Abd-el- Nasser,
die er vor einer großen Menschenmenge in Ägypten hielt . Er verbreitete
sich über die Errungenschaften der ägyptischen Revolution, als Schreie
aus der Menge kamen:
"Palästina oh, Gamal!" Daraufhin vergaß Nasser über sein angefangenes
Thema zu reden und sprach mit wachsender Begeisterung über Palästina.
Seit damals hat sich nicht viel verändert. Wenn die palästinensische
Sache erwähnt wird, wirft sie ihre Schatten über alles andere. Genau
dies geschah jetzt auch. Jeder, der sich nach einer Lösung sehnt, muss
wissen: es gibt keine Lösung, ohne die Lösung des
israelisch-palästinensischen Konflikts. Und es gibt keine Lösung des
palästinensischen Problems ohne Verhandlungen mit der gewählten
Regierung, einer Regierung, der die Hamas vorsteht.
Wenn jemand ein für alle mal diese Scheiße - wie Bush so delikat formulierte - beenden will, dann geht es nur auf diese Weise.
Aufruf an Europa / CALLING EUROPE!
Ein Appell der israelischen Friedensbewegung "Gush Shalom" an die
Botschaften europäischer Staaten / Israeli patriots and peace
activists: call upon the European Union and its member states
Die israelische Friedensgruppe "Gush Shalom" wandte sich am 7. Juli 2006 mit einem
dramatischen Appell an die europäische Öffentlichkeit. Das Schreiben
wurde an alle Botschaften europäischer Länder in Israel geschickt und
erscheint als bezahlte Anzeige in der "International Herald Tribune".
Wir dokumentieren den "Aufruf an Europa" in einer deutschen Übersetzung.
Aufruf an Europa
Der international gepriesene israelische Abzug aus dem Gazastreifen hat
die Besatzung dort nicht beendet. Sie wurde in Form eines Würgegriffs
über Gazas Verbindungen zur Außenwelt fortgesetzt. Der Gazastreifen ist
in ein riesiges Freiluft-Gefängnis verwandelt worden. Durch die
Weigerung der israelischen Regierung, mit der gewählten
palästinensischen Regierung Gespräche zu führen, blieb jetzt nur noch
ein Dialog übrig, der der Bomben, oft geworfen auf zivile Ziele auf
beiden Seiten der Grenze. Ohne internationale Intervention kommt es zu
einer fast unvermeidlichen Eskalation.
Wir, israelische Patrioten und
Friedensaktivisten, rufen die Europäische Union und ihre
Mitgliedstaaten auf, möglichst auch in Verbindung mit anderen Ländern,
sofort und tatkräftig gegen die bedrohliche israelisch-palästinensische
Krise zu intervenieren. Ganz besonders nötig wäre:
1. Einen Vertreter im Range eines Ministers zu ernennen, um die
Entwicklungen zu verfolgen und die EU zu sofortigen Maßnahmen
aufzufordern, wenn die Situation sie erfordert.
2. Die schweren von Europa der palästinensischen Behörde als Strafe
auferlegten Sanktionen zu beenden, nachdem die Palästinenser ihr
demokratisches Recht, sich selbst eine Regierung zu wählen,
wahrgenommen haben. Die Sanktionen an sich sind schon eine brutale
Intervention zugunsten der Besatzung.
3. Mit der Regierung Israels und dem gewählten palästinensischen
Präsidenten und der palästinensischen Regierung einen ernsthaften
Dialog mit der Absicht aufzunehmen, die gegenwärtige Krise zu beenden
und den Weg für echte, sinnvolle Friedensverhandlungen zu ebnen.
4. Die Grenzunterstützungsmission der EU, die schon erfolgreich am
Rafah-Grenzübergang tätig ist, auf alle Grenzübergänge zwischen Israel
und dem Gazastreifen zu erweitern, um den regelmäßigen Transport von
Lebensmitteln, Medikamenten und anderen Waren in beiden Richtungen
sicherzustellen, unabhängig von politischen und militärischen
Entwicklungen.
5. Als permanenter Vermittler bei akuten Krisen, wie z.B. im Falle
des israelischen Kriegsgefangenen Gilad Schalit, einzugreifen.
6. Beiden Seiten eine permanente, europäische, friedenserhaltene Truppe zwischen dem Gazastreifen und Israel anzubieten.
7. Die Einberufung einer internationalen Konferenz zur Beendigung
des israelisch-palästinensischen Konfliktes in Betracht zu ziehen.
Europa kann es sich nicht leisten, sich in Schweigen zu hüllen.
Weitere Informationen und Kontakt: www.gush-shalom.org
Übersetzung: Ellen Rohlfs
Quelle: ZNet Deutschland 18.07.2006
30-07-2006, 12:28:00 |Uri Avnery