Großbritannien: Gewerkschaften in der Krise
Gregor Gall
Die britische Gewerkschaftsbewegung erlebt seit Jahrzehnten einen dramatischen Verlust an Mitgliedern, an Verhandlungsposition und an politischem Einfluss. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad betrug 2004 28,8%, 1979 waren es noch 55%.
25.04.2007
Doch es reicht schon lange nicht mehr aus, den Niedergang nur zu
beklagen und ansonsten die Labour Party wieder an die Regierung zu
bringen. Es braucht Strategien, die die Gewerkschaftsbewegung aus ihrer
Dauerkrise herausführen. Das erfordert auch die Benennung der
gesellschaftlichen Kräfte, die solche Strategien durchsetzen können.
Es gibt viel zu viele wohlwollende Kommentatoren, die gute Ratschläge
geben, was die Gewerkschaften tun sollten in Bezug auf die
Sozialpartnerschaft, die Organisierung von Mitgliedern, das
Arbeitsrecht, den gewerkschaftlichen Widerstand, den Klassenkampf oder
Wiedergewinnung der Labour Party für die Bewegung. Die Gewerkschaften
sind keine einheitliche Formation, der man befehlen kann, dies oder
jenes zu tun. Sie sind eine Summe aus Mitgliedern, Aktiven und
Funktionären, die auf verschiedenen Ebenen und mit verschiedenen
ideologischen Einstellungen agieren.
Den vorgeschlagenen Strategien fehlt es oft an Glaubwürdigkeit, weil
ihre Verfechter nicht über die sozialen Kräfte verfügen, die fähig
wären, Arbeiter, Gewerkschaften, Parteien, Unternehmer, die Regierung,
den Staat zu zwingen so zu handeln, wie sie es wünschen. Im
Wesentlichen fordern sie andere zum Handeln auf.
Damit kommen wir zur Frage der Aktiven in den Gewerkschaften selbst.
Vor zwanzig oder dreißig Jahren gab es etwa 500.000 Shop Stewards und
Vertrauensleute, die eine aktive Präsenz der Gewerkschaft an den
meisten Arbeitsplätzen garantierten. Bezirkskomitees waren relativ
verbreitete und lebendige Einrichtungen. Dadurch konnten Beschäftigte
aus verschiedenen Gewerkschaften miteinander in einen lebendigen
Kontakt treten. Mittlerweile gibt es nur noch 230.000 ehrenamtlich
Aktive. An vielen Arbeitsplätzen gibt es keine aktiven
Gewerkschaftsvertreter mehr. Die Grundlagen der Gewerkschaftsbewegung
sind brüchig geworden. Oft ist es schwierig, noch von einer lokalen
Gewerkschaftsbewegung zu sprechen, wenn die früheren funktionierenden
Netzwerke verkümmert sind.
Dieser Zustand ist nicht nur eine Frage der Quantität, d.h. der Zahl
der Aktiven und ihres Aktivitätsgrads. Es gibt auch noch einen
qualitativen Aspekt. Er betrifft im wesentlichen ihre Motivation und
die Ziele, die sie verfolgen. Alle Gewerkschaftsaktiven werden vom
Kampf gegen Ungerechtigkeit am Arbeitsplatz motiviert, manche auch vom
Bestreben nach sozialer Gerechtigkeit außerhalb des Arbeitsplatzes. Und
manche haben eine Weltsicht von sozialer Demokratie und Sozialismus.
Das wirft ein paar wichtige Fragen auf.
Erstens sind nicht alle Gewerkschaftsmitglieder, die am Arbeitsplatz
oder darüber hinaus soziale Gerechtigkeit anstreben, auch aktiv. Auf
der niedrigsten Ebene der ideologischen Selbstmotivierung und Aktivität
von Gewerkschaftsmitgliedern steht die Suche nach Vertretung und
Schutz. Die kollektive Versorgung erkaufen sie sich im Wesentlichen
individuell. In der Vergangenheit führte ein stärkeres Kollektiv- und
Solidaritätsbewusstsein unter den Beschäftigten dazu, dass mehr
Gewerkschafter kollektiv dachten und handelten.
Zweitens ist es zunehmend so, dass die meisten gewerkschaftlich Aktiven
eben nur dies sind. Früher waren sie typischerweise auch in der Labour
Party, der KP oder verschiedenen trotzkistischen Gruppen organisiert.
Und wer von ihnen nicht Mitglied einer solchen Organisation war, befand
sich zumeist in deren Umfeld. Durch die mittlerweile geringere
ideologische Bindekraft finden gewerkschaftliche Aktivitäten von
Nichthauptamtlichen zunehmend isolierter und auf individuellerer Ebene
statt. Darüber hinaus hat sich die Konzentration der
Gewerkschaftsbewegung auf den Arbeitsplatz gerade zu einer Zeit
verschärft, als ihre nachlassende betriebliche Verankerung eine
stärkere Orientierung nach außen auf andere soziale Bewegungen
nahegelegt hätte.
Drittens hat auch das linke Milieu (Labour, KP, Trotzkisten) deutlich
abgenommen, was unter den nach wie vor politisch motivierten
Gewerkschaftsaktiven Demoralisierung und Desillusionierung nach sich
gezogen hat. Das ist ein Hindernis auch für diejenigen, die potenziell
Zugang zu diesem Milieu finden könnten.
Viertens bedeutete der Niedergang politisch motivierter
gewerkschaftlicher Aktivität auch, dass die Verbindungen zwischen
verschiedenen Beschäftigten, Gewerkschaften oder Kampagnen nun deutlich
schwächer sind. In manchen Gebieten gibt es sie gar nicht mehr.
Aus der Sicht der (hauptamtlichen) Gewerkschaftsführung ist die
Rekrutierung von Mitgliedern für die Gewerkschaft ein rationaler,
dennoch notwendigerweise begrenzter und technokratischer Versuch, ein
drängendes Problem zu lösen. Das Problem geht aber in Umfang und
Komplexität über die reine Mitgliedergewinnung hinaus. Die Shop
Stewards und die ehrenamtlich Aktiven des vergangenen Goldenen
Zeitalters repräsentierten Kader einer aufsteigenden sozialen Bewegung.
Solch eine soziale Bewegung kann nicht auf bürokratische Weise — von
oben — aufgebaut werden. Woher aber können die neuen Kräfte kommen?
Neue soziale Bewegungen
Könnte eine Wiederbelebung der Sozialdemokratie dem politisch
inspirierten Engagement in den Gewerkschaften neue Kräfte zuführen?
Dafür bestehen derzeit keine Aussichten — trotz der anhaltenden
Schwäche von New Labour vor und nach den Parlamentswahlen von 2005 und
dem fortgesetzten Niedergang der Sozialdemokratie. Vor einigen Jahren
wurde das Labour Representation Committee (LRC) lanciert, doch nach der
Beteiligung an seinen jährlichen Konferenzen und der Anzahl der ihm
angeschlossenen Organisationen und Ortsgruppen zu urteilen, scheint es
damit nicht recht voranzugehen. Es existiert real nur als jährliche
Konferenz und als Netzwerk linker Parlamentsabgeordneter und
Gewerkschaftsfunktionäre.
Wären Gewerkschafter in der Lage, sich die Strukturen der
Sozialdemokratie wirksam wieder anzueignen, weil sie begreifen, dass
die Gewerkschaftsbewegung auch eine effiziente politische Kraft werden
muss, könnte dies die Anzahl der politisierten gewerkschaftlich Aktiven
erhöhen.
Auf diesem Weg gibt es jedoch so viele Wenn und Aber und sein Verlauf
hängt von so vielen anderen Ereignissen ab, dass er eher
unwahrscheinlich erscheint. Die wenigen Anzeichen eines politischen
Wiedererwachens der Sozialdemokratie in den Gewerkschaften, wie bspw.
das LRC, müssen noch durch ein effektives intellektuelles Projekt und
ein soziales Gewicht verstärkt werden. Keiner der neuen
Generalsekretäre hat eine politische Vision um eine alternative
ökonomische Strategie entwickelt, um seine progressiven Positionen in
verschiedenen Fragen zu stützen. Die Positionen der TGWU und die
Beiträge von Tony Woodley in Guardian, Morning Star und Tribune sind
keine glaubwürdige linke Vision. Diese Aufgabe obliegt Bob Crowe, Mark
Serwotka und Matt Wrack als Linke außerhalb der Labour Party.
Eine potenzielle Quelle sind die Aktiven der
Antiglobalisierungsbewegung, die hoch motiviert und erfahren in neuen
Formen kollektiven Handelns sind. Eine sich damit zum Teil
überschneidende weitere Quelle sind die progressiven Bestrebungen, die
in Stadtteilkomitees, Mieterorganisationen usw. zum Ausdruck kommen.
Können solche Aktivisten für die Gewerkschaftsbewegung rekrutiert
werden? Nicht ohne große Schwierigkeit, lautet die einfache Antwort.
Erstens ist es unwahrscheinlich, dass sie für die Gewerkschaften bei
deren gegenwärtigem Zustand rekrutiert werden können. Das Problem ist
dabei nicht nur, dass die Gewerkschaften "zu weiß, zu männlich und
verbraucht" sind, sondern dass es einen Mangel an Autonomie der
örtlichen Gewerkschaftsstrukturen gibt, in denen diese neuen Aktivisten
agieren würden, und eine Orientierung der Gewerkschaften auf breitere,
kommunale Belange fehlt. Die Gewerkschaften müssten diesen Aktivisten
deshalb auf halbem Wege entgegenkommen.
Bislang haben sich die Gewerkschaften nur sehr begrenzt auf die neuen
sozialen Bewegungen eingelassen. Im Allgemeinen sind Ziele und
Schwerpunkte von Gewerkschaften und neuen Bewegungen verschieden.
Letztere verfechten sowohl ehrgeizigere als auch bescheidenere Ziele
als die Gewerkschaften. Aber es gibt eine gewisse Überlappung, wenn die
Gewerkschaftsbewegung es schafft, sich wieder als soziale
Befreiungsbewegung neu zu formieren. Die kollektiven Interessen der
Mitglieder als Produzenten, Konsumenten und Bürger würden somit breiter
bestimmt und ihnen mit Gleichheit, Demokratie, sozialer Gerechtigkeit
und Freiheit ein umfassendes Wertesystem unterlegt.
Der Autor ist Dozent an der University of Hertfordshire und Mitglied der Scottish Socialist Party in Edinburgh.
(Übersetzung: Hans-Günter Mull, SOZ: www.soz-plus.de)