die Linke

Menüpfad zur ausgedruckten Seite: Home Artikel International Griechenland: "Die ersten Toten, Dünger der Freiheit" (Mikis Theodorakis)
Adresse: https://dielinke.at/artikel/international/griechenland-die-ersten-toten-dunger-der-freiheit-mikis-theodorakis/

Griechenland: "Die ersten Toten, Dünger der Freiheit" (Mikis Theodorakis)

Am 6. Dezember erschoss der Polizist Epaminondas Korkoneas den 15-jährigen Schüler Alexis Grigoropoulos und löste damit eine wochenlange Welle der Revolte der prekarisierten Jugend aus. Diese Polizeikugel zerfetzte auch das Image des "modernen Hellas".

28.01.2009

"Den Banken Geld, der Jugend Kugeln, es ist die Stunde gekommen, wo unsere Tage beginnen"
Parole bei den Demonstrationen der Schüler und Studierenden


Der Todesschütze Korkoneas, Beamter einer Sondereinheit, ließ nach seiner Tat eine schriftliche Erklärung verbreiten, in der er dem Opfer Alexis Grigoropoulos ein sozial auffälliges Verhalten unterstellte und behauptete, dieser sei von der Schule verwiesen worden. Ein Wort des Bedauerns fand Korkoneas nicht.
Nichts von seinen Behauptungen trifft freilich zu: Grigoropoulos war nur zufällig mit einem Freund am Tatort, er hatte keine Beziehungen zu politischen Gruppen, schon gar nicht zu anarchistischen.
Warum der Todesschütze überhaupt seine Waffe gezogen hat, um – nach eigenen Angaben – drei Warnschüsse abzugeben, ist bisher ungeklärt. Ebenso ist unklar, wie ein Warnschuss in die Luft zu einem Querschläger werden kann. Jede der gut zwanzig Zeugenaussagen von Anwohnern und von Nikos R., der Grigoropoulos begleitet hat, sagt aus, Korkoneas habe den Schüler aus 20 Metern Entfernung niedergeschossen. Das Video, das ein Anwohner aufgenommen hat, zeigt, wie die beiden Polizisten nach den Schüssen in aller Ruhe zu ihrem Dienstwagen zurückgehen. Auf eine unübersichtliche Situation, gar auf eine der vermeintlichen Notwehr, gibt es keinerlei Hinweise.
Der Proteststurm, den Korkoneas' Erklärung auslöste, lässt sich in der Aussage zusammenfassen, nun sei Alexis Grigoropoulos zum zweiten Mal erschossen worden. Die "dreiste" und "provokative" Stellungnahme des Polizisten (so die linksliberale Tageszeitung To Ethnos) hätte jedoch nicht treffender zum Ausdruck bringen können, mit welcher Ignoranz und Realitätsverweigerung Regierung und Behörden auf die gesellschaftlichen Verwerfungen des heutigen Griechenland reagieren: Wer sich nicht konform verhält, und sei es nur durch den Aufenthalt im "falschen" Stadtteil, offenbart ein abnormes Verhalten, ist ein potenzieller Chaot und Staatsfeind. Gegen ihn muss die Staatsmacht mit aller Härte vorgehen, um die Normalität zu sichern.
Die Forderung nach Normalität war freilich immer fragwürdig, mittlerweile sind jedoch die gesellschaftlichen Verhältnisse, auf die sie sich bezieht, längst Geschichte. Den Jugendlichen von heute ist die Möglichkeit, sich durch Bildung einen Platz in der Gesellschaft zu erobern, längst genommen worden. Die Mehrheit der griechischen Schülerinnen und Schüler steckt in einer Tretmühle zwischen Schule und privatem Nachhilfeunterricht, für die manche Eltern bis zu 500 Euro im Monat aufbringen. Dass sich viele Eltern für die Ausbildung ihrer Kinder verschulden, ebnet diesen jedoch immer weniger den Weg in eine auskömmliche Zukunft. Selbst wer die Universität, die im Rahmen des Bologna-Prozesses immer stärker verschult wird, durchläuft, findet oftmals nur Aushilfsjobs.
Mittlerweile kursiert der Begriff der "700-Euro-Generation". Es ist deshalb auch nicht ein veraltetes Bildungssystem, das Schüler und Studierende auf die Barrikaden treibt, wie Christiane Schlötzer in der Süddeutschen Zeitung mutmaßt, sondern im Gegenteil dessen zunehmende "Modernisierung" unter den europäischen Maßgaben.
Diese Entwicklung ist in ihrer Grundstruktur keineswegs spezifisch griechisch; das Phänomen der Prekarisierung ist ein Kennzeichen des globalen Kapitalismus. Die strukturelle Arbeitslosigkeit ist die Knute, mit der überall die Rechte der lohnabhängigen Mehrheit der Bevölkerung demontiert werden und systemkonformes Verhalten erzwungen wird. Dies ist ein Grund dafür, warum die Aufstände in Griechenland weltweit Besorgnis in den Oberschichten ausgelöst haben. Denn obwohl sich die Weltökonomie erst am Beginn einer langen Depression befindet, ist die soziale Krise längst da. Es ist nicht der "griechische Sonderweg", der sich in der Revolte zeigt. Vielmehr handelt es sich bei der Rebellion um einen Ausdruck der griechischen Form der neoliberalen "Modernisierung".

"Batsos", Schläger

Die Heftigkeit, mit der die griechischen Jugendlichen auf den Tod von Alexis Grigoropoulos reagiert haben, speist sich aus spezifisch griechischen Traditionen. Der dem umgangssprachlichen deutschen "Bulle" entsprechende griechische Ausdruck "Batsos" bedeutet soviel wie "Schläger". Die türkische Wurzel des Wortes verweist nicht nur auf die jahrhundertealte Erfahrung der Fremdherrschaft, sondern auch auf den Klassencharakter des Staates: Es sind die Schläger einer Obrigkeit, die keine Legitimität beanspruchen kann, sondern die Privilegien einer schmalen Oberschicht gegen die Mehrheit der Bevölkerung sichern muss. Willkürliche Gewalt staatlicher Organe hat in Griechenland eine lange Tradition.
Das autoritäre Nachkriegsregime fußte auf dem Terror der faschistischen Sicherheitsbataillone (Tagmata Asfalias) gegen die Linke, die im Bürgerkrieg von 1946 bis 1949 aufgrund der britischen-amerikanischen Intervention eine traumatische Niederlage erlitten hatte. Der Versuch einer Demokratisierung des Nachkriegsregimes auf parlamentarischem Wege in den 60er Jahren scheiterte am Putsch der Obristen, die sich der Rückendeckung durch die USA und Westeuropa sicher sein konnten. Die linksliberale Zentrumsunion hatte ihre Wahlerfolge auf die außerparlamentarischen Kämpfen der sog. Iouliana 1965 gegründet, die ebenso wie jede andere demokratisch-soziale Bewegung gnadenlos von der Polizei verfolgt wurde. Vassilis Vassilikos hat in seinem von Costa-Gavras verfilmten Roman Z über die Ermordung des linken Parlamentsabgeordneten Grigoris Lambrakis den Geist jener Jahre treffend eingefangen.
Die Junta der Obristen von 1967 bis 1974 stellt eine der dunkelsten Perioden der neueren griechischen Geschichte dar. Das Regime konnte sich nur durch exzessiven Polizeiterror gegen alle innenpolitischen Gegner behaupten. Ein Großteil der griechischen Kultur fiel der Zensur zum Opfer und wurde durch Marschmusik und einen dumpfen Antikommunismus ersetzt, der sich gegen jegliche soziale oder politische Abweichung richtete.
Das Ende der Diktatur läutete der Aufstand der Studenten an der Polytechnischen Hochschule ein, der schnell auf die gesamte Hauptstadt übergriff und von den Obristen mit Panzern blutig niedergeschlagen wurde. Zur Erinnerung an dieses Ereignis ziehen jedes Jahr am 17.November Tausende von Menschen von der Polytechnischen Hochschule zur US-Botschaft. Es ist auch ein Erbe dieser Erfahrungen, dass die Polizei bis heute das Universitätsgelände außer bei unmittelbarer Verfolgung von schweren Straftaten nicht betreten darf.

Ein statistisch zu erwartendes Ereignis

Dieses universitäre Asyl war insbesondere in den letzten Jahren wieder hart umkämpft, wurde es doch bei Demonstrationen dazu genutzt, vor der Polizei Zuflucht zu suchen. Doch solange die Erfahrungen mit der Junta tief im kollektiven Gedächtnis verankert sind, wird es kaum eine Abschaffung dieses Rechts geben. Die Ohnmacht, mit der die Regierung auf die Unruhen nach dem 5.Dezember reagierte, war der Unmöglichkeit geschuldet, die Revolte ohne Blutvergießen zu unterdrücken. Eine offensive Repression hätte die Unruhen weiter eskaliert und den unmittelbaren Zerfall des politischen Systems eingeleitet.
Keine griechische Regierung hätte den exzessiven Einsatz der Sondereinheiten der Polizei (der MAT) oder gar der Armee gegen die eigene Bevölkerung riskieren können, ohne ihr eigenes Ende und eine Systemkrise heraufzubeschwören. Dennoch kam es zu einem selten dagewesenen Polizeieinsatz. In den Tagen nach dem Todesschuss wurden vier Tonnen Tränengas und Blendgranaten gegen die revoltierende Jugend eingesetzt.
Die in bundesdeutschen Medien vertretene These, die griechische Polizei hätte den "Anarchisten" nur konsequent entgegentreten müssen, um die Revolte zu verhindern, ist daher abwegig. Generell ist diese These ohnehin falsch, von einer nachgiebigen Polizei kann in Griechenland keine Rede sein. Das Gegenteil ist der Fall. In den letzten Jahren hat es eine ganze Reihe von Toten durch die immer hemmungsloser operierende Polizei gegeben.
Äußerst militante Zusammenstöße zwischen der MAT und protestierenden Arbeitern, Schülern, Studenten oder Bauern gehören mittlerweile wieder zur politischen Kultur Griechenlands. Einheiten der MAT sind 1995 sogar einmal gegen protestierende Rentner mit Schlagstöcken vorgegangen. Der damalige Innenminister Papathemelis rechtfertigte das Vorgehen seinerzeit mit der grotesken Behauptung, die Rentner hätten eine Polizeikette durchbrechen wollen, und machte sich damit zum Gespött der Öffentlichkeit.
Unter dem Eindruck der Revolte verurteilen nun auch Teile des Establishments wie der Senat der Panteion-Universität die "Willkür der Polizeiorgane" und fordern eine "Demokratisierung der staatlichen Institutionen" und eine "gesellschaftliche Kontrolle" der Polizei.

Anarchisten?

Die Berichterstattung im Großteil der bundesdeutschen Medien kennzeichnete im Wesentlichen desinteressierte Fehlinformation. Nirgendwo tauchte die Frage auf, warum es diese große Wut auf die Polizei gibt. Allein der zahlenmäßige Umfang der Protestierenden und die Heftigkeit der spontanen Proteste selbst in Provinzstädten wie Ioannina, Mytilini oder Kosani hätte nahegelegt, die Urheber der Revolte nicht nur unter Anarchisten zu suchen.
Es waren zuerst Jugendliche auf Korfu, die eine Polizeiwache attackierten, und in Athen versammelten sich protestierende Schüler auch in zentrumsfernen Stadtteilen vor Polizeiwachen, auch dort kam es zu Ausschreitungen. Da wurde der an die Polytechnische Hochschule grenzende Stadtteil Exarchia als rechtsfreie Zone bezeichnet, während in der griechische Presse von einem "kathestos stratokratias" (wörtlich: Regime Militärherrschaft) die Rede ist.
Seit längerem fordert eine lokale Bürgerinitiative den Abzug der Sondereinheiten der Polizei, weil diese für die ständige Unruhe im Stadtteil verantwortlich gemacht wird. Die Regierung Karamanlis hat polizeilicher Willkür bis hin zum Einsatz von Schusswaffen bedenkenlos Tür und Tor geöffnet, sodass Elevtherotypia,die wichtigste linksliberale Tageszeitung, in Bezug auf die tödliche Polizeikugel von einem "statistisch zu erwartenden Ereignis" sprach. Die These von einer schlecht ausgebildeten Polizei ist daher mehr als schief; vielmehr ist die Polizei durchaus "professionell" der Logik der Eskalation der Regierung gefolgt.
Medienvertreter und Politiker haben versucht, aus dem Polizeiopfer einen Anarchisten zu machen; der Umstand, dass Alexis Grigoropoulos' Mutter ein Juweliergeschäft hat und vom Vater getrennt lebt, wurde herangezogen, der Revolte ihren sozialen Charakter abzusprechen und die "Anarchisten" zu einem Phänomen überdrüssiger Kinder aus Mittelschichtfamilien umzudeuten. Schon Mitte der 90er Jahre kursierten derartige Thesen.
Ironisierend unterschrieb eine anarchistische Gruppe ihre Flugzettel daher mit "Kinder aus kaputten Familien". Nun sind alle Versuche, die gesellschaftlichen Widersprüche zuzudecken, gescheitert: Es sind keine Migrantenkinder wie in Frankreich oder fehlgeleitete subkulturelle Minderheiten, sondern ganz normale Jugendliche aus der Arbeiter- und Mittelschicht, die dagegen rebellieren, dass man ihnen die Zukunft raubt.

"Die ersten Toten, Dünger der Freiheit" – diese Zeile aus einem von Mikis Theodorakis vertonten Gedicht von Alekos Panagoulis klingt beim ersten Hören brutal, reflektiert aber eine griechische Erfahrung – und bewahrt die Hoffnung, dass die Toten nicht umsonst gestorben sind.

Gregor Kritidis
(Quelle: SoZ)

Weitere Infos auch in deutscher Sprache auf der website der OKDE (griechische Sektion der 4. Internationale)