Gaza: Etappen eines Zerstörungswerks
Der nächste Militärschlag gegen den Gazastreifen steht unmittelbar bevor, und israelische PolitikerInnen aller Lager und Militärs übertreffen sich in Spekulationen, was der Angriff alles bewerkstelligen sollte: Gaza auszulöschen, die Hamas-Führung zu enthaupten, die Verantwortung für Gaza an Ägypten abzuwälzen...
22.03.2008
Eines wird sicher gelingen: die Bevölkerung, deren Lebensbedingungen schon heute katastrophal sind, weiter zu terrorisieren. Politisch ist Gaza für Israel allemal eine Erfolgsgeschichte, und die hat vor sechzig Jahren ihren Ausgang genommen.
Von den 1,5 Millionen Menschen, die im Gazastreifen leben, sind zwei Drittel Flüchtlinge, rund die Hälfte davon lebt in Flüchtlingslagern. Die meisten kommen aus Dörfern und Städten in der Nähe des Gazastreifens auf heutigem israelischen Staatsgebiet, die zwischen November 1947 und Juni 1949 von zionistischen Einheiten zerstört und entvölkert wurden: Allein im Bezirk Gaza wurden 46 Ortschaften geschliffen und rund 80 000 Menschen vertrieben, im Bezirk Beerscheba rund 80 Beduinensiedlungen zerstört und 90 000 Menschen vertrieben.
Nach internationalem Recht müsste Israel all diesen Flüchtlingen und ihren Nachkommen die Rückkehr erlauben und sie für erlittene Verluste entschädigen. Formell wird dies auch von der UNO nach wie vor bekräftigt. De facto gilt für Israel aber seit langem eine Sonderbehandlung. Was heute bestenfalls gefordert wird, ist die Lockerung eines willkürlichen Grenzregimes, um die extremsten Auswüchse der israelischen Abriegelungspolitik abzumildern. Doch kaum jemand, von den Regierungen und Medien angefangen bis tief in die Linke und die Solidaritätsbewegung, wagt Israel heute noch zuzumuten, von seinem Verständnis als Staat mit garantierter jüdischer Mehrheit abzurücken und eine säkulare, multiethnische, demokratische Gesellschaft zuzulassen.
Auch die Verpflichtungen, die Israel seit 1967 als Besatzungsmacht erwachsen, werden kaum noch eingefordert. Dies war auch eines der deklarierten Ziele für den Räumungsplan der zwölf Siedlungen im Gazastreifen vor zwei Jahren. Doch Israel übt nach wie vor die volle Kontrolle über das gesamte Gebiet aus: militärisch durch die Überwachung von Luft, Land und Wasser, Militäroperationen aller Art, gezielte Tötungen und willkürliche Verhaftungen politischer GegnerInnen, die Infiltrierung durch Spitzel und die Kooption der Fatah-Führung um Präsident Abbas; wirtschaftlich und sozial, indem insbesondere in den letzten 15 Jahren jede eigenständige Entwicklung systematisch unterbunden wurde. Dies wurde nicht zuletzt durch das Oslo-Abkommen (1993) begünstigt, das ein wichtiger Schritt in Richtung weiterer Aneignung von Land und der Schaffung von Enklaven mit dichter palästinensischer Bevölkerungskonzentration war.
Israel kontrolliert alle wichtigen Ressourcen (Wasser, Energie) und Bewegungen (Kapital, Waren, Personen) und nutzt Gaza nur noch als geschützten Absatzmarkt für seine Produkte aus. Als Besatzungsmacht wäre Israel für das Wohlergehen der Bevölkerung des Gazastreifens zuständig, doch das langfristige Ziel ist es, möglichst viele PalästinenserInnen loszuwerden und sich ihr Land definitiv anzueignen. Trotz dringlicher Appelle von Institutionen wie UNRWA, International Crisis Group, IKRK, UN-Menschenrechtsbeobachtern und selbst der Weltbank verfolgt Israel weiter eine Politik des De-development, um einen Begriff der Ökonomin Sara Roy aufzugreifen, also der gezielten Verelendung und Verhinderung jeglicher gesellschaftlichen Perspektive. Auch diese Strangulierungspolitik stösst auf keinerlei substanziellen Widerstand, mit Ausnahme der betroffenen Bevölkerung selbst.
Die Räumung der Siedlungen im Gazastreifen gab Israel einen größeren Spielraum für die Repression, der seither auch genutzt wird, etwa durch Bombardierungen und psychologischen Terror mittels Überschallflügen oder die weitgehende Unterbindung jeder direkten Verbindung nach Israel und in die Westbank. Mit dem Boykott und dem finanziellen Aushungern der gewählten Hamas-Regierung und der Sabotage aller Versuche, eine Einheitsregierung zu bilden, ist ein weiterer Schritt getan, einer unabhängigen palästinensischen Nationalbewegung jede Legitimität zu entziehen; auch dies mit offener Unterstützung des Westens.
Für die humanitäre Krise, die sich in Gaza vor unseren Augen abspielt, trägt Europa klare Mitverantwortung – nicht nur durch seine schweigende Komplizenschaft, sondern durch die aktive Parteinahme für Israel, mit dem auf wirtschaftlicher, militärischer, wissenschaftlicher und kultureller Ebene ein intensiver, privilegierter Austausch gepflegt wird. Das Ende der Naqba, der Zerstörung der palästinensischen Gesellschaft im Gazastreifen wie auch in Israel selbst und in der Westbank, ist erst zu erwarten, wenn Israel von außen massiv unter Druck gesetzt wird. Die EU als wichtigster Handelspartner Israels könnte ein Hebel dafür sein, wenn sie sich dem palästinensischen Aufruf zu Boykott, Desinvestition und Sanktionen anschließen würde.
Birgit Althaler