Fußball-WM in Südafrika: Was bleibt, ist ein Berg Schulden
Viele SüdafrikanerInnen hoffen verzweifelt, dass die verblassenden Farben der «Regenbogennation» wieder aufgefrischt werden und nach einem Jahrzehnt der Enttäuschungen und chronischer sozialer Spaltungen, die durch die schändlichen xenophoben Ausschreitungen der letzten beiden Jahre noch hässlicher geworden sind, wieder ein Gefühl der nationalen Einheit und des sozialen Zusammenhangs entsteht. Aber auch weil es das erste Mal ist, dass dieses Spektakel der populärsten Sportart, die weltweit hauptsächlich von jungen Menschen aus der ArbeiterInnenklasse betrieben wird, in Afrika stattfindet, herrscht große Aufregung.
02.07.2010
Mit der Regenbogennation ist es vorbei, das kann auch die WM nicht verhehlen. Es ist verständlich, dass in Südafrika wegen der Fußball-WM große Aufregung herrscht. Immerhin ist es das erste Mal, dass dieses Spektakel der populärsten Sportart, die weltweit hauptsächlich von jungen Menschen aus der ArbeiterInnenklasse betrieben wird, in Afrika stattfindet. Verständlich auch, dass die südafrikanische Regierung und, in vielleicht geringerem Maße, die meisten anderen afrikanischen Regierungen, der «Welt zeigen» wollen, dass Afrika wie alle anderen auch in der Lage ist, die «größte Show der Welt» aufzuführen.
Die Superlative werden leichthin geäußert und weisen auf einen bedeutenden Aspekt dieses Ereignisses – nämlich den Auftrieb für den nationalen und «Rassen»-Stolz in einer Welt, die trotz zahlreicher Katastrophen wie dem Völkermord in Rwanda 1994 nach wie vor dem Denken in «Rassen»-Kategorien verhaftet bleibt. Für einen Kontinent, der in jeder vorstellbaren Weise während der gesamten kapitalistischen Epoche der Weltgeschichte stigmatisiert und verleumdet wurde, ist der Beweis, die gleichen Leistungen erbringen zu können – nach welchem Qualitäts- und Wertmaßstab auch immer –, eine Sache, von der die Eliten hoffen, dass er dieses Vorurteil zunichte machen wird. Keiner weiß das besser als FIFA-Chef Sepp Blatter, der stets auf dieser Klaviatur spielt, wenn er vor einem afrikanischem Publikum spricht. Die politische und auch die kulturelle Bedeutung dieses Faktors liegt auf der Hand.
Darüber hinaus hoffen viele SüdafrikanerInnen verzweifelt, dass die verblassenden Farben der «Regenbogennation» wieder aufgefrischt werden und nach einem Jahrzehnt der Enttäuschungen und chronischer sozialer Spaltungen, die durch die schändlichen xenophoben Ausschreitungen der letzten beiden Jahre noch hässlicher geworden sind, wieder ein Gefühl der nationalen Einheit und des sozialen Zusammenhangs entsteht. Viele hoffen, dass dieses Megaevent den Geist der nationalen Einheit aus den ruhmreichen Tagen der 70er und 80er Jahre zurückbringen, als ein nicht nach «Rassen» getrennter Sport unter Führung des South African Council on Sport (SACOS) die verschiedenen Tendenzen der Befreiungsbewegung zusammenhielt und die Sportteams des Apartheid-Südafrika in der ganzen Welt mit Hilfe der Anti-Apartheid-Bewegung isolierte.
40 Milliarden Rand Kosten
Die Wahrheit offenbart sich jedoch auf der Ebene der politischen Ökonomie der Weltmeisterschaften – und sie steht im Gegensatz zu den von den Medien verbreiteten Märchen. Zitieren wir eine Quelle, die gewiss nicht einseitig für die Interessen der städtischen und ländlichen Armen Partei ergreift, die meistgelesene Tageszeitung in Südafrika:
«Ungeachtet wie gut unsere WM ist und wie sehr ich persönlich das Schauspiel genießen werde, kann ich doch nicht glauben, dass es die über 40 Mrd. Rand wert sein wird, die wir dafür gezahlt haben. Ich sehe die bedrückende Armut der großen Mehrheit der Menschen in diesem Land und habe Mühe, für sie den fühlbaren Wert irgendeines der ‹Vorteile› zu erkennen, den diese WM bringen soll. Ich kann leicht sehen, wie ich – als sorgenfreie Person der Mittelschicht, die gerne reist – von breiteren Autobahnen, schicken Flughäfen und schnellen Zügen profitiere. Was mir dabei entgeht, ist, was diese Dinge und auch die Stadien, die nie wieder voll ausgelastet sein werden, für hohlwangige Arbeitssuchende, AIDS-Waisen und arme Kinder, deren Leben durch eine minderwertige Erziehung zunichte gemacht wird, ausmachen können.» (Quentin Wray, Business Report, 31. Mai 2010.)
Die Ungleichheit der Vorteile, die aus der WM erwachsen, ist so offensichtlich, dass sie sogar einen liberalen Journalisten dazu bewegt, vor dem Hurrapatriotismus zu warnen, der die Leute blind zu machen scheint vor der realen Plünderung des Staates und der Ausbeutung der Arbeiter, die das Kennzeichen noch ein jeder Fußball-WM gewesen ist. Viele Linke hoffen deshalb, dass das Megaevent ein Schlaglicht auf die tiefe soziale Kluft in Südafrika wirft, dem Land mit der größten Spanne zwischen Arm und Reich.
Hauptnutznießer sind natürlich die FIFA, die Familie Blatter und die kapitalistischen Firmen, die an der Ausbeutung beteiligt sind und hoffen, damit der globalen Rezession entgegenzuarbeiten. Der FIFA ist ein Profit von etwa 3,3 Mrd. US-Dollar sicher. Das ist ein großer Sprung im Vergleich zur WM 2006, als sie Deutschland mit 1,9 Mrd. Dollar verließ und dem lokalen Organisationskomitee nur 80 Mio. Dollar übrig blieben.
Betrachten wir noch einige andere relevante Statistiken – sie illustrieren nämlich das Ausmaß der Täuschungen, die hinter dem «schönen Spiel» versteckt werden. Die Erwartungen auf einen stärkeren Tourismus und einen Aufschwung für die Hotelindustrie sind drastisch übertrieben und seit 2002, als sie noch Teil der aggressiven Verkaufstaktik des Bewerbungskomitees waren, massiv reduziert worden. So wurden am Schluss nur noch etwa 250.000 ausländische Besucher erwartet und nicht die ursprünglich genannten 500000. Das Resultat ist, dass viele kleine Geschäftsleute – Inhaber von Pensionen und Bed-and-Breakfast-Zimmern – gewaltige Verluste machen werden. Ökonomen sehen voraus, dass das Bruttoinlandsprodukt direkt nur um 0,2%, nicht um 0,5% zunehmen wird, wie anfangs behauptet. Nicht einmal das Einnahmeplus der größeren Einzelhandelsgeschäfte wird den erwerbslosen und verarmten Schichten der Bevölkerung zugute kommen.
Gewaltige Staatsverschuldung
Gewiss verbindet sich mit der Durchführung der WM ein großer Teil der Entwicklung der Infrastruktur, die von der Regierung Mbeki geplant worden war, und vieles davon, insbesondere die Modernisierung des Verkehrswesens, wurde außerordentlich schnell umgesetzt. Doch hat dies auch zu ernsten Problemen geführt: insbesondere fehlte eine demokratische Beteiligung bei der Beschlussfassung, wurden kommunale Regierungen übergangen, gab es Korruption bei den Ausschreibungen u.v.m. Zusätzlich zur gewaltigen Staatsverschuldung hinterlässt das ein «Erbe», das nur als schwere Hypothek für künftige Generationen beschrieben werden kann.
Vor allem eine Frage wird stets bleiben: Warum wurden 12 Mrd. Rand für neue Stadien ausgegeben, wenn es möglich gewesen wäre, für das Geld die bestehenden Stadien zu modernisieren und Hunderttausende Häuser für die MigrantInnen aus den ländlichen Gebieten zu bauen? Natürlich hätte ein nationales Wohnungsbauprogramm dieser Größenordnung die ausländischen und einheimischen Investoren definitiv nicht in derselben Weise gereizt wie die WM 2010, aber dafür würden wir auch nicht jahrzehntelang für kostspielige, und letztlich nutzlose Stadien zahlen.
Dies wirft die grundlegende Frage nach der Strategie der Wirtschaftsentwicklung im Südafrika nach dem Ende der Apartheid auf. Die Regierung setzt auf Großereignisse mit Kultstatus wie die Rugby-WM, die afrikanische Fußballmeisterschaft u.a. Sie erhofft sich davon kurzfristige Wirtschaftsaufschwünge. Im Zentrum dieser Strategie stehen die Interessen des privaten Kapitals, es soll das Wirtschaftswachstum ankurbeln und seine Segnungen sollen der Masse der städtischen und ländlichen Armen zugute kommen.
ANC gelähmt
Dieses neoliberale Märchen, das 1996 in das Programm GEAR (Wachstum, Beschäftigung und Umverteilung) eingeschrieben wurde, hat sich in jeder Hinsicht als Illusion erwiesen. Statt der 1996 vorhergesagten jährlichen Wachstumsrate von 6% hat das Nach-Apartheid-Südafrika nicht einmal ein durchschnittliches jährliches Wachstum von 3,5% erreicht. Die ArbeiterInnenbewegung hat dem die neokeynesianische Alternative von Wachstum durch Umverteilung entgegengesetzt – was ein umfassendes staatliches Eingreifen in den Markt beinhaltet. Doch die kapitalistischen Thinktanks und zahlreiche Unternehmerverbände, die die Politik bestimmen, haben beständig und erfolgreich alle solche «Experimente» gestoppt, u.a. indem sie mit Kapitalflucht drohten. Sie halten alle strategischen Positionen im Nach-Apartheid-Südafrika besetzt, und die ANC-Regierung ist wie gelähmt von der Tatsache, dass alle Schritte, die sich fundamental gegen das Kapital wenden, zum Scheitern verurteilt sind.
Das Bündnis zwischen dem ANC, der Kommunistischen Partei (SACP) und dem größten Gewerkschaftsverband, COSATU, garantiert der Bourgeoisie ein stabiles politisches Terrain – trotz massiver Spannungen zwischen den schwarzen «Aufsteigern» und der traditionellen proletarischen Basis des ANC. In allen relevanten Fragen haben die bürgerlichen Schichten den Krieg um die «Seele» des ANC gewonnen, die sog. Linke in dieser historischen Bewegung wurde rasch und effektiv an den Rand gedrängt. Diese «Tripleallianz», wie sie in Südafrika genannt wird, befindet sich in einer ähnlichen Position wie der «Führer einer extremen Partei», von dem Friedrich Engels in Der deutsche Bauernkrieg schrieb:
«Es ist das Schlimmste, was dem Führer einer extremen Partei widerfahren kann, wenn er gezwungen wird, in einer Epoche die Regierung zu übernehmen, wo die Bewegung noch nicht reif ist für die Herrschaft der Klasse, die er vertritt, und für die Durchführung der Maßregeln, die die Herrschaft dieser Klasse erfordert … Er findet sich so notwendigerweise in einem unlösbaren Dilemma: was er tun kann, widerspricht seinem ganzen bisherigen Auftreten, seinen Prinzipien und den unmittelbaren Interessen seiner Partei; und was er tun soll, ist nicht durchzuführen. Er ist, mit einem Wort, gezwungen, nicht seine Partei, seine Klasse, sondern die Klasse zu vertreten, für deren Herrschaft die Bewegung gerade reif ist. Er muss im Interesse der Bewegung selbst die Interessen einer ihm fremden Klasse durchführen und seine eigne Klasse mit Phrasen und Versprechungen, mit der Beteuerung abfertigen, dass die Interessen jener fremden Klasse ihre eignen Interessen sind. Wer in diese schiefe Stellung gerät, ist unrettbar verloren.»
Das Ende des Regenbogens
Ironischerweise verschärft die WM in Südafrika, die «die Nation» einigen sollte, den Disput innerhalb der herrschenden Partei zwischen jenen, die eine sozialdemokratische Reformpolitik befürworten, und jenen, die der neoliberalen Orthodoxie verpflichtet sind. Insbesondere die Gewerkschaften haben die WM maximal genutzt, um ihre Verhandlungsposition zu stärken. Es wird zwar eine vorübergehende Erscheinung des Klassenkampfs bleiben, aber es ist eine Tatsache, dass praktisch jeder Arbeitskampf (meist nach langen und erbitterten Streiks) mit zweistelligen Lohnerhöhungen beendet wurde, bei gleichzeitig relativ niedriger Inflationsrate.
Die wirtschaftlichen Aktivitäten für die WM haben die Auswirkungen der globalen Rezession auf die Beschäftigten zweifellos reduziert, doch die Millionen Opfer der strukturellen Erwerbslosigkeit trifft das nicht. Langfristige Beschäftigung ist kaum geschaffen worden und 2009 gingen fast eine Million Arbeitsplätze verloren! Bedrohlich ist die weitverbreite Erwartung, dass es zu erneuter xenophober Gewalt kommen wird, wenn die durch die WM geschaffenen kurzfristigen Jobs wieder verschwinden. Mehr als alles andere ist diese Furcht ein Zeichen dafür, dass die Euphorie der «Regenbogennation» Vergangenheit ist.
Die bürgerlichen Medien versuchen uns davon zu überzeugen, dass die WM das alles wert ist. Doch sie wissen genau so gut wie jeder Erwerbslose, dass von diesem gigantischen Schwindel allein das Großkapital und die FIFA profitieren. Die Masse der Bevölkerung bleibt auf gewaltigen Schulden sitzen, die die Hinterlassenschaft des Apartheidregimes noch übertreffen. Jede überwiegend positive Bilanzierung der WM ist nur eine Apologie der grausamen neoliberalen Politik und Praxis im Nach-Apartheid-Staat.
Neville Alexander
(Quelle: SOZ)