Frankreich nach den Streiks
Bernhard Schmid
Handelt es sich um einen Sieg? Um einen halben Erfolg, oder eine totale Schlappe? Diese Frage, die sich gewöhnlich - für jede Seite - nach einem sozialen Konflikt stellt, lässt sich derzeit im Hinblick auf die jüngsten französischen Streikbewegungen nur schwer beantworten. Eine Bewertung dürfte vorläufig nicht „schwarz“ oder „weiß“ ausfallen, sondern in irgendwelchen Grautönen. Die von manchen Beobachtern befürchtete historische Niederlage für die französischen Gewerkschaften mit über den Arbeitskampf hinausreichendem Symbolwert - die mit jener ihrer britischen Kollegen im Bergarbeiterstreik in Nordengland 1984/85 gegenüber dem triumphierenden Thatcherismus vergleichbar gewesen wäre - ist ausgeblieben.
10.12.2007
...Aber ob beispielsweise die in jüngerer Vergangenheit oft kämpferisch aufgelegten Eisenbahner aus den Erfahrungen der letzten Wochen die Lehre davon trugen, dass sozialer Widerstand „sich lohnt“ und erfolgreich sein kann, bleibt erst noch abzuwarten.
Dynamik der Selbstorganisation
Positiv ist in der Bilanz des jetzt – vorläufig? - beendeten Eisenbahnerstreiks hervorzuheben, dass es eine echte Dynamik der Basisbeteiligung und der Abstimmung in Vollversammlungen gegeben hat. Tatsächlich waren die Gewerkschaftsapparate eine Woche lang – bis der Ausstand auf der Kippe zu stehen kam – nicht „Herren der Lage“, auch wenn ihnen dies eine Zeitlang selbst zupass kam, um nicht öffentlich in Verantwortung für die Entscheidung zum Fortgang des Streiks gezogen werden zu können.
Laut Angaben der linken Basisgewerkschaft SUD Rail (SUD Schienenverkehr), die mit 15 Prozent bei der Eisenbahn die zweistärkste Gewerkschaft und die Entwicklung von Selbstorganisierung und Selbstbestimmung im Streik stark anschob, haben 20.000 Bahnbeschäftigte tagtäglich an den rund 200 Vollversammlungen in ganz Frankreich teilgenommen. Das Unternehmen SNCF hat insgesamt rund 160.000 Beschäftigte, von denen auf dem Höhepunkt eine starke Hälfte im Streik war, in der Schlussphase ein gutes Viertel. Gegen Ende der Streikbewegung hat die Teilnahme an diesen Basisversammlungen, in denen jeweils für ein Bahndepot oder einen Bahnhof über die Fortführung oder Beendigung des Arbeitskampfs abgestimmt wurde, sogar zu- und nicht abgenommen. Während ein Teil der Beschäftigten, vorübergehend etwa aus finanziellen Gründen oder auch auf Dauer, die Arbeit wieder aufnahm, wurde ein anderer Teil – im Rahmen einer gewissen Polarisierung - dadurch zur Übernahme von mehr Selbstverantwortung im Streik getrieben.
Auf lokaler Ebene fällt das Bild allerdings unterschiedlich aus. Mancherorts waren die Vollversammlungen eher davon geprägt, dass die Vertreter der unterschiedlichen Gewerkschaften ihre jeweiligen Erklärungen verlasen, die Redeliste abgearbeitet wurde und danach alle Teilnehmer ihrer Wege gingen. Andernorts hingegen kam eine reale kollektive Dynamik zustande. Im Bahndepot von Melun östlich von Paris, wo SUD Rail stark verankert ist, wurden etwa die Örtlichkeiten dauerhaft besetzt. Auch nach dem Ende der Redebeiträge und der Abstimmung blieben die Leute zusammen. Die Beschäftigten veranstalteten ein Kulturprogramm, neue Liebesbeziehungen wurden geknüpft, Tag und Nacht brannten Ölfeuer in gelben Fässern auf den Streikposten. In Melun fiel es den Beschäftigten laut vorliegenden Berichten verdammt schwer, in der Schlussphase die Arbeit wieder aufzunehmen. Das Ende des Streiks erfolgte hier nicht ohne Tränen.
Verhandeln zwecks Quadratur des Kreises
Ansonsten wird es unter anderem von den konkreten Ergebnissen der Verhandlungen abhängen, die am vergangenen Mittwoch (21. November) bei der französischen Bahngesellschaft SNCF und am Montag (26. November) bei den Pariser Verkehrsbetrieben der RATP eröffnet worden sind. Aller Wahrscheinlichkeit wird alles darauf hinauslaufen, dass die konservative Regierung sich zwar mit dem Kernpunkt ihres „Reform“vorhabens durchsetzen kann und die Lebensarbeitszeit nun auch für die Transportbediensteten auf 40 Beitragsjahre zur Rentenkasse ausdehnen wird – die Eisenbahner und anderen betroffenen Berufsgruppen aber aufgrund von Kompensationen und Anrechnungsmodalitäten dies aber zunächst in der Praxis kaum spüren werden.
Diese könnten einerseits in einer stärkeren Anhebung des Grundlohns bestehen. Bislang beziehen die Eisenbahner einen Gutteil ihres Lohns in Form von Gehaltszusätzen und Prämien wie etwa Nacht- und Wochenendzuschlägen, die aber bei der späteren Pension grundsätzlich nicht mit einberechnet werden. Deshalb fallen die Renten für die Eisenbahner auch, bei gleichem Lohnniveau, im Durchschnitt um neun Prozent niedriger aus als für andere Berufsgruppen. Die Rede ist nun davon, zumindest einen Teil dieser Zuschläge – wie seit langem gefordert worden war – in den Grundlohn, der allein für die Kalkulation der Rentenhöhe herangezogen wird, mit einzurechnen. Was nur logisch wäre, da Wochenend-, Feiertags- und Nachtarbeit zu den regelmäßigen, tagtäglichen Arbeitsbedingungen vieler Eisenbahner gehört.
Ferner ist die Rede davon, den Grundlohn in den letzten Monaten der Berufskarriere um 2,5 bis maximal 5 Prozent anzuheben. Das würde die SNCF nicht wirklich viel kosten (die anvisierten Zugeständnisse ihrer Direktion werden im Moment auf 90 Millionen Euro jährlich beziffert, bei einem Umsatz in Höhe von mehreren Milliarden), aber die Pensionen automatisch erhöhen, da die Eisenbahnerrenten sich nach den letzten sechs Monaten vor der Pensionierung richten. Hingegen sind für die anderen Berufsgruppen an diesem Punkt in jüngerer Zeit erhebliche Verschärfungen in Kraft getreten: So wurde für die Privatbeschäftigten früher die durchschnittliche Lohnhöhe der letzten 10 Berufsjahre herangezogen, seit der allgemeiner „Rentenreform“ von 2003 ist es jedoch jener der letzten 25 Berufsjahre. Automatische Wirkung: Dies wird die Pensionen in Zukunft noch spürbar absenken. Private Rentenversicherungen und ihre „Angebote“ behelligen das Publikum schon heute ständig in der Werbung und mit der Zusendung unerbetener E-Mails: Ihre Anbieter wissen, dass viele Lohnabhängige in einigen Jahren von ihren Pensionen nicht werden leben können. Ein riesiger Markt tut sich nun für die Privatwirtschaft auf.
Erreichen die Transportbediensteten dieses Zugeständnis tatsächlich, dann könnte es dafür sorgen, dass zumindest in den kommenden 10 oder 12 Jahren die Strafbeträge ( décotes ) für fehlende Beitragsjahre zur Rentenkasse die Eisenbahner nicht wirklich kratzen würden. Denn dann könnten sie faktisch weiterhin relativ früh in Rente gehen, und ihre Pensionsverluste durch die erfolgte Anhebung ihres Grundgehalts auffangen oder abfedern lassen. Allerdings wird dies für die heute jüngeren oder „mittelalten“ Beschäftigten etwa bei der Bahn nichts bringen, denn bis sie einmal mit der Pensionierung dran sein werden, hätte die Inflation den jetzigen Anstieg ihres Grundlohns längst aufgefressen.
Daneben versucht die CGT (ebenso wie andere Gewerkschaften) auch noch, für bestimmte Beschäftigtengruppen aufgrund der ihren Arbeitsbedingungen innewohnenden Zwänge Anrechnungsmodalitäten herauszuhandeln. Dies würde bedeuten, dass bestimmte Kategorien von Lohnabhängigen aufgrund ihrer erschwerten Arbeitsbedingungen drei oder fünf Beitragsjahre zusätzlich anerkannt würden. Die konservative Regierung hat es längst vorgemacht: Um die Berufsgruppengewerkschaft der Lokführer (FGAAC) aus der Streikfront herauszubrechen, hatte das Regierungslager den Lokomotivführern Anfang November von sich aus fünf Anrechungsjahre zugestanden. Mit dem Erfolg, dass die FGAAC zunächst – als einzige Gewerkschaft – den Aufruf zum unbefristeten Streik ab dem 14. November nicht mittrug. Nun werden auch andere Gruppen in den Genuss einer solchen Regelung kommen wollen.
Allgemeine „Rentenreform“ im nächsten Jahr
Solche „Gegenleistungen“ an die Eisenbahner, im Falle einer Hinnahme der so genannten Reform, hatte die andere Seite schon zu Beginn der Auseinandersetzung längst einkalkuliert. Dennoch gibt es einen Widerspruch, eine notwendige Spannung zwischen zwei Ansprüchen. Einerseits sind Regierung und Bahndirektion zu diversen faktischen Zugeständnissen bereit, um die Glut des Arbeitskampfs auszutreten und um das zentrale „Symbol“ der Reform – die obligatorischen 40 Beitragsjahre, die künftig mindestens nominell auch bei der Bahn gelten würden – zu „retten“. Andererseits wollen und „dürfen“ sie nicht allzu sehr damit an die Öffentlichkeit treten, denn es könnten auch andere Lohnabhängige auf die Idee kommen, Ähnliches für sich zu fordern. Eines haben sie dabei stets im Hinterkopf: Auch wenn ein Großteil des französischen Publikums es längst vergessen hat, steht doch im kommenden Jahr die nächste Stufe der allgemeinen „Rentenrefom“ ins Haus.
Die regressive „Reform“, die der damalige Arbeits- und Sozialminister – und jetzige Premier – François Fillon 2003 auf den Weg brachte, beinhaltet ein „Bilanzziehen“ im kommenden Jahr. Wie diese Bewertung ausfallen wird, lässt sich bereits jetzt absehen: Sie wird auf ein „Weiter so“ hinauslaufen. Bislang hat die 2003er Reform dazu geführt, dass die meisten Berufsgruppen 40 Beitragsjahre lang einzahlen müssen, um eine volle Pension zu beziehen. Aber fällt die Bilanz „positiv“ aus, dann wird ab 2008 eine weitere Anhebung auf 41 Beitragsjahre, im kommenden Jahrzehnt dann auf 42,5 Jahre erfolgen. Darauf hatten die streikenden Transportbediensteten in den vergangenen Wochen auch immer wieder hingewiesen, um dem Publikum oder jedenfalls den anderen Lohnabhängigen klar zu machen, dass der Kampf um die Verteidigung der Renten „alle“ (Lohn- und Gehaltsempfänger/innen) betreffe, und eben nicht nur einzelne Beschäftigtenkategorien mit „Sonderinteressen“. Nach dem Motto: „Die nächste Verschlechterung für alle ist doch längst geplant!“ Diese Message kam aber – auch dank der weit verbreiteten Manipulation der dominierenden Medien gegen den Transportstreik – nicht herüber. Und ein Teil der öffentlichen Meinung hat einfach ein verdammt kurzes Gedächtnis ; für ihn ist die „Rentenreform“ von François Fillon längst Vergangenheit (2003), und wenn im kommenden Jahr ihre „nächste Stufe“ ins Haus steht, dann wird es eine böse Überraschung geben.
Dies erscheint (unter gegebenen politischen Bedingungen) unvermeidlich, falls die Widerstände gegen die Verlängerung der Lebensarbeitzeiten in den letzten Bastionen – insbesondere den Transportbetrieben – nun beruhigt werden können. Dann wird es für die Regierung darauf ankommen, dass die Endergebnisse des Eisenbahnerstreiks für die Beschäftigtenseite nicht als derart positives Beispiel erscheinen, dass auch andere Lohnabhängige sich darauf berufen und Ähnliches für sich fordern werden, um die anstehenden Anhebung der obligatorischen Beitragsjahre zur Rentenkasse auf dann 41 (und künftig gar 42,5) ihrerseits für sich zu „kompensieren“.
Also müssen Regierung und Bahndirektion – aus ihrer Sicht - im Prinzip dafür sorgen, dass in das Verhandlungsergebnis, neben dem Zuckerguss, auch noch mindestens eine bittere Pille eingebacken wird. Ins Gespräch gebracht haben sie vor allem eine spürbare Verschlechterung der Lohnbedingungen für alle neu eingestellten Berufsanfänger. Ob sie damit durchkommen werden, bleibt abzuwarten.
Wie substanzielle Zugeständnisse herausholen, wenn der Streik vorbei (und der Druck vorläufig weg) ist?
Das Hauptproblem aus gewerkschaftlicher (und Lohnabhängigen-)Sicht wird dabei sein, dass die Beschäftigtenorganisationen faktisch zu Beginn der Verhandlungen zur Mitte vergangener Woche den Streik eingestellt und damit eine Vorabbedingung der Gegenseite erfüllt hatten. Unter dem Druck einer fortdauernden Streikbewegung lässt sich aber allemal mehr herausholen, als wenn dieser Druck einmal weggefallen ist. Derzeit drohen sowohl die CGT als auch die – relativ progressive – Transportföderation (FGTE) des rechtssozialdemokratisch geführten Gewerkschaftsbunds CFDT mit einem erneuten Streik, falls die am 20. Dezember endende Verhandlungsperiode mit einem Scheitern oder unbefriedigenden Ergebnissen ende. Allerdings ist höchst fraglich, ob dann nochmals eine Dynamik zustande kommen kann, zumal ein Arbeitskampf dann, ginge er unmittelbar los, unweigerlich in die Weihnachtsferienperiode fallen würde. In dem Falle wäre er aber definitiv in höchstem Maße unpopulär. Nach der Urlaubszeit aber wird die Regierung ihre Dekrete zur „Reform“ bereits verabschiedet haben, falls es vor dem 20. Dezember zu keinem „Kompromiss“ kam. Als nicht unwahrscheinlich gilt im Moment dennoch eine Wiederaufnahme von Arbeitskämpfen bei der Eisenbahn im Januar 2008 - falls in den Verhandlungen bis zur Weihnachtspause nicht viel für sie rüberkommen und der jetzt begonnene einmonatige Verhandlungszyklus sich als Versuch, die Beschäftigten bzw. die Gewerkschaften über den Tisch zu ziehen, herausstellen sollte. Sofern jedenfalls die relevanten Gewerkschaften nicht doch am Ende noch einem Butterbrot als Verhandlungsergebnis zustimmen...
Entscheidung zum Anhalten des Streiks. Wäre tatsächlich „mehr drin“ gewesen?
Tatsache ist, dass es namentlich die CGT – mit rund 40 Prozent der Stimmen bei den letzten Personalratswahlen stärkste Gewerkschaft unter den Eisenbahnern – war, die ab dem (Mittwoch/Donnerstag) 21./22. November für das Aussetzen des Streiks gesorgt hat. Zwar hat ihr Apparat in der Öffentlichkeit stets verkündet, dass nicht die CGT-Leitung über die Fortführung oder Beendigung des Arbeitskampfs entscheide, sondern die in „souveränen“ Vollversammlungen in den Bahndepots abstimmende Basis. Dies wurde seitens der CGT auch betont, um nicht selbst für alle Schritte im Arbeitskampf verantwortlich gemacht werden zu können. Allerdings weiß der CGT-Apparat auch, was zu tun ist und wie seine Angehörigen sich in Streikversammlungen zu verhalten haben, wenn er einmal beschlossen hat, einen „auf der Kippe stehenden“ Streik anzuhalten.
Nicht sicher ist jedoch, ob ohne diesen am 21. November erkennbar durch die CGT gefassten Beschluss zur „Aussetzung“ des Arbeitskampfs wirklich „mehr drin gewesen“ wäre. Denn die Streikbeteiligung war real am Abbröckeln – was freilich für einen länger anhaltenden, unbefristeten Streik (für dessen „Überleben“ in der Regel die erste Woche entscheidend wirkt) nicht untypisch ist. Nicht zuletzt muss daran erinnert werden, dass abhängig Beschäftigte in Frankreich jeden Streiktag mit Lohnverlusten aus der eigenen Tasche bezahlen, da sie nicht wie in Deutschland aus gewerkschaftlichen Streikkassen alimentiert werden – im Gegenzug können sie auch selbst über die Ausübung ihres Streikrechts entscheiden, ohne von einem Apparat bevormundet zu werden. Bei einem Streik, dessen Ausgang und Perspektiven unklar sind und der sich in die Länge zieht, ist allerdings die Versuchung groß, zwischendurch mal wieder einen Tag zu arbeiten und danach den Ausstand wieder aufzunehmen. De facto war die Teilnahme am Streik in der vergangenen Woche eine „rotierende“, die unter den Beschäftigten wechselte – was per se kein negatives Bild ergibt.
Nach Angaben der Direktion waren an den letzten Tagen des Arbeitskampfs 25 bis 30 Prozent des Gesamtpersonals der Bahngesellschaft SNCF im Streik (gegenüber gut 60 Prozent zu Anfang), wobei dieser Durchschnittswert jedoch insofern täuscht, als die Beteiligung beim „rollenden Personal“ - Lokführer, Schaffner, Mechaniker - wesentlich höher war als bei den Schalterbediensteten. Um eine durchschlagende Wirkung zu erzielen, benötigt ein Streik jedoch eher die Ersteren als die Letztgenannten. Auch bezieht die Durchschnittsangabe der Bahndirektion die „weißen Kragen“, höheren und leitenden Angestellten, die gewöhnlich loyal zum Unternehmen stehen, mit ein. Dennoch stand der Streik real auf der Kippe.
Das war etwa während des vierwöchigen Herbststreiks der Eisenbahner im November/Dezember 1995 anders. Aber damals hatten breite Sektoren der öffentlichen Meinung ihren Ausstand, trotz Schwierigkeiten bei der Fortbewegung infolge wochenlang ausbleibenden Nahverkehrs, ausdauernd unterstützt. Das war dieses Mal anders. Anhaltende Sozialneidkampagnen der bürgerlichen Rechten gegen die streikenden Beschäftigten als „Beschützer überkommener Privilegien“, das erfolgreiche Auseinanderdividieren der Lohnabhängigen – vor dem Hintergrund von Verschlechterungen, die für andere Berufsgruppen bereits 2003 durchgedrückt werden konnten – und der Druck eines offensiv vorgehenden konservativen Blocks taten ihre Wirkung. Nur ein starkes Drittel der öffentlichen Meinung erklärte seine Unterstützung für den Ausstand bei der Bahn. Und für die vorletzte Novemberwoche hatte das Regierungslager für den Fall eines Fortgangs des Streiks bereits massive Gegenmaßnahmen angekündigt. So sollten UMP-Rathäuser private Ersatzbusse zur Verfügung stellen, um den Transportsstreik ins Leere laufen zu lassen. Auch war mit Gegenmobilisierungen von Rechts durchaus zu rechnen. Insofern war das Risiko hoch, dass der Streik gegen die Wand gelaufen wäre. Offenen „Verrat“ an den Beschäftigteninteressen kann man der CGT deshalb in diesem Falle nicht vorwerfen, unter Berücksichtigung des Gesamt-Kräfteverhältnisses. (Das billige „Verrat-durch-die-Reformisten-wie-immer“-Geplapper der Website WSWS, oder World Wide Web Site alias „die einzig wahren Trotzkisten auf der Welt“, trifft es jedenfalls nicht.)
Negativ für ihre historische Bilanz schlägt dabei allerdings zu Buche, dass die Lohnabhängigen heute nicht in dieser taktisch verzwickten Situation wären, hätte die CGT-Führung nicht 2003 den damaligen Bahn- und Transportstreik offen abgewürgt. Im Zuge des Kampfes gegen die allgemeine „Rentenreform“ waren die Eisenbahner, die damals noch – vorübergehend – ihr „Sonderregime“ bei den Pensionierungsregeln behielten, damals spontan in den Streik getreten. Unter dem Vorwand, dass die Transportbediensteten von der damaligen Reform „nicht betroffen“ seien – ein Argument, das ständig durch die Regierungsseite bemüht wurde, aber durchsichtig war, da mit der jetzt vollzogenen Abschaffung der „Sonderregeln“ für die Eisenbahnerrenten nach wenigen Jahren natürlich zu rechnen war – hielt die CGT damals den Transportstreik an. Aus Angst, dieser Ausstand könne in der öffentlichen Meinung „unpopulär“ sein. Damals waren zwei Millionen Leute gegen die „Reform“ auf der Straße, die öffentliche Meinung stand mehrheitlich hinter den Protestierenden, und ein erfolgreiches Lahmlegen der Transportmittel hätte dem sozialen Konflikt eine andere – generalstreikähnliche – Dynamik verleihen können. Das wollte der CGT-Apparat nicht, der ansonsten auch befürchtete, dass ihm die Kontrolle entglitte. Heute sind die Transportbediensteten nun isoliert, auf die Unterstützung und allgemeine soziale Bewegungsdynamik von 2003 können sie nicht länger bauen, und die Gegenseite ist in die Offensive getreten. Selbst wenn sie heute ehrlich um eine Abwehr der neuen Angriffe bemüht wäre, dann hätte die CGT durch ihr Verhalten vor vier Jahren die heutigen Kampfaussichten geschwächt. Durch ihr damaliges Abwürgen des Transportstreiks, aus Angst vor „Unpopularität“, hätte sie „Selbstmord aus Furcht vor dem Tode“ begangen.
StudentInnenprotest
Bei den Studierenden sieht es in den letzten Novembertagen noch anders aus. Auch nach dem Ende des Arbeitskampfs in den Transportmittel blieb die Mobilisierung an den Universitäten noch aufrecht erhalten – obwohl real damit zu rechnen ist, dass die studentische Bewegung infolge des Fortfalls der Eisenbahnerstreiks nicht mehr viel wird reißen können. Denn da die Studierenden über keinen Hebel verfügen, um für ökonomische Konsequenzen ihres Streiks oder „Verdienstausfälle“ für die Wirtschaft zu sorgen, kann es der Regierung im Prinzip auch aussitzen, falls sie mehrere Monate im Streik bleiben.
Die sozialdemokratisch geführte, größte Studierendengewerkschaft UNEF hat sich am Wochenende des 24./25. November offen gegen die Fortführung des Streiks gestellt – zu einem solchen klaren Bruch zwischen etablierter Gewerkschaft und Selbstorganisierungsdynamik war es bei den Eisenbahnern und anderen Beschäftigtengruppen nicht gekommen. Die Vertreter der UNEF zogen aus der im nordfranzösischen Lille versammelten Nationalen Streikkoordination aus, nachdem einigen ihrer Delegierten ihre – angeblich aus Vollversammlungen bezogenen, aber nicht überprüfbaren – Mandate aberkannt worden waren. Die Kontrolle der Mandate sollte dazu dienen, ihren Majorisierungsversuchen einen Riegel vorzuschieben, nachdem die UNEF zuvor im Sprecherausschuss der Streikkoordination vorübergehend eine Mehrheit ihrer Leute hatte platzieren können. Real hat die UNEF allerdings wohl vor allem den aus ihrer Sicht günstigsten Zeitpunkt genutzt, so lange sie bei Verhandlungen mit der Hochschulministerin Valérie Pécresse überhaupt noch etwas für sich erreichen kann, bevor die Streikfront zusammenbricht oder aber die Regierung sich entschlossen zeigt, den Rest des Studierendenprotests einfach „aussitzen“ zu können. Praktisch ist dabei, dass die UNEF, anders als der Rest der aus in Vollversammlungen gewählten Delegierten bestehenden Streikkoordination, keinen Rückzug der „Loi LRU“ – zu deutsch des „Gesetzes über Freiheit und Verantwortung der Universitäten“, das ihren Rektoren eine finanzpolitische Autonomie verschafft und den Rückgriff auf Mittel der Privatwirtschaft ausweiten wird – fordert. Sondern nur ihre „Verbesserung“.
Radikale Linke, wie etwa libertäre Kommunisten bzw. Anarchokommunisten und Trotzkisten der LCR, hatten gegen die Unef eine Dynamik der Selbstorganisierung zu entwickeln versucht. Mancherorts waren sie dabei aber zwischen zwei Kräften eingekeilt: Die Unef wollte die Souveränität der Vollversammlungen real nicht anerkennen, und wollte eine möglichst schwache Streikkoordination. Zugleich erhoben mancherorts sich für superradikal haltende Anarchisten oder ‚Totos' – ein Kosewort für ‚Autonomes' – das imperative Mandat derart zum Dogma, dass de facto kein politischer Willensbildungsprozess innerhalb der Streikkoordination möglich geworden wäre. Nach ihrem Willen sollte jede örtliche Vollversammlung ihren Delegierten haargenau Punkt für Punkt ihr Abstimmungsverhalten diktieren, und sollten die gewählten Delegierten darüber hinaus keinerlei Stellungnahme abgeben können. In einem solchen Falle könnte man auch per Internet die Voten der einzelnen Vollversammlungen addieren und es dabei bewenden lassen. Dies verkennt aber die Entscheidungsdynamik in einer nationalen Streikkoordination, wo im Laufe einer 48stündigen Marathondiskussion neue Vorschläge auftauchen, aus zahlreichen lokalen Bewegungen sich eine überregionale Bewegungsdynamik herauszuschälen beginnt. Andere radikale Linke dagegen traten für ein imperatives Mandat an den entscheidenden Punkten ein, aber zugleich für die Möglichkeit, dass sich eine Debatte im Rahmen einer überörtlichen Koordination entwickeln und in deren Verlauf Entscheidungsbedarf zu neu auftauchenden Fragen entstehen könne. An der Pariser Universität Tolbiac etwa erklärten die Unef-Funktionäre hinter vorgehaltener Hand, dass sie über das Agieren der „Superradikalen“ und möchtegern-anarchistischen Schrumpfköpfe in den Vollversammlungen zufrieden seien, da sie ihnen in die Hände arbeitenden: Man selbst wolle ja eine möglichst schwache Streikkoordination. Als Sprecher in den Medien sollte ihnen zufolge ohnehin der hauptamtliche Apparat der Unef dienen.
Ob die Dynamik der studentischen Mobilisierungen nun zusammenbricht oder nicht, wird sich aber erst ab Ende November oder Anfang Dezember (nach Redaktionsschluss) entscheiden. Denn während der Transportstreik anhielt, hatten sich die Universitäten rapide geleert. Erst danach, mit der Rückkehr der Studierenden, wird sich nun abzeichnen, ob ein Mindestmaß an Bewegung fortbesteht oder ob der Ausstand schon zu minoritär geworden ist. Am Dienstag dieser Woche nahmen frankreichweit rund 25.000 Studierende an Demonstrationen teil. Am heutigen Donnerstag sind sie erneut dazu aufgerufen, auf die Straße zu gehen. Ab diesem Wochenende wird sich wohl eine vorläufige Bilanz aus dem Fortgang ihrer Mobilisierung ziehen lassen.
Die Kaufkraftfrage
Eine mögliche „Konvergenz“ zwischen unterschiedlichen Kämpfen hätte aus dem Streik- und Aktionstag der öffentlichen Dienste am 20. November resultieren könne. Man kann jedoch nicht wirklich festhalten, dass der Funke in einer Weise übergesprungen wäre, die ein „Zusammenfließen“ der Kämpfe erlaubt hätte.
Frankreichweit gingen am 20. 11. nach Angaben der Polizei 375.000, laut CGT 700.000 Menschen auf die Straße. Real darf man also wohl von einer halben Million ausgehen. In Paris sprachen die Veranstalter/innen von 70.000 Teilnehmer/innen. Auffällig war jedoch, dass mehrere Kräfte auch unter den OrganisatorInnen versuchten, die beiden Themenblöcke – die Abwehrkämpfe gegen die Angriffe auf die Renten unter den ‚Régimes spéciaux' einerseits, die Lohn- und Arbeitsplatzfrage in den übrigen öffentlichen Diensten auf der anderen Seite – strikt auseinander zu halten. Dies gilt insbesondere für die rechtssozialdemokratische CFDT, die offen dafür plädierte, beide Anliegen zu trennen. So tönte ihr Generalsekretär François Chérèque am Vorabend der Demonstrationen, man dürfe „nicht alles miteinander vermischen“, denn sonst gebe es ein unübersichtliches Gemengelage „und die Regierung pickt sich dann die Elemente heraus, auf die sie antworten möchte“. Darüber hinaus griff er „Minderheiten“ an, dass sie statt eines rein gewerkschaftlichen Kampfs „eine globale, politische (Streik)bewegung möchten“. Chérèque flog allerdings aus der Pariser Demonstration am 20. November hinaus (Labour berichtete, nicht unerfreut). Nicht gar so offen für eine säuberliche Trennung von Kampffronten und Anliegen plädierte die CGT, die jedoch ihrerseits nichts dafür tat, offensiv zu einer „Konvergenz“ und einem Zusammenfließen der Kämpfe beizutragen. Sonst könnte sie ja die Kontrolle verlieren…
Sarkozys Ansprache im Fernsehen an „die Nation“
Was die unterschiedlichen Forderungen bisher jedoch wie ein „Knotenpunkt“ zusammenhält – auch wenn die Kämpfe real nicht wirklich zusammenlaufen -, ist insbesondere die Furcht vor Verlust an Kaufkraft, ja vor Verarmung (insbesondere im Alter). Dies gilt für die Rentenfrage, aber auch für die Anliegen der öffentlich Bediensteten und für den Zorn des Publikums gegenüber den durch die Krankenversicherung bzw. die Justizbeihilfe (im Rahmen des Armenrechts) nicht rückzahlbaren „Freibeiträgen“ bei der medizinischen Versorgung und dem Zugang zur Justiz.
Nicolas Sarkozy und seine Umgebung haben deshalb beschlossen, zu versuchen, diesen „Knotenpunkt“ zu durchschlagen, indem sie die allgemein sich ausbreitende Furcht zum Thema Kaufkraft entschärft. Die konkreten Maßnahmen bleiben abzuwarten, aber es zeichnet sich ab, dass sie die erwerbstätige Bevölkerung weniger in ihrer Eigenschaft als Lohnabhängige denn als Konsumenten oder aber als privatwirtschaftliche Akteure (vollauf der neoliberalen Logik entsprechend) betreffen werden. Bereits zuvor war Sarkozy auf branchenspezifische Forderungen bestimmter Sektoren, die aus dem Kaufkraftverluste infolge des Anstiegs der Rohöl- und damit der Treibstoffpreise resultieren, positiv eingegangen. Dabei handelte es sich allerdings um auf bestimmte Branchen begrenzte und in der Regel von Kleinunternehmern oder Selbständigen vorgetragene Forderungen, wie etwa jene der bretonischen Fischermeister, die aufgrund der gekletterten Dieselpreise für ihre Boote erhöhte Betriebskosten haben. Am 6. November begab Sarkozy sich direkt vor Ort in das bretonische Guilvinec, wo die Fischer ihn zunächst ausbuhten. Später gaben sie sich jedoch zufrieden, nachdem Sarkozy ihnen einen sechsmonatigen Erlass bei den Abgaben ihrer Unternehmen an die Sozialkassen gewährt hatte, um die erhöhten Betriebskosten auszugleichen. Auf die Lohnabhängigen lässt sich dieses Herangehen, das auf der Befriedigung branchenegoistischer Forderungen und der Interessen von Kleineigentümern beruht, nicht übertragen.
Auch an die „Masse“ der KonsumentInnen will der französische Präsident sich allerdings richten. Zu diesem Zwecke war ursprünglich geplant, dass Nicolas Sarkozy am Abend des 22. oder 23. November, also vor seiner mehrtägigen Chinareise, eine Ansprache im französischen Fernsehen an „die Nation“ halten sollte. Dabei wollte er neue Ankündigungen zum Thema Kaufkraft tätigen. Dazu kam es dann jedoch nicht, und Sarkozy hatte keinen Auftritt mehr vor seiner Abreise nach Peking – nachdem er, und das ist ungewöhnlich für diese hyperaktiven Politiker, sich eine volle Woche lang bedeckt gehalten und zum Thema geschwiegen hatte. Nun wird mit einer Fernsehansprache Sarkozys (nach Redaktionsschluss) für den Abend des heutigen Donnertag fest gerechnet. Allem Anschein nach kam seine Umgebung in den letzten Tagen tüchtig ins Schwitzen, um Sarkozy nicht mit leeren Händen, sondern mit zugkräftigen Ankündigungen vor die Zuschauer treten zu lassen. Am gestrigen Mittwoch meldete die Wochenzeitung ‚Le Canard enchaîné', die Umgebung Sarkozys beklage sich darüber, dass sie „den Stein der Weisen“ (la pierre philosophale) zum Thema bislang nicht gefunden habe. Jetzt wird's aber Zeit, Jungs...
Gedacht ist allem Anschein nach daran, einem Bericht in der Pariser Abendzeitung ‚Le Monde' folgend, eine Absenkung der Verbraucherpreise in den Supermärkten zu erwirken, sowie an gesetzgeberische Aktionen gegen „Knebelverträgen“ bei Mobiltelefonverträgen. Sarkozys Bemühen um Profilierung durch Einwirkung auf die Supermarktpreise ist nicht besonders neu: Bereits in seiner Amtszeit als Wirtschafts- und Finanzminister, von März bis November 2004, hatte er nach einigen spektakulären Gestikulationen eine Senkung der Endverbraucherpreise in den Supermärkten um 2 Prozent erzielt. Hinterher stellte sich allerdings heraus, dass diese Senkung in der Praxis nur eine bestimmte Produktpalette betraf, während dieses Absinken der Preise durch die Supermärkte durch Erhöhungen bei einigen anderen Produkten kompensiert wurde.
Auch ist dem ‚Canard enchaîne' zufolge möglicherweise daran gedacht, die Fonds aus der ‚participation', also den (seit der Präsidentschaft de Gaulles in den späten sechziger Jahren existierenden) betrieblichen Sparfonds, die in den größeren Unternehmen ab 50 Beschäftigten gebildet und bei guter Gewinnlage – und nur dann - durch die Direktion alimentiert werden müssen, zu „entblockieren“. Das bedeutet aber nur, dass die betroffenen Lohnabhängigen früher, vor dem ursprünglich vorgesehenen Termin (bis zu dem diese Rücklagen sonst gesperrt geblieben wären), an ihr durch die Betriebe zurückgelegtes Sparguthaben herankommen können. Das betrifft alles in allem rund 2,5 Millionen abhängig Beschäftigte, von circa 18 Millionen Lohnabhängigen im privaten Wirtschaftssektor und einer aktiven Bevölkerung von knapp 25 Millionen. Auch ist diese Idee wiederum nicht sonderlich originell, da bereits andere konservative Premierminister wie Edouard Balladur (1993-95) und Jean-Pierre Raffarin (2002-05) diese Sparguthaben „entblockiert“ hatten, als es infolge unpopulärer „Reformen“ für sie notwendig wurde, zum Ausgleich irgendwelche vermeintlichen Zuckerchen zu verteilen.
Seien wir also gespannt, was Nicolas Sarkozy und seine schwitzenden Berater sich noch einfallen lassen...
(Quelle: labournet Deutschland)