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Frankreich: Bis zu 2 Millionen auf der Straße gegen Sarkozy

"Nein, die Suppe, die Ihr uns da eingebrockt habt, die löffeln wir nicht aus" - „der Spaß ist zu teuer, von uns kriegt ihr nichts!“ (frei nach ‚Ton Steine Scherben’). Ungefähr so lautet die Botschaft, die über eine Million Demonstrierende, vielleicht auch annähernd zwei Millionen, Ende Jänner an Präsident Nicolas Sarkozy adressiert haben.

31.01.2009

Die Demonstrationen können - in diesem Stadium des Protests, handelte es sich doch um die erste Großdemo seit dem Eintritt Frankreichs in die Finanz- & Wirtschaftskrise -, nur als voller Erfolg bezeichnet werden. Die bürgerlichen Medien hatten schon seit Tagen vor einem „schwarzen Donnerstag“ gewarnt (‚Jeudi noir’, so beispielsweise die Boulevardzeitung ‚Le Parisien’ und der Fernsehsender TF1), und Mühsal & Plackerei der Nutzer/innen öffentlicher Verkehrsmittel in den dunkelsten Farben beschworen. Letztere trat dabei - jedenfalls in Paris - gar nicht einmal ein, denn die Métrozüge verkehrten weitgehend normal: Den Gewerkschaften war daran gelegen, die Mobilisierung zu den Demos nicht zu behindern.

Es stand auch viel auf dem Spiel, denn gerade jetzt (also zu Anfang des Krisenzyklus) wird durch das politische und soziale Kräfteverhältnis entschieden, wer letztlich die Krise bezahlen wird. D.h. ob die Kosten und Lasten der Krise letztendlich vollständig auf den Rücken der Lohnabhängigen - mit und ohne Erwerbsarbeit - abgewälzt werden können; oder aber ob es den abhängig Beschäftigten gelingt, diesen Angriff zurückzuschlagen und ihren Anteil bei der Verteilung des gesellschaftlichen Mehrprodukts zwischen Kapital und Arbeit einigermaßen aufrecht zu erhalten.

Der Vorsitzende des (an der Spitze rechtssozialdemokratischen) Gewerkschaftsverbands CFDT, François Chérèque; sprach bereits am frühen Donnerstag Nachmittag gegen 15 Uhr von „einer der größten Demonstrationen von abhängig Beschäftigten in den letzten Jahren“. Zu dem Zeitpunkt hatte der Protestmarsch in Paris - bei sonnigem, aber eiskaltem Wetter - erst Aufstellung bezogen und war noch kaum losgelaufen. Der Kopf der Demonstration, die theoretisch an der Place de la Bastille beginnen sollte, stand zu dem Zeitpunkt bereits in der Nähe der Place de la République, nachdem er durch die Länge der Demo so weit nach vorne geschoben worden war. Die beiden zentralen Plätze liegen 2,4 Kilometer auseinander. Bis die letzten Demonstrierenden die Place de la Bastille (wo der Beginn ursprünglich auf 14.30 Uhr angesetzt war) verlassen konnten, war es geschlagene 18 Uhr, und erst nach zwanzig Uhr trafen sie am Bestimmungsort der Demo ein. Dies vermittelt einen Eindruck von der Länge der Demonstration, die laut eigener Beobachtung und bei realistischem Herangehen auf ungefähr 150.000 bis 200.000 Teilnehmer/innen geschätzt werden kann. (Die Polizeipräfektur sprach am gestrigen Abend von „65.000“, die CGT von „rund 300.000“.) - Vgl. unseren näheren Bericht weiter unten auf dieser Seite.

Auch in anderen französischen Städten fanden gestern riesige Demonstrationen mit mehreren Zehntausend, zum Teil Hunderttausenden Teilnehmer/inne/n statt, so in Marseille, wo die Gewerkschaften von 300.000 Protestierenden sprechen. Bezogen auf ganz Frankreich behauptet das Innenministerium, es seien 1,08 Millionen Teilnehmer/innen an den Demonstrationen gewesen, die Gewerkschaften ihrerseits sprechen von 2,5 Millionen.

Die Aussage François Chérèques stimmt zwar insofern nicht ganz, als es in den letzten anderthalb Jahrzehnten bereits noch größere Demonstrationen gegeben hat: Rund zwei Millionen Demonstrierende waren frankreichweit am 12. Dezember 1995 u.a. gegen den ‚Plan Juppé’ zur Kostendämpfung im Gesundheitswesen unterwegs (die CFDT-Spitze stand damals auf der anderen Seite und unterstützte die Regierungspläne); bis zu zwei Millionen Demonstrierende waren im Mai und Juni 2003 mehrfach gegen den ‚Plan Fillon’ zur „RentenReform“ auf der Straße (auch damals stand die CFDT-Führung auf der anderen Seite); und Ende März sowie Anfang April 2006 gingen bis zu drei Millionen Demonstrierende gegen die Pläne zur Schleifung des Kündigungsschutzes in Gestalt des „Ersteinstellungsvertrags“ CPE protestieren (dieses Mal zogen alle Gewerkschaften an einem Strang). Allerdings wurden diese „Rekordwerte“ jedes Mal nach Ablauf mehrerer Wochen des Protests, nach mehreren Streik- und Aktionstagen verzeichnet. Die Herbststreiks 1995 begannen beispielsweise am 24. November desselben Jahres. Die Bewegung gegen die „RentenReform“ fing mit einer Demonstration am 1. Februar 2003 - im Schneegestöber und mit durch einen Totalausfall der Pariser Métro verminderter Mobilisierung - an, und die erste Demo gegen den CPE blieb am 7. Februar 2006 auch noch relativ klein. Dies bedeutet, dass eine bis zwei Millionen Demonstrierende für einen ERSTEN Streik- und Aktionstag zur Sache, in diesem Falle gegen die „Krisenbewältigung“ auf dem Rücken der Lohnabhängigen, durchaus als voller Erfolg gewertet werden können. Alles hängt nun davon ab, wie es in den nächsten Schritten mit dem Aufbau eines sozialen Kräfteverhältnisses weitergehen wird. Und dies werden die nächsten Tage, vielleicht Wochen erweisen.

Vielleicht hatte es doch auch sein Gutes, dass die Gewerkschaftsverbände seit dem offenen Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise auch in Frankreich - im Spätsommer 2008 - so lange hinhaltendes Zögern an den Tag legten, bevor sie daran gingen, den Protest zu organisieren. Denn zuerst wollten die Apparate der einzelnen Gewerkschaftsdachverbände die „Sozialwahlen“ vom o3. Dezember 2008 - bei denen fünfzehn Millionen Lohnabhängige und rund eine Million Arbeitgeber aufgerufen waren, die mit Laienrichtern besetzten Arbeitsgerichte (Conseils de prud’hommes) zu besetzen - vorüberziehen lassen. Bis dahin standen sie im „Wahlkampf“. Doch danach, im Laufe des Dezember, konnten die Apparate sich dann dazu durchringen, einen Termin für den Protest anzusetzen. Selbst die CFDT-Spitze, die bis dahin hinhaltenden Widerstand gegen die Abhaltung eines Streik- und Aktionstags an den Tag gelegt hatte, bequemte sich nun zu einer Unterstützung der Demonstration. Alle acht größeren Gewerkschaftszusammenschlüsse (die fünf staatlich anerkannten Dachverbände plus die eher „moderate“ UNSA, der linke Zusammenschluss von Basisgewerkschaften Union syndicale Solidaires sowie die Bildungsgewerkschaft FSU) riefen dazu nun für den gestrigen Donnerstag auf. Das monatelange Hinhalten durch die Apparate, inklusive Verzögerungstaktik der CFDT-Spitze, haben nun aber vielleicht dafür gesorgt, dass sich ein umso stärkerer Druck der Basis aufgestaut hate - der sich nun Bahn gebrochen hat. Vielleicht also hatte das relativ lange Warten auch sein Gutes. Vorausgesetzt, dass nun mit dem nächsten Termin für einen Streik- und Aktionstage nicht wieder gar zu lange zugewartet wird.

Eindrücke von der Pariser Großdemo

Es drängt sich sogleich der Eindruck einer - im Vergleich auch zu anderen Demos - riesigen Menschenmenge auf, als ich gegen 15.30 Uhr das Eintreffen der Spitze in der Nähe der Kreuzung Strasbourg-Saint Denis erwarte.

Die ersten 30 bis 45 Minuten führen zunächst fast ausschließlich Berufsgruppen und Sektoren, die sonst nicht hauptsächlich das Bild von Streik- und Aktionstagen, zu denen die großen Gewerkschaftsverbände prägen. Voraus gehen die abhängig Beschäftigten von Associations (Sozialvereinigungen; eine ‚association’ im französischen Recht eine Art Mittelding zwischen Bürgerinitiative und eingetragenem Verein), medizinischen, Erziehungs- und psychiatrischen Einrichtungen sowie Krankenschwestern. Nur letztere Gruppe sieht man sonst gewöhnlich in größerer Zahl, und in strukturierten Blöcken, in den gewerkschaftlichen Demonstrationen. Nach Ablauf von einer Stunde laufen dieselben Gruppen durchmischt mit Lehrerinnen und Lehrern und mit den Sektionen des, populistischen, Gewerkschaftsbunds Force Ouvrière (FO). Dann folgen Medienschaffende und ihre Gewerkschaften, die ‚Intermittents du spectacle’ - prekär Beschäftigte im Kulturbetrieb -, Arbeitslosenvereinigungen. Nach über zwei Stunden folgt das Gros der „Truppen“ des Gewerkschaftsdachverbands CGT, der - wie fast immer - zahlenmäßig unter allen Gewerkschaftsorganisationen am stärksten vertreten ist. Unter ihnen auch größere Abordnungen aus der Privatindustrie, etwa von Peugeot und Renault. Den Schluss bilden die CFDT, der linke Zusammenschluss von (überwiegend) Basisgewerrkschaften Union syndicale Solidaires und ganz am Ende ein Technowagen mit der Aufschrift ‚Smic ta mère’. (Ähem, kaum zu übersetzen…)

Die außergewöhnlich starke Präsenz von (eher „intellektuell“ tätigen) Berufsgruppen wie den Mitarbeiter/inne/n von Bildungs- und Betreuungseinrichtungen, von medizinischem und psychiatrischem Personal sowie von Fernsehanstalten und sonstigen Medien erklärt sich aus den spezifischen Angriffen, denen diese Berufsgruppen derzeit ausgesetzt sind. Seitens der konservativ-reaktionären und wirtschaftsliberalen Regierung unter Präsident Sarkozy wird eifrigst versucht, diese Sektoren entweder einzumotten und finanziell in die Enge zu treiben, oder aber ihre Beschäftigten für repressive Ziele zu instrumentalisieren. Die Angestellten von Sozialvereinigungen/Associations, die beispielsweise Alphabetisierungskurse (oft für migrantische Frauen), Französischkurse für Ausländer/innen, antirassistische Arbeit oder Rechtsbetreuung anbieten, sehen sich etwa dem Kahlschlag bei den - für solche Tätigkeiten bislang zur Verfügung stehenden - Subventionen ausgesetzt. Bereits einmal, im Jahr 2005, war ihre Lage ähnlich dramatisch wie jetzt, damals waren die Subventionen für die Tätigkeiten der ‚Associations’ im laufenden Jahr um rund 50 Prozent gekürzt worden - doch als es im November 2005 in den sozial verwüsteten Trabantenstädten (Banlieues) heftig rappelte, beeilte die Regierung sich, diese Subventionen wieder einzuführen, da sie begriff, dass sie alle sozialen „Puffer“ zerstört hatte. Derzeit ist sie aber erneut im Begriff, die öffentliche Finanzierung für gemeinnützige Tätigkeit der Sozialvereinigungen drastisch zu kürzen, die Rede ist von einer Reduktion um 30 Prozent. Besonders jene Associations, die etwa Alphabetisierungskurse und Französischunterricht für Ausländer/innen anbieten, stehen finanziell oft vor dem Aus oder drohen, ihr angestelltes Personal nicht mehr bezahlen zu können. Seit dem vergangenen November hat sich ein Kollektiv unter dem Titel ‚Associations en danger’ dagegen gebildet. Aber auch falls die Kohle in naher Zukunft wieder rausgerückt werden sollte, so droht eine massive Umschichtung der Mittel - etwa hin zur ausschließlichen Finanzierung von „Französisch- und Integrationskurse“ für die (wenigen) „erwünschten“ und „legal“ einwandernden Neuzuwanderer, die aufgrund ihrer stark abgefragten beruflichen Qualifikationen angeworben worden sind. Unter dem neuen Amtsinhaber im Arbeits- und Sozialministerium, Brice Hortefeux, dem ehemaligen Minister für Ausländerjagd, pardon: „Einwanderung und nationale Identität“, droht es wohl kaum besser zu werden… (Vgl. im Labournet)

Ganz besondere Beachtung verdienen die Vorgänge im Sektor der Psychiatrie und psycho-sozialen Betreuung. Denn auf diesem Feld geht es nicht „nur“ um die verheerenden Auswirkungen staatlicher Sparpolitik, sondern auch um grundlegende gesellschaftliche Weichenstellungen im Umgang mit „Abweichenden“. Und auch auf diesem Sektor sind gravierende Veränderungen im Gange. Präsident Sarkozy und sein Team möchten die Beschäftigten auf diesem Gebiet gar zu gerne in eine Art Hilfspolizisten und -gefängniswärter verwandeln: Ihnen ginge es darum, etwa die Psychiatrie zunehmend zum Rädchen im Getriebe eines Straf- und Repressionsmechanismus zu machen, der die als „von Natur aus böse“ einzustufenden Individuen aufzuspüren und unschädlich zu machen hat. Am o2. Dezember 2008 hielt der Präsident in einer psychiatrischen Anstalt in Antony – bei Paris – eine Rede, in welcher er dazu aufforderte, Psychiatrieinsassen weniger Freigang zu gestatten und diesen schärfer zu kontrollieren. Ferner forderte er, 200 Isolierzellen in psychiatrischen Anstalten zu schaffen und in erhöhtem Ausmaß Behandlungen auch gegen den Willen der Betroffenen anzuordnen. Konkreter Anlass dazu war ein isoliertes Ereignis im Raum Grenoble, wo im November o8 ein Psychopath aus einer Anstalt ausgebrochen war und einen Studenten ermordete. Seitdem Sarkozy dies als Aufhänger für eine Programmrede mit allgemeinem Anspruch nutzte - auch ohne über Fachwissen über die Psychiatrie zu verfügen - , befindet sich der Sektor im Aufruhr.

39 Psychiater/innen und Anstaltsleiter/innen publizierten am 15. Dezember o8 in Libération einen Aufruf gegen die Instrumentalisierung der Psychiatrie zu repressiven Zwecken durch die Politik. Aus ihm ist inzwischen bereits der „Appell der 700“ geworden. Die linksliberale Zeitung ‚Libération’, die dem Aufruf ihr Tagesthema widmete, erinnerte daran, dass psychiatrische Kliniken in den letzten zwanzig Jahren ihre Bettenzahl um 100.000 reduziert und damit halbiert gesehen hätten. Zahlreiche Personen, die vor allem psychiatrischer Behandlung bedürfen, vegetieren heute in den Gefängnissen vor sich hin und werden fast ausschließlich als Straffällige behandelt: Haft statt Therapie. Zusätzlich möchte Präsident Sarkozy gern für als „gefährlich“ eingestufte Langzeitgefangene - auch nach vollständiger Abbüßung ihrer Haftstrafe - eine „Sicherheitsverwahrung“ verhängen können. Diese würde nicht durch einen Richter, sondern durch die Verwaltung – also die Exekutive - angeordnet werden. Begründet wurde ihre Einführung damit, dass die Gesellschaft vor gefährlichen Sexualstraftätern und Psychopathen zu schützen sei. Wer allerdings nach 15 oder 20 Jahren Haft noch immer als im Persönlichkeitsbild unverändert und „gefährlich“ eingestuft wird, dürfte eher ein Fall für Medizin und Psychiatrie denn für den Strafrichter sein. Was die zukünftige „Sicherheitsverwahrung“ – nach einem langjährigen Aufenthalt im Gefängnis - anbetrifft, so hat das französische Verfassungsgericht sie schon im Februar 2008 gebilligt. Um verfassungskonform zu sein, so ordneten die Richter freilich an, müsse sie allerdings schon zum Zeitpunkt der Verurteilung ausdrücklich im Gesetz vorgesehen gewesen sein. Insofern dürfte theoretisch erst in knapp 15 Jahren mit den ersten Fällen, in denen die neue Regelung rechtlich greifen kann, zu rechnen sein. Präsident Sarkozy hatte allerdings auf den Auslegungsvorbehalt der Richter zunächst reagiert, indem er ankündigte, sich notfalls darüber hinwegzusetzen.

Dagegen hat sich nun ein Kollektiv unter dem Namen ‚Contre la politique de la peur’ (Gegen die Politik der Angst) formiert, das auch in der gestrigen Demonstration gut sichtbar präsent war. Mehrere Abordnungen von medizinischem Personal und Krankenschwestern aus den psychiatrischen Anstalten liefen mit Transparenten mit, die etwa aussagten: „(Präsident) Sarkozy und (Gesundheitsministerin) Bachelot sind gefährlicher als unsere Patienten!“

Auch die Krankenschwestern und -pfleger haben ihre guten Gründe zum Protest. So plant dieselbe Ministerin, Roselyne Bachelot, in einem aktuell in der Ausarbeitung befindlichen Gesetzentwurf, die Anzahl der Krankenhäuser zu reduzieren. Denn die derzeit 1.050 Krankenhäuser und Kliniken in Frankreich sollen zu 200 regionalisierten Einheiten zusammengelegt werden. Die Folge wird sein, dass durch die Fusion bestehender Strukturen hervortretenden „Überkapazitäten“ - die durch die Dopplung von medizinischen Einrichtungen innerhalb ein und derselben Einheit entstehen - abgebaut werden. Aber vor allem in ländlichen Gegenden kann dies durchaus bedeuten, dass etwa die nächstliegende Entbindungsstation dann eben 40 Kilometer entfernt sein wird.

Bei den Medienschaffenden konnte man in dem Protestmarsch insbesondere den Mitarbeiter/inne/n der Fernsehstationen, aber auch des französischen Auslands-Rundfunksenders RFI (Radio France International), der aktuell kaputt „reformiert“ werden soll, und der französischen Nachrichtenagentur AFP - deren Status ebenfalls grundlegend verändert soll - begegnen. Bei den Fernsehanstalten richtet sich der spezifische Protest etwa dagegen, dass die öffentlich-rechtlichen Fernsehsender laut aktuellen Plänen der Regierung finanziell ausgetrocknet werden sollen, um die (oft besonders reaktionären) Privatanstalten wie TF1 zu begünstigen. (Vgl. im Labournet) Ein dazu in der Beratung befindlicher Gesetzentwurf ist Mitte Januar o9 durch den Senat - das „Oberhaus“ des französischen Parlaments - gegenüber der vorher durch Nationalversammlung beschlossenen Fassung ein wenig entschärft worden. Und befindet sich seit diesem Mittwoch, 28. Januar in einem Vermittlungsausschuss zwischen beiden Parlamentskammern, der über die gesetzlichen Konturen der „Reform des Fernsehens“ (réforme de l’audiovisuel) letztlich entscheiden wird. An den Grundzügen der „Reform“ wird dies schon deswegen nichts ändern, weil diese bereits umgesetzt wird, obwohl das dazu nötige Ausführungsgesetz noch gar nicht verabschiedet worden ist: Der aktuelle Direktor aller öffentlich-rechtlichen Fernsehsender Frankreichs, Patrick de Carolis, war kurz vor Weihnachten durch die Regierung genötigt worden, „freiwillig“ im Aufsichtsrat die Umsetzung der Reform - also den finanziellen Rückbau der öffentlich-rechtlichen Anstalten durch Wegfall der Werbeeinnahmen - schon einmal durchzuwinken. Der Beschluss dazu ist am 5./6. Januar gefasst worden.

Durch die Präsenz dieser Sektoren in der allgemeinen Protestdemo gegen die Abwälzung der Krisenlast auf die Lohnabhängigen erhielt diese einen hochpolitischen Charakter: Alle unterschiedlichen, derzeit laufenden Angriffe nicht nur auf die Arbeits- und Lebensbedingungen der Beschäftigten, sondern auch den grundlegenden sozialen Charakter einzelner Institutionen wurden so nebeneinander thematisiert.

Gleichzeitig zeichnete sich die gestrige Demo auch durch ein hohes Ausmaß an Fantasie und Spontaneität aus. Besonders großen Publikumserfolg hatte ein kleine Combo von „irgendwo“ her kommenden Leuten, die ein Transparent und zahllose Aufkleber mit einem einfachen Slogan gedruckt hatten: ‚Ni Pauvre ni Soumis’ („Weder arm noch unterwürfig“, woll’n wir sein). Eine satirische Anspielung auf den Namen einer 2002 entstandenen - und zunächst durchaus fortschrittlichen Zwecken dienenden, insbesondere aber zum reinen Legitimationsmäntelchen und Wurmfortsatz der „aufgeklärten“ bürgerlichen Mitte verkommenen - Frauenorganisation: ‚Ni Putes ni soumises’ (Weder Nutten noch unterwürfig). Diese stand mehrere Jahre unter Führung der Karrieristenschlange aktuellen Staatssekretärin unter Brice Hortefeux, Fadela Amara. (Ursprünglich dazu gegründet, die - tatsächlich oft ausgesprochen kritikwürdige - Lebenssituation von Frauen in Banlieues und Migrantenfamilien anzuprangern, fungiert dieser Verein inzwischen längst als Feigenblättchen für die „besseren Gesellschaftskreise“, um Nase rümpfend auf die bösen unaufgeklärten Unterklassen und Immigranten verweisen zu können.) Die Aufkleber in schwarz-gelber Farbe ‚Ni Pauvre ni soumis’ gingen nur so weg wie warme Semmeln. Besonders beliebt waren auch Abwandlungen des Präsidentenzitats ‚Casse toi, pauv’ con’ (Hau ab, Du armer Depp) - jener originalgetreuen Wiedergabe eines Ausrufs, den unser allzeit höfliches Staatsoberhaupt im Februar 2008 bei der Pariser Landwirtschaftsmesse ausstieß, als ihm da ein böser Besucher nicht die Hand schütteln mochte. Ein Mann, der es ihm im vorigen Jahr nachtat und denselben Ausspruch Sarkozy selbst zurief, wurde dafür strafrechtlich von ihm verfolgt. Und auch verurteilt, wegen „Beleidigung“ - allerdings „nur“, da die Richter es wohl doch nicht für soooo schlümm befanden, zu einer Geldstrafe von 30 Euro auf Bewährung. Aus diesem Grunde hatten manche Leute, völlig unabhängig voneinander, das Zitat ‚Casse-toi, pauvre con’ einfach abgewandelt. Beispielsweise in das, im Laufe der fünf Stunden Demo mehrfach auftauchende, ‚Casse-toi, pauvre thon’, mit Abbildung eines Thunfischs (französisch thon).

Auch sonst legten die Demonstrationsteilnehmer/innen recht viel Fantasie und Eigeninitiative auf den Tag. Sogar in den, sonst mitunter ziemlich dröge daherkommenden, Blöcken der CGT, wo dieses Mal oft recht flotte Musik - von ‚Bellaciao’ bis Manu Chao - lief. Auf einem selbst gedruckten bunten Fronttransparent, das eine CGT-Bezirkssektion aus dem östlichen Pariser Umland vor sich herzog, war ein Sarkozykopf unter der Guillotine ausgemalt. Die ‚Koordination der Intermittents du spectacle’ (prekären Kulturschaffenden) und Prekären’ besetzte am Rande der Demo ungefähr eine Stunde lang die Eingänge des Kulturkaufhauses ‚Virgin’. Grund dafür war, dass der Chef dieses Kaufhauses, Geoffroy Roux de Bézieux, seit Mai 2008 auch als Präsident der nationalen Arbeitslosenkasse UNEDIC amtiert (die, paritätisch in den Händen der „Sozialpartner“ liegend, durch eine Koalition aus Arbeitgeberverband Medef und CFDT verwaltet wird). Dazu gesellte sich alsbald die bekannte linksradikale Song- und Theatertruppe ‚Jolie Môme’ (Süßes Kind) mit ihren unverkennbaren Fahnen - rote Fahnen mit aufgenähten Theatermasken -, deren Präsenz wiederum viel Beifall aus der Demo heraus hervorrief.

Und das Ende vom Ganzen

Am Abend ist es bereits gegen 20 Uhr, als der letzte Teil des langen Demozugs an mir vorbeigezogen ist. Kaum habe ich beschlossen, nun endlich meine in einen Eisblock verwandelten Füße aufwärmen zu gehen, als ein Dutzend Polizeibusse der Bereitschaftspolizei CRS mit Blaulicht und Martinshorn vorbei in Gegenrichtung in die Demo hinein rauschen. Prompt mache ich kehrt und gucke mir an, was da los ist. Am Opernplatz gebe es Haue, wird mir erklärt. Tatsächlich hatte sich bereits eine Stunde zuvor eine rund 50jährige Dame bei mir nach einem Fastnood in der Nähe erkundigt und mir zugleich bekundet, sie und ihre Bekannten seien soeben vor der Oper in eine Polizeiprügelei verwickelt worden.

Auf dem Opernplatz angekommen, gegen 20.30 Uhr, ergibt sich folgendes Bild: Die massiv zusammengezogenen Polizeieinheiten hatten schon vor Stunden versucht, die Demo unter heftigem Druck von dem Platz fernzuhalten und umzuleiten - da dort viele teure Luxusgeschäfte liegen, wollte sie tunlichst schon präventiv Glasbruch vermeidet, baute aber dadurch erst recht selbst Druck auf. Zunächst hatte der Ordnerdienst der CGT noch selbst die Umleitung übernommen, auch um es nicht zur Eskalation kommen zu lassen, aber er hatte irgendwann den Platz verlassen. Von weitem schon sieht man eine lange Reihe glänzender Polizeischilde quer über den Boulevard stehen. Dazu brennen ein paar Mülleimer, und junge Leute sind eifrig bemüht, noch mehr Mülleimer heranzuschaffen. Einige Hundert Leute sind Anwesend, darunter mutmaßlich Anarchos und Autonome, aber auch „ganz normal“ aussehende Krankenschwestern und -pfleger in ihren weißen Kitteln, SUD-Gewerkschafter/innen… Im Laufe der Minuten wächst die Spannung, der Druck wird höher, und zusammen mit einem Gutteil der Anwesenden ziehe ich es vor, durch eine Seitenstraße zu entweichen - um weiter oben doch wieder auf den Boulevard zu stoßen. Dieser wird kurz darauf von der anderen Seite durch neu hinzukommende CRS-Einheiten dicht gemacht, und die Anwesenden befinden sich zum Teil alsbald in einem Kessel. Die Polizei lässt jedoch einen Gutteil der Personen, sofern sie „freiwillig“ weichen, durch die Nebenstraßen entweichen. Gleichzeitig nehmen kleine, mobile Polizeieinheiten in Zivil einzelne Personen aus der Menge heraus fest. Gegen 22 Uhr enden die Zusammenstöße.

Abzuwarten bleibt, ob die Bilder von diesen Minuten nunmehr die Medienberichterstattung prägen werden, oder eher das Gelingen der Großdemo in den Stunden zuvor. Dies kann im Moment - jedenfalls für die Printmedien - nicht beurteilt werden: Am Freitag früh erschien keine einzige Zeitung. Alle befanden sich am Vortag im Streik, und hätten die Journalist/inn/en nicht ihre Arbeit niedergelegt, so wären sie dennoch nicht ausgeliefert worden - alle Druckereien waren durch die CGT-Druckergewerkschaft blockiert.

Ausblick

Nun ist fraglich, wie die Regierung auf die Proteste reagieren wird. Bislang hat sie angedeutet, dass sie sich „die Botschaft der Protestierenden anhören wird“ (so etwa der bis vor kurzem amtierende Sozialminister und jetzige Chef der Regierungspartei UMP, Xavier Bertrand). Gleichzeitig hat Präsident Sarkozy, aber auch Premierminister François Fillon zu erkennen gegeben, dass am eingeschlagenen Kurs keine Änderungen vorgenommen würden.

Nicolas Sarkozy erklärt nach wie vor, es komme nicht in Frage, neben „Rettungsplänen“ für angeschlagene Banken und in Kreditknappheit geratene - oder dem Rückgang des Konsums ausgesetzte - Unternehmen auch den Lohnabhängigen durch seine Krisenpolitik etwas abzugeben. „Ankurbelung durch den Konsum der Haushalte“, so tönt Sarkozy, sei „wie Wasser auf den Sand zu gießen, das sich verläuft“. Entsprechend gibt er im Rahmen seines „Ankurbelungsplans“ (Plan de relance) von Anfang Dezember o8 auch - von insgesamt 26 Milliarden vorgesehenen Euros - 25 Milliarden für Wirtschaftsförderung aus, und nur knapp eine Milliarde zugunsten der unteren Einkommen. Und letztere wird wiederum fast ausschließlich auf die Bezieher/innen des neu geschaffenen RSA (eine Art Kombilohn, mittels dem Hungerlöhne durch staatliche Beihilfe aufgestockt werden) konzentriert, um dessen Einführung schmackhaft zu machen. In naher Zukunft soll der RSA vollständig die bisherige Sozialhilfe (den RMI) ablösen. Noch in dieser Woche bekräftigte Sarkozy seine Vorhaben in diesem Zusammenhang: „Wer den RSA empfängt und zwei Jobangebote ausschlägt, dem drehen wir den Hahn vollständig zu.“ (Zitiert nach ‚Le Monde’ vom Mittwoch, Artikel v. Arnaud Leparmentier)

Bei dieser eingeschlagenen Linie soll es auch bleiben, obwohl selbst ein ausgesprochen „moderater“ Gewerkschafter wie François Chérèque (in einem Interview vom Mittwoch früh) durchaus ernstzunehmende Gegenvorschläge präsentiert: Auf den Einwand, Beihilfen für die Lohnabhängigen verliefen sich im Sande, da sie - so das Regierungslager - entweder in Sparguthaben verwandelt und auf die Seite gelegt oder für ausländische Produkte ausgegeben würden, erwidert er, dass sich Beihilfen ja auch gezielt geben ließen. Etwa durch die Verringerung der in Frankreich, mit 2o,6 %, monströs hohen Mehrwertsteuer auf bestimmte Grundbedarfsgüter. (Dies würde freilich Aushandlungen mit Brüssel notwendig machen, das in der Steuerpolitik mitzureden hat.) Und dass ärmere Haushalte etwaige finanzielle Hilfen in Sparguthaben verwandeln, ist bei der derzeitigen Entwicklung der Löhne einerseits und der Preise, aber insbesondere der Mieten andererseits ohnehin kaum zu erwarten…

Dennoch scheint es Präsident Sarkozy nun unwohl geworden zu sein. Einen arroganten Spruch wie noch vor 14 Tagen Originalton: „Ich höre (Opponenten und Protestierenden) zu, aber ich berücksichtige nicht, was mir da gesagt wird“ (‚J’entends, mais je n’en tiens pas compte’) - würde er im Augenblick wohl nicht mehr so offen wagen. Zum einen Ohr hinein, zum anderen hinaus? In der Praxis wird er es vielleicht weiterhin so halten, aber so offen ankündigen dürft er es im Moment nicht. Ein Anzeichen der Nervosität ist wohl, dass Sarkozy eine aus geostrategischen Gründen wichtige Reise - die ihn ursprünglich am 28. und 29. Januar nach Kinshasa, Hauptstadt der Demokratischen Republik Kongo, führen sollte, wo die US-Amerikaner Frankreich gerade seine geopolitische Rolle streitig machen - um zwei Monate verschoben hat: Diese findet nun am 26. März statt. Die liberale Pariser Abendzeitung ‚Le Monde’ vermeldet dazu, die Regierung habe Angst vor einer „tiefen sozialen Krise“.

Nunmehr möchte Nicolas Sarkozy für Februar 2009 die sozialen Interessenverbände, unter ihnen die Gewerkschaften, zu einer Unterredung in den Elysée-Palast vorladen. Die CGT hat ihn aber bereits gewarnt, sie halte nichts davon, „reihenweise Termine für Nichts abzuhalten“.

Fortsetzung folgt, und darf mit Spannung erwartet werden. Insbesondere auch die Frage, ob es einen baldigen neuen Termin für einen Streik- und Aktionstag geben wird…

Bernard Schmid, Paris, 30.01.2009
Quelle: labournet