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Estland: Konflikt in Tallinn nach Abriss sowjetischer Statue

Ein Interview mit Ilya, einem Aktivisten aus der russischen sozialen Bewegung Vpered.

30.05.2007

Kannst du beschreiben, was du erlebt hast, als du vor einigen Tagen in Tallinn (auf Russisch Reval), der Hauptstadt Estlands, warst?

Am 26./27. April fand ich mich im Zentrum der Massenproteste in Tallinn wieder. Als sie begannen, das Denkmal des sowjetischen Soldaten abzureißen, bewegten sich am Abend tausende Menschen, mehrheitlich russisch-sprachige Teenager aus dem Lasnamea-Bezirk, der wie ein russisch-sprachige Ghetto ist, spontan in die Innenstadt.

Es gab sehr wenige politische Forderungen, Slogans oder irgendwelche organisierte Gruppierungen. Junge Menschen (einige waren ungefähr 13 bis 14 Jahre alt) wollten nur ihren Ärger gegen den Staat demonstrieren, zerschlugen teure Läden, Kasinos und Banken. Während dieser Tage wirkte die Polizei völlig unfähig, die Situation zu kontrollieren. Am Abend des 26. begannen sie, einige der Protestierenden zu verhaften. Ein junger Russe wurde getötet – es war nicht klar, von wem.

Am Morgen des 27. machte der Präsident Estlands, Henrick Ilves, eine Aussage im Fernsehen, wo er die Jugendlichen als „Vandalen“ verurteilte und zu „Ruhe und Ordnung“ aufrief. Ich war in einem Café, in dem estische Leute Ilves Rede anhörten – sie sahen geschockt und enttäuscht aus. Noch wenige Tage zuvor hätte niemand eine derartige Revolte in Tallinn erwartet! Am Abend des 27. ging die Revolte weiter. Zu dieser Zeit war ich am Freiheitsplatz, dem zentralen Platz in Tallinn. Ungefähr 3.000 junge Leute kamen auf den Platz, ohne bestimmtes Ziel. Einige trugen russische Fahnen, einige hatten selbst gemachte Transparente mit der Aufschrift „Ansip Nein!“ (Andrus Ansip ist der Premierminister). Die Art ihrer Gefühle war sehr widersprüchlich – es war wie ein Mix aus großrussischem Chauvinismus und sozialem Protest.

Ich habe gelesen, dass Russen die estischen Behörden und die estischen Nationalisten als „Faschisten“ betrachten. Ist das so? Gibt es einen Funken Wahrheit in derartigen Beleidigungen?


Das ist natürlich nur Propaganda. Das Problem ist, dass der heutige Staat Estland von Anfang, von 1991 an, auf der Idee einer direkten Kontinuität mit der estischen Republik basiert, die von 1919 bis 1940 existiert hat. Dieser Idee zufolge können nur jene Menschen StaatsbürgerInnen sein, deren Eltern vor 1940 Staats¬bürgerInnen waren. Das heißt, dass 30% der Bevölkerung Estlands, die Nicht-EstInnen sind, spezielle Prüfungen bestehen müssen, um StaatsbürgerInnen zu werden. Die offizielle Geschichtsversion Estlands nennt die sowjetische Periode „Besatzung“ und präsentiert estische Mitglieder der SS-Divisionen im Zweiten Weltkrieg als „Freiheitskämpfer“. Gleichzeitig sollte daran erinnert werden, dass Ende der 1940er-Jahre mehr als 100.000 EstInnen (ungefähr 10% der Bevölkerung) vom NKWD deportiert oder erschossen wurden. Das heißt, dass du noch heute in jeder estischen Familie jemanden hast, der vom stalinistischen Staat repressiert wurde. Ich denke dass aus diesem Grund das Wesen des estischen Nationalismus sehr kompliziert ist – einerseits ist er ein typischer Nationalismus einer „kleinen Nation“, andererseits hat er sehr starke antikommunistische und weit rechst stehende Elemente.

Was denkst du über die Frage des Denkmals für die Rote Armee? Wird es von EstInnen nicht richtigerweise als Symbol ihrer nationalen Unterdrückung durch die Staatsbehörden der großrussisch dominierten UdSSR betrachtet?

Ich denke die Frage des Denkmals wurde von der estischen Regierung aus politischen Gründen vorgebracht, hauptsächlich, um eine starke und scharfe Reaktion aus Russland zu provozieren. Das Denkmal war jeden 9. Mai ein traditioneller Treffpunkt alter russisch-sprechender Veteranen des Zweiten Weltkriegs, und in den vergangenen 15 Jahren regte sich nur in einem marginalen Teil der extremen Rechten Widerstand dagegen. Erst 2006 begann die Reformpartei, eine der größten Parteien Estlands, über das Denkmal zu sprechen. Die letzten sechs Monate lang gab es eine wachsende Hysterie in Bezug auf das Denkmal, sowohl in den estischen, als auch in den russischen Medien, die meiner Meinung nach wenig mit historischen Fragen und den wirklichen Gefühlen der Leute zu tun hatte.

Wie charakterisierst du die wichtigsten Parteien der jetzigen „Mitte-Links“-Regierung und der parlamentarischen Opposition in der estischen Rigikoga (Parlament)?


Nach den letzten Wahlen im März 2007 gibt es drei Parteien in der Regierung: die Reformpartei, rechts der Mitte, neoliberal und extrem EU-freundlich, deren Führer Andrus Ansip Kopf der Regierung ist, dann die „Union für das Vaterland und die Republik“, eine rechte, konservative und nationalistische Kraft; und schließlich die Sozialdemokratische Partei, offizieller Nachfahre der historischen Estischen Sozialdemokratie, die in Wirklichkeit eher wie eine liberale Pro-EU-Partei aussieht. In der estischen Politik ist die Regierung also rechts der Mitte. Die wichtigste Oppositionskraft im Parlament ist die Zentrumspartei, die traditionellerweise „sozialer“ ist als die Reformpartei und ihre Partner. Ihr Führer, Edgar Savisaar, der jetzt Bürgermeister von Tallinn ist, war von Beginn an gegen die Idee, das Denkmal für den sowjetischen Soldaten beiseite zu schaffen. Die Zentrumspartei orientiert also mehr als die anderen darauf, in der Wahl „russische Wahlstimmen“ zu sammeln.

Könntest du kurz etwas über die ArbeiterInnenbewegung in Estland sagen (Gewerkschaften, ArbeiterInnenparteien, die Arbeitslosenbewegung, etc.)?


Es gibt derzeit einen Gewerkschaftsverband, den Zentralverband der Estischen Gewerkschaften (EAKL), der nur im öffentlichen Sektor ein bisschen aktiv ist, und der auch estische ArbeiterInnen in anderen Ländern der EU vertritt. (Es gibt zur Zeit ungefähr 100.000 EstInnen, die in Finnland, Schweden, Irland, etc. leben und arbeiten). Gegenwärtig gibt es keine ArbeiterInnenpartei in Estland. Alle linken Gruppen sind sehr klein und haben keinen Einfluss auf die ArbeiterInnenbewegung.

In Moskau protestieren Menschen vor der Estischen Botschaft. Wer sind diese Leute? Die russische staatliche Eisenbahngesellschaft hat verkündet, dass die Lieferung von Benzin „aufgrund von Reperaturarbeiten“ unterbrochen sein könnte. Wie beurteilst du das Verhältnis der beiden Staaten und deren Regierungen zueinander?


Über die letzten paar Wochen haben wir eine immer größer werdende Kampagne gegen Estland gesehen, organisiert von regierungsfreundlichen russischen Medien, der Partei „Einiges Russland“ und einigen mit ihr verbundenen Jugend¬organisationen. Diese Jugendorganisationen, die eng mit der Präsidial-Administration verbunden sind, organisierten eine Blockade der Estischen Botschaft in Moskau und sammelten Unterschriften, um „die Estische Botschaft aus Moskau zu vertreiben“. Ich denke, diese Kampagne hat vor allem einen internen Zweck – um die Öffentlichkeit auf die sehr abstrakte Frage zu lenken, den „Estischen Faschismus zu bekämpfen“, was nichts mit den realen politischen und sozialen Problemen in Russland zu tun hat, inklusive dem Problem des wachsenden russischen Nationalismus, der von der Regierung gefördert wird. Die russische diplomatische Offensive gegen Estland bezweckt auch, vor dem Russland-EU-Gipfel, der nächste Woche in Samara stattfinden wird, Druck auf die EU auszuüben. In diesem Konflikt versucht die estische Regierung auch, mit der EU zu spielen, die Gefährlichkeit Russlands demonstrierend, um mehr Hilfe von der EU zu bekommen.

Wie ist die soziale Situation der russisch-sprachigen Minderheiten in den baltischen Republiken? Was ist dein Eindruck von den politischen Stimmungen und Kräften unter den russisch-sprachigen Bürgern Estlands?

Laut offiziellen Zahlen vom Jahr 2000 gibt es ca. 1,4 Millionen EinwohnerInnen in Estland. Davon sind 65,3% estisch und 28,1% russisch, dann gibt es noch einige kleine Minderheiten, UkrainerInnen, WeißrussInnen und FinnInnen. 67% sprechen estisch, 30% russisch. In Lettland gibt es ungefähr dieselbe nationale Balance. In diesen zwei Ländern findet man in Wahrheit eine Situation von zwei kommunal getrennten Gesellschaften – separate russische Schulen, russisch-dominierte Gegenden in großen Städten, russische Bars und Clubs, ein separates russisches politisches Spektrum, von rechts bis links. In Lettland zum Beispiel wählen RussInnen nur „ihre“ Parteien. Die größte von ihnen, die Bewegung für Bürgerrechte, hat derzeit einen Abgeordneten im Europäischen Parlament. Diese Situation hat ihren Ursprung in der damaligen stalinistischen Politik, als in den 50er- und 60er-Jahren viele RussInnen nach Lettland und Estland zogen, um in den Fabriken zu arbeiten, diese Republiken nur als weiteren Teil eines großen sowjetischen Landes begriffen und niemals das Interesse aufbrachten, die lettische oder estische Sprache zu lernen. Nach 1991 tat die lettische und estische Regierung wiederum nichts, um diese Leute in die neue Gesellschaft zu integrieren. Mehr noch: sie taten alles, um dies unmöglich zu machen. Heute bilden russisch-sprechende Menschen zumeist den armen Teil der Gesellschaft. Viele junge Leute fühlen, dass sie keine Perspektiven im Leben haben. Diese Situation gibt der russischen Regierung die Möglichkeit, das Problem der baltischen RussInnen zu gebrauchen, um die EU unter Druck zu setzen, verschiedene politische Manöver einzuleiten, etc.

Weißt du irgendetwas über die progressiven oder radikalen Gruppen in Estland, sowohl die antikapitalistischen, als auch antistalinistischen? Gibt es kulturelle und politische Bewegungen in Estland, die anti-chauvinistisch und nicht pro-westlich sind? Gibt es da gegenwärtig Zusammenarbeiten mit ähnlichen russischen Gruppen?

Es gibt nur wenige linke Gruppen in Estland. Da ist die Linkspartei, reformierte ExkommunistInnen, die vollwertiges Mitglied der Europäischen Linkspartei ist. Sie hat keine starke Position in der estischen Politik – bei den letzten Wahlen erreichte die Partei weniger als 1% der Stimmen. Es gibt auch eine neue anti-kapitalistische/globalisierungs¬kritische Jugendgruppe, die sich „Rot-Schwarz“ nennt (Punamust auf Estisch). Sie ist eine mehrheitlich estisch-sprachige Jugendgruppe, die versucht, ein paar antikapitalistische und antifaschistische Aktivitäten zu machen. Unglücklicherweise gibt es hier nicht wirklich Verbindungen zwischen ihnen und der russischen Linken.

Quelle: www.internationalviewpoint.org