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Erstes US-amerikanisches Sozialforum: Die USA verändern

Zehntausend VertreterInnen großer und kleiner Organisationen und Initiativen diskutierten vom 27.6. bis 1.7. in Atlanta, Georgia, in Hunderten von Workshops eine der kompliziertesten Fragen: Wie kann man aus den USA ein demokratisches Land machen?

28.08.2007

Das erste Sozialforum der USA wurde am 26.Juni mit der Vorpremiere von Michael Moores neuem Film Sicko eröffnet. Der Angriff des provokanten Filmemachers auf die privaten Krankenversicherungsunternehmen, die das Leben und die Gesundheit von 300 Millionen US-Bürgern beherrschen, passt haargenau auf die Geschichte der Krankenpflegerinnen, die seit Jahren die Abschaffung der privaten Krankenversicherung fordern. "Unser Kampf für ein öffentliches Gesundheitssystem", erzählt die führend in dieser Bewegung engagierte Rita Valenti in Atlanta, "verfügt nun über ein Instrument mehr. Das ist der Begeisterungsschub, den wir erwartet haben. Das Forum hätte nicht besser beginnen können."
Den offiziellen Beginn des United States Social Forum (USSF) bildet die Demonstration am 27.Juni ins Stadtzentrum von Atlanta. Vertreter der natives, der indigenen Völker, laufen in der ersten Reihe. Ihre Organisationen, vor allem die der Tscherokesen, haben hart dafür gearbeitet, dass das Forum "in diesem Teil des Territoriums der Kolonialregierung, die Vereinigte Staaten genannt wird", stattfinden konnte. Zusammen mit den Tscherokesen, den Schoschonen, den Seminolen kamen auch Ureinwohner Alaskas, die von Erdölbohrungen und von den klimatischen Veränderungen in ihrer arktischen Umwelt bedroht werden, sowie Ureinwohner aus Hawaii, dem 50.US-Bundesstaat, der in eine Touristenkolonie verwandelt wurde. Sie haben viel zu sagen, die natives, die Krankenschwestern, die "Latinos", die Migranten, die Afroamerikaner und die zahllosen sozialen Minderheiten, die zusammen über zehntausend Delegierte nach Atlanta entsandt haben.
"Es war eine gewaltige Anstrengung", erzählt Alice Lovelace, eine der Organisatorinnen. "Wir haben das Forum in zwei Jahren aufgebaut, mit Hunderten von Versammlungen im ganzen Land, von Seattle bis Florida."
Es ist nicht leicht gewesen, Tausende kleiner lokaler Organisationen und Hunderte landesweiter Netze von der Teilnahme an diesem ehrgeizigen Projekt zu überzeugen. Es war z.B. sehr mühsam, die großen Gewerkschaftsverbände wie den AFL-CIO für eine Beteiligung am USSF zu gewinnen — auf dem Forum nahm er an den Versammlungen über die Rechte der Lohnabhängigen teil.
"Wir haben Atlanta gewählt, um auf ideelle Weise eine Brücke zur letzten großen Massenbewegung in der Geschichte der USA zu schlagen", erklärt Alice. "Die Bürgerrechtsbewegung war übergreifend, geografisch wie auch hinsichtlich ihrer sozialen Zusammensetzung. Auf diesem Boden stehend hoffen wir, mit dem Forum eine neue, große Massenbewegung anzustoßen, die das Land verändern kann ... Wir wollen als soziale Bewegungen unsere Autonomie gegenüber den Parteien deutlich machen. Und vor allem sind wir daran interessiert zu betonen, was uns von den beiden Parteien unterscheidet: Wir wollen nicht, dass die USA weiterhin als einsame Supermacht gesehen werden. Wir wollen mit den Bewegungen der anderen Länder zusammenarbeiten, die uns helfen können, unser Land zu verändern."
Dazu waren Delegationen aus Europa und Lateinamerika, aber auch aus Asien, Afrika und Australien angereist. Die informelle Losung lautete "Kontamination": "Die Formulierung von Themen dient dazu, die Diskussion zu strukturieren", sagt Rita Valenti, "aber wir wissen wohl, dass alles zusammengehört."
Das erste Plenum auf dem Forum ist dem Wiederaufbau von New Orleans und der Regionen am Golf von Mexiko gewidmet, die vor zwei Jahren durch den Hurrikan Katrina verwüstet wurden. In der Präsentation dazu heißt es: "Die Zerstörung von New Orleans zeigt die historische Rolle, die Rassismus, Genozid, Sklaverei und Militarismus ebenso wie Sexismus, Ausbeutung und die weiße Vorherrschaft spielen, aber sie ist auch ein Beispiel für die Umweltkrise und die Entscheidung der Bundesregierung, die armen Gemeinschaften aufzugeben..." Es ist die Rede vom "Rückkehrrecht" — wie für die Palästinenser nach 1948.
Das zweite Plenumsthema, mit dem ersten direkt verbunden durch die Erfahrung der afroamerikanischen, armen weißen und Latinobevölkerungen, lautet: "Krieg, Militarismus und der Komplex der Gefängnisindustrie". "Die US-Regierung bedroht immer mehr Länder mit Invasion, Bombardements und Bestrafung, gleichzeitig leiden immer mehr Menschen in den USA im Gefängnis unter staatlicher Gewaltanwendung. Wir müssen uns fragen, was wir tun können, um den Krieg der US- Regierung gegen die Völker der Welt zu stoppen", heißt es in der Präsentation.
Die Aspekte dieses Krieges werden in den übrigen vier Plenarveranstaltungen untersucht: die Rechte der Migranten, sexuelle Gerechtigkeit, die Rechte der Arbeitenden, die Stimmen der indigenen Völker. "Wir wollen nicht nur die Diskurse zusammenführen", erklärt Rita Valenti. "Zum Beispiel gibt es einen Raum, der dem Thema ‘Pflege, Wohlergehen und Umweltgerechtigkeit‘ gewidmet ist. Damit sollen Bündnisse zwischen solchen Bewegungen aufgebaut werden, die wie die Krankenschwestern für ein besseres Gesundheitssystem kämpfen, und solchen, die ein anderes Herangehen an die Gesundheit verfolgen, und dann noch zwischen diesen und den Bewegungen, die sich für Umwelt und ökonomische Gerechtigkeit einsetzen — denn die erste Ursache für Krankheit heißt Armut."
Das Forum in Atlanta bestand nicht nur aus einer langen Liste von Klagen. Die Friedensbewegung der letzten Jahre, die Bewegung der Migranten im Jahr 2006 und davor die Anti-WTO-Proteste in Seattle haben eine Vielzahl von Erfahrungen lokaler Selbstorganisation angehäuft. Dazu gehören z.B. die sozialen Netze, die im Südwesten den Migranten helfen, den Bundesgesetzen und den lokalen "Vigilantes", die der Polizei helfen, zu entkommen. Das Forum ist die erste landesweite Gelegenheit zu ermessen, wie weit ihre Fähigkeit reicht, die "anderen" Vereinigten Staaten aufzubauen, die "nötig sind, wenn eine andere Welt möglich" werden soll.
Der augenfälligste Baustein dazu ist das Center for Media Justice, das anlässlich des Forums errichtet wurde. Die großen Medien haben der unermüdlichen Arbeit am Forum monatelang keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt. Erst in den letzten Wochen kamen erste Anfragen nach Interviews und erste Berichte. "Die Mainstreammedien interessieren uns nicht sehr", erklärt Alice. "Wir haben ein großartiges Medienzentrum errichtet, das jede nötige Unterstützung liefert und Seminare für unabhängige Medien durchführen wird. Sie werden im ganzen Land die Inhalte des Forums, die Vorschläge, Kampagnen und Debatten verbreiten."
Die Begeisterung ist groß: "Schon allein die Organisierung des Forums ist für uns eine unglaubliche Erfahrung, die uns verändert hat", sagt Rita, "und wir hoffen, dass diese Dynamik anhält." "Wie stark sind die sozialen Bewegungen in den USA?", fragt sich Alice. "Ich hoffe in einigen Tagen die Antwort zu haben. Deshalb haben wir uns hier in Atlanta versammelt. Wenn wir die Antwort haben, werden wir auch sagen können, was wir imstande sind zu tun."

Enzo Mangini
(Quelle: carta, Übersetzung Hans-Günther Mull)