Ein kolonialer Prozess. Zur Hinrichtung von Saddam Hussein
Tariq Ali
Es ist kennzeichnend, dass das Jahr 2006 mit einer kolonialen Hinrichtung endete, die nahezu vollständig (bis auf die letzten Momente) vom staatlichen Fernsehen des besetzten Irak gezeigt wurde.
11.05.2007
Die Manipulation des Prozesses war so offensichtlich, dass sogar Human
Rights Watch – die größte Organisation der amerikanischen
Menschenrechtsindustrie – ihn als eine vollständige Farce verurteilen
musste. Auf Anordnung Washingtons wurden Richter ersetzt, Anwälte der
Verteidigung ermordet, und das gesamte Verfahren erinnerte an eine gut
inszenierte Lynchjustiz.
Während die Nürnberger Prozesse eine würdigere Anwendung der
Siegerjustiz gewesen sind, so war der Prozess gegen Saddam das bislang
krasseste Beispiel. Die Tatsache, dass der Präsident und Meisterdenker
Bush ihn als „Meilenstein auf dem Weg zur Demokratie im Irak“
bezeichnete, zeigt klar, dass hier Washington den Finger am Abzug
hatte. Die erbärmlichen Führer der Europäischen Union – theoretisch
Gegner der Todesstrafe – schwiegen wie gewöhnlich.
Während in Bagdad einige schiitische Fraktionen feierten, enthüllte ein
relativ unabhängiges Institut, das Iraq Centre for Research and
Strategic Studies (das nach eigener Angabe „das erforderliche
Bewusstsein für die Verwirklichung der demokratischen Freiheiten
verbreiten, die demokratischen Werte und die Grundlagen der
Zivilgesellschaft festigen will“), mit seinen veröffentlichten Zahlen,
dass fast 90% der IrakerInnen denken, dass die Situation im Land vor
der Besetzung besser gewesen sei.
Die Untersuchung des ICRSC beruht auf detaillierten
Haus-zu-Haus-Interviews in der dritten Woche im vergangenen November.
Nur 5% der Befragten meinten, dem Irak gehe es heute besser als im Jahr
2003. 89% sagten, dass sich die politische Lage verschlechtert habe;
79% sehen einen Niedergang der Wirtschaft; 9% behaupten, dass sich
nichts geändert hätte. Es überrascht nicht, dass 95% meinen, dass sich
die Sicherheitslage verschlechtert habe. Interessant ist, dass sich
ungefähr 50% der Befragten als „Muslime“ definierten, 34% als
„Schiiten“ und 14% als „Sunniten“.
Dazu kommen noch die vom UNHCR gelieferten Zahlen: Seit März 2003 sind
1,7 Millionen IrakerInnen (7% der Bevölkerung) ins Ausland geflüchtet,
und jeden Monat verlassen 100.000 das Land: Christen, Ärzte,
Ingenieure, Frauen usw. Diese Flüchtlinge rufen nicht die Sympathie der
westlichen öffentlichen Meinung hervor, denn die Ursache des Phänomens
ist die Besatzung der USA (mit Unterstützung der EU). In diesem Fall
wird kein Vergleich mit den Gräueltaten des Dritten Reichs angestellt
(wie es beim Kosovo jedoch der Fall war). Vielleicht sind es diese
Statistiken (und die Schätzungen von einer Million Toter IrakerInnen),
die die Hinrichtung Saddam Husseins verlangten?
Dass Saddam ein Tyrann war, steht außer Zweifel, aber dabei wird gerne
vergessen, dass er den größten Teil seiner Verbrechen begangen hatte,
als er ein treuer Verbündeter derjenigen war, die heute den Irak
besetzt halten. Wie er während des Prozesses zugegeben hat, war es die
Zustimmung Washingtons, die ihm während des Iran-Irak-Krieges die
Sicherheit verschaffte, über Halabja Giftgas versprühen zu können. Er
verdiente einen Prozess und eine angemessene Bestrafung in einem
unabhängigen Irak. Aber nicht dies.
Über die Doppelmoral des Westens ist man immer wieder verblüfft. Der
indonesische Diktator Suharto, der auf einem Berg von Leichen regierte
(mindestens eine Million, wenn wir die niedrigsten Schätzungen
akzeptieren), ist von Washington geschützt worden. Er hat ihnen auch
nicht so viel Ärger bereitet wie Saddam.
Und was ist mit denen, die das heutige Chaos im Irak angerichtet haben?
Die Folterknechte von Abu Ghraib, die erbarmungslosen Schlächter von
Fallujah, die Urheber der ethnischen Säuberung in Bagdad, der kurdische
Gefängnisdirektor, der sich rühmt, dass Guantánamo sein Vorbild ist?
Wird Bush und Blair jemals wegen der Kriegsverbrechen der Prozess
gemacht werden? Daran ist zu zweifeln. Und Aznar, der jetzt als Dozent
an der Georgetown University in Washington D.C. engagiert wurde, wo die
Unterrichtssprache Englisch ist, wovon er kein Wort spricht? Seine
Belohnung ist eine Strafe für die Studierenden.
Der Lynchmord an Saddam könnte einen Schauer über das kollektive,
wenngleich künstliche Rückgrat der regierenden arabischen Eliten
rieseln lassen. Wenn Saddam aufgehängt werden kann, so kann dies auch
Mubarak, dem haschemitischen Joker in Amman und dem saudischen
Königshaus passieren, solange diejenigen, die sie stürzen, das Glück
haben, mit Washington zusammenzuarbeiten.
16-01-2007, 19:55:00 |Tariq Ali