"Der Hunger brennt uns Löcher in den Magen" - Weltweite Revolten gegen die Teuerung
Angela Klein
Frauen und Textilarbeiter standen vielfach an der Spitze der Hungerrevolten, die sich wie ein Lauffeuer Anfang April um den Globus ausbreiteten. Drei Milliarden Menschen — die Hälfte der Menschheit — leben von weniger als 2 Dollar am Tag. Für sie sind die Preise für Grundnahrungsmittel in den vergangenen Monaten jedoch ebenso gestiegen wie in Europa: Grain wurde 2007 auf dem Weltmarkt um 42% teurer, Milchprodukte um 80%, Weizen um 130% und Reis um 74%. Laut Angaben der UNO hat sich eine Mahlzeit in den armen Ländern um 40% verteuert — das ist ein Durchschnittswert. In über 30 Ländern rund um die Welt brachen daraufhin vor allem im April Streiks, Massenaufstände und Hungerrevolten aus, die sich gegen die drastische Verteuerung und Verknappung von Grundnahrungsmitteln richteten.
21.06.2008
Haiti
Sechs Tage dauerten die Aufstände in Haiti Anfang April. Haiti ist das ärmste Land der Welt;
hier leben 80% der Bevölkerung von weniger als 2 Dollar pro Tag, ein Erwachsener muss mit 1640 Kalorien
auskommen, 640 weniger als der Durchschnitt. Arme Familien essen kleine Kuchen aus Tonschlamm, die ein wenig
Salz und Fett enthalten.
Sie nahmen ihren Ausgang in Les Cayes,
Hauptstadt der Südprovinz und drittgrößte Stadt des Landes. Tausende zogen auf die
Straße gegen die Teuerung, die Menge setzte eine UN-Polizeistation in Brand, während gleichzeitig
Reis von Traktoren gestohlen wurde. Die Bewegung breitete sich innerhalb von drei Tagen im ganzen Land aus.
Am 7.April begann in der Hauptstadt Port-au-
Prince ein viertägiger Aufstand, der das gesamte Wirtschaftsleben lahm legte: die UN-Polizei (Minustah)
ging mit Tränengas und Gummiknüppeln gegen die Menge vor; vier Menschen starben.
Supermärkte und Reisdepots wurden auch
hier geplündert. Sie quellen über von Reis, Mehl und anderen Grundnahrungsmitteln aus UN-
Hilfsprogrammen, dazu gedacht, an die notleidende Bevölkerung verteilt zu werden. Die Regierung hat sie
jedoch gehortet, um die Preise hoch zu halten und sie auf dem Schwarzmarkt teuer verkaufen zu können.
Am 8.April versuchten deshalb Tausende, den
Präsidentenpalast zu stürmen, und forderten den Rücktritt von René Préval,
Präsident von US-Gnaden. Préval musste zurücktreten um zu verhindern, dass ihn dasselbe
Schicksal ereilte wie 1986 Jean-Claude Duvalier.
Haiti wird vollständig von wenigen
Familien kontrolliert: Mevs, Brant, Biggio, Boulos u.a. Wenige Großgrundbesitzer kontrollierten schon
immer seit der Kolonialzeit die landwirtschaftliche Produktion, die vollständig auf die Belieferung des
US-amerikanischen Marktes ausgerichtet war.
Seit der Reagan-Ära aber haben sie die
Produktion im Inland aufgegeben und sich darauf verlegt, dieselben Nahrungsmittel zu importieren und diesen
Import vollständig zu kontrollieren. Ihre Profite investieren sie nicht in Haiti, sondern anderswo. In
Haiti selbst wird deshalb nur noch wenig Reichtum hergestellt; die Mehrzahl der Bevölkerung
überlebt dank der Überweisungen von Auswanderern.
Ägypten
Im Mittelpunkt der Aufstände in Ägypten standen die Beschäftigten der Textilbetriebe in
Mahalla al-Kubra, einer Stadt im Nildelta. Sie führen seit Dezember 2006 Arbeitskämpfe für
höhere Löhne. Fast die Hälfte der Einwohner des Landes lebt von weniger als 2 Dollar am Tag.
Die Menschen stehen vor den Bäckereien Schlange, die subventioniertes Brot verkaufen. Hier hat es in
jüngster Zeit 15 Tote durch Schlägereien gegeben. Die unabhängige Textilarbeitergewerkschaft
fordert die Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns von derzeit 6,40 US-Dollar auf 222 US-Dollar.
Am 8.April sollten Kommunalwahlen
stattfinden. Die Opposition — arabische Nationalisten, moderate Islamisten und Sozialisten — hatte
ein gemeinsames Bündnis namens Kifaya (Genug) geschlossen — die ägyptische Bewegung für
einen Wandel. Das Bündnis rief dazu auf, an dem Tag in einen landesweiten Streik zu treten und jede
wirtschaftliche Aktivität zu boykottieren. Um die Ausnahmegesetze zu umgehen, mobilisierten die
Organisatoren über SMS und das Internetportal Facebook.
Der Staatsapparat aber bekam Wind davon und
wies die Polizei an, in jeder Stadt des Landes die wichtigsten Plätze mit Einheiten zur
Aufstandsbekämpfung zu besetzen. Dennoch blieben Hunderttausende zu Hause.
In Mahalla brach der Aufstand schon zwei
Tage vorher los. Weil sich die regierungsfreundliche Gewerkschaft gegen den Streik stellte und zu
befürchten war, dass die Fabriken von der Polizei besetzt würden, verabredeten sich die Arbeiter,
dem schon am 6.April mit einer eigenen Besetzung zuvorzukommen. Sie kamen jedoch zu spät, die Polizei
war schon da. 25000 Menschen zogen daraufhin durch die Innenstadt. Die Polizei griff brutal ein und
provozierte stundenlange Straßenschlachten.
"An dem Tag sah es in den Straßen
von Mahalla aus wie in Gaza”, berichten mehrere Augenzeugen und bezeichnen das als eine „kleine
Intifada” Im Verlauf der Kämpfe hat die Polizei einen 15-jährigen Jungen erschossen, der aus
seinem Fenster zuschaute. In den darauffolgenden Tagen wurden vier weitere Menschen von der Polizei
erschossen; Hunderte wurden verhaftet.
Elfenbeinküste
Ende Mai gab es in mehreren Stadtvierteln von Abidjan, der Hauptstadt des Landes, Demonstrationen gegen
den Hunger. Wie auch in Haiti, wurden sie vor allem von Frauen angeführt, die mit Kochtöpfen und
anderem Küchengerät auf die Straße gingen. Die Polizei ging sehr gewalttätig gegen sie
vor, es ist von mindestens zwei Erschossenen und mehreren, die von Kugeln getroffen wurden, die Rede.
Ähnliche Demonstrationen gab es in
Dakar (Senegal) und in anderen afrikanischen Ländern. In Kamerun soll es bei Zusammenstößen
mit der Polizei 40 Tote gegeben haben.
Bangladesh
Über 20000 Textilarbeiterinnen aus Dutzenden Textilfabriken protestierten am 12.April trotz
Ausnahmezustand gegen die Explosion der Lebensmittelpreise. Über 85% der über 2 Millionen
Beschäftigten in der Textilindustrie, die für internationale Monopole wie Levis oder H&M
arbeiten, sind Frauen. Sie verdienen im Schnitt 23 US-Dollar, 70% davon gehen für Reis drauf. Der Preis
für Reis, das Hauptnahrungsmittel in diesem Land, hat sich jedoch verdreifacht. Hungernde Arbeiter
plünderten Geschäfte, in denen Reis und andere Nahrungsmittel in ausreichender Menge, aber zu
unbezahlbaren Preisen gehortet wurden, und verteilten die Lebensmittel. Als die Polizei anrückte,
errichteten sie Straßenblockaden.
In Thailand hat das Militärregime
entlang der Reisfelder bewaffnete Soldaten aufgestellt, damit die Hungernden sich dort nicht bedienen.
Rumänien
In der letzten Märzwoche traten rund 10000 Arbeiter des Dacia-Werks in Pitesti, 120 km von Bukarest
entfernt, in den Streik, ein Tochterunternehmens des französischen Autobauers Renault. Sie
protestierten gegen ihre Hungerlöhne und forderten eine Gehaltssteigerung von 42%, mehr Weihnachtsgeld
und eine Beteiligung am Unternehmensgewinn. Die gesamte Produktion wurde lahmgelegt. Die Streikenden
orientierten sich erstmalig nicht an den landesüblichen Löhnen, sondern verglichen sich mit
Arbeitern von Renault in der Türkei oder Frankreich, die für die gleiche Arbeit 900 bzw. 2000 Euro
erhalten, für die in Rumänien höchstens 300 Euro gezahlt werden.
Der Streik wurde erst am 10.April beigelegt;
er endete mit einer Lohnerhöhung von knapp 90 Euro, ab September kommen dazu noch einmal 20 Euro. Als
Gewinnbeteiligung gibt es eine Jahresprämie in Höhe eines Bruttolohns.
Quelle: Soz - Sozialistische Zeitung