Brasilien: Die Ursachen der Korruption
Antonio Andrioli
Korruption ist das zentrale Thema der gegenwärtigen politischen Auseinandersetzung in Brasilien. Die Korruptionsaffäre von Lulas regierender PT bekam einen solchen Raum in den brasilianischen Medien, wie es zuvor nur während des Impeachment-Prozesses von Collor de Melo zu sehen war.
25.04.2007
Korruption ist das zentrale Thema der gegenwärtigen politischen
Auseinandersetzung in Brasilien. Die Korruptionsaffäre[1] der PT[2]
bekam einen solchen Raum in den brasilianischen Medien, wie es zuvor
nur während des Impeachment-Prozesses von Collor de Melo[3] zu sehen
war. Die Regierung Lula steckt seitdem in ihrer tiefsten Krise: sowohl
José Dirceu, der Minister der Casa Civil[4], als auch der
Parteivorsitzende José Genoino und der Finanzminister Antonio Palocci
mussten von ihren Ämtern zurücktreten. Obwohl die meisten Anzeigenden
selbst in Korruption verwickelt waren und daher die Glaubwürdigkeit
fehlt, wenige ernsthafte Beweise geliefert wurden und die Affäre
eigentlich die PT und nicht unmittelbar die Regierung Lula betrifft,
wird absichtlich das falsche Bild verbreitet, diese Regierung sei die
korrupteste aller Zeiten. Das ist natürlich Unsinn. Bei der gezielten
und anhaltenden Diskussion ist deutlich zu sehen, dass es sich
größtenteils um einen Versuch seitens konservativer Medien und
oppositioneller Kräfte im Lande handelt, die Regierung Lula politisch
zu lähmen und deren Wiederwahl 2006 zu verhindern.
Das neue an der derzeitigen brasilianischen Debatte zu dem Thema ist
eigentlich, dass nicht nur die bürgerlich konservativen Parteien wie
bekannt korrupt sind, sondern auch selbst die PT, die bisher als frei
von Korruption galt. Indem auch die PT in Korruption verwickelt wird,
ist von einer „Demokratisierung“ der Korruption in Brasilien die Rede,
d.h. jetzt sind „alle“ davon betroffen, was im Grunde die Freude
korrupter Politiker mit der Situation erklärt, denn die PT profitierte
sehr lange von ihrer Tugend, frei von Korruption regiert zu haben. Der
Kontext in Brasilien führt uns zu folgenden Fragen, auf die wir
versuchen näher einzugehen: 1) Warum sitzt die Korruption so tief in
Brasilien? 2) Welche Ursache gibt es dafür? Wie kommt es dazu, dass
auch die PT davon betroffen ist? Methodisch werden wir zunächst den
Begriff Korruption und dessen Verständnis in Brasilien analysieren,
danach das politische System in Brasilien bezüglich des Problems
erläutern und schließlich auf Merkmale der brasilianischen politischen
Kultur eingehen, um die wichtigsten Hintergründe der gegenwärtigen
Debatte zu dem Thema verstehen zu können.
Der Begriff Korruption
Es gibt in Brasilien sehr viele Wörter, um Korruption zu bezeichnen:
Cervejinha, molhar a mão, lubrificar, lambileda, mata-bicho, jabaculê,
jabá, capilê, conto-do-paco, conto-do-vigário, jeitinho, mamata,
negociata, por fora, taxa de urgência, propina, rolo, esquema, peita,
falcatrua, maracutaia, usw. Die Fülle an Wörtern scheint in Brasilien
und in den Ländern größer zu sein, in denen Korruption als alltäglich
betrachtet oder sogar als Naturgesetz akzeptiert wird. Ursprünglich
stammt der Begriff Korruption aus dem Latein Corruptione und bedeutet
etwa Korrumpierung, Perversion, Verdorbenheit, Verderbtheit, Verwesung,
Zergliederung und Bestechung. Korruption ist jedoch – je nach Kontext
– nicht immer negativ zu sehen. Sie stellt zum Beispiel die Grundlage
für die Sprachentwicklung dar. In dem Sinne wird die portugiesische
Sprache als eine vorteilhafte Veränderung der lateinischen Sprache
betrachtet, die in ihrer brasilianischen Variante noch dynamischer und
lebhafter gestaltet (insofern korrumpiert) wurde. Im politischen
Sprachgebrauch hat Korruption jedoch eine negative Bedeutung, was
geschichtlich gesehen nicht der Fall ist. Geschichtlich wurde
Korruption meistens mit Rechtmäßigkeit/Legalität verbunden: Als korrupt
wurde jener bezeichnet, der sich nicht an die Gesetze hielt. Selbst die
heutzutage als äußerst negativ bezeichneten Erscheinungen der
Korruption wie Bestechungsgeld, Vetternwirtschaft und Veruntreuung
waren vor wenigen Jahrzehnten nicht negativ belastet: Bestechungsgelder
(peita) wurden als normale Zahlungen von Steuern an Adlige
charakterisiert; Vetternwirtschaft (nepotismo) war als
Autoritätsprinzip der Kirche im Mittelalter anerkannt, wonach die
Verwandten des Papstes sozial akzeptierte Privilegien erhielten; der
Begriff Peculato (Veruntreuung) stammt sprachgeschichtlich aus der
Zeit, als die Rindzucht die Grundlage des Reichtums darstellte und hing
damit zusammen, dass Ochsen oder Kühe als eine Art Währung dienten. Mit
der heutigen Bezeichnung für eine Begünstigung durch öffentliche Gelder
blieb die Gemeinsamkeit, dass eine Gegenleistung für bestimmte
Privilegien vorausgesetzt wird.
In Brasilien kommt zu dieser Voraussetzung das sogenannte Gerson-Gesetz
hinzu, was bedeutet, dass bei jeder Handlung immer Vorteile erwartet
werden und die Handelnden möglichst nur an sich denken sollen. Dieses
Verhalten passt eigentlich gut zum sogenannten kapitalistischen Geist,
der in der Marktwirtschaft von den Menschen erwartet wird. Schon Adam
Smith z.B. bezeichnete diese Art zu handeln als die beste Form, zum
Fortschritt der Gesellschaft beizutragen (Smith, 1990). Die Korruption
ist zwar älter als die kapitalistische Produktionsweise, sie findet
aber unseres Erachtens im Kapitalismus ideale Bedingungen, um sich
fortzusetzen. Indem die Zwingherrschaft des Kapitals über die Arbeit[5]
es den Kapitalisten ermöglicht, den durch die Arbeit anderer erzeugten
Mehrwert privat anzueignen, ist eine der grundlegendsten Formen der
Korruption als legal anerkannt.
Die moderne Korruption ist demnach im Kontext der grundlegenden
Ungerechtigkeit der Klassengesellschaften zu verstehen: der
Ungerechtigkeit am Zugang zu den Produktionsmitteln, dem Ursprung der
sozialen Ungleichheit und der Klassengesellschaften, was im frontalen
Widerspruch zur Demokratisierung, zur sozialen Gerechtigkeit und zur
Solidarität zwischen den Menschen steht. Deshalb ist die Korruption
geschichtlich verhältnismäßig umso größer, je ungerechter die
Gesellschaft ist, d.h. je größer der Kontrast zwischen Arm und Reich.
Der Mangel an öffentlicher Versorgung und Diensten schafft die
Grundlage dazu, öffentliche Güter zu privatisieren und sie als Ware zu
missbrauchen, ein Kontext indem z.B. Stimme gegen Leistungen des
Staates im Wahlkampf verkauft werden oder die Zustimmung zu Gesetzen
als Gegenleistung für regionale Investitionen (die sogenannten „Emendas
Parlamentares“) erfolgt.
Korruption ist allerdings ein weltweites Phänomen und nach der
Erklärung des IV. Globalen Forums zur Bekämpfung der Korruption[6]
stellt sie „eine Bedrohung für die Demokratie, für das
Wirtschaftswachstum und den Rechtsstaat dar“. Nach diesem Verständnis
dient der internationale Korruptionsindex[7] als Parameter für
Investitionen der Weltbank, angeblich um zu verhindern, dass
internationale Kredite zur Finanzierung korrupter Regierungen
missbraucht werden und zugleich, um Maßstäbe zu setzen, Regierungen
dazu zu verpflichten, Korruption zu bekämpfen. Andrerseits wird
Korruption durch diese Vorgehensweise oft als Argument zur
Rechtfertigung der Unterentwicklung armer Länder genutzt. Die Akzeptanz
dieser These ist erstaunlicherweise in den ärmsten Ländern,
insbesondere in Afrika, stark verbreitet worden, als ob die sozial
ungerechte Struktur in diesen Ländern ausschließlich am Mangel
sogenannter Good-Governance liegen würde. Dadurch werden einerseits die
historischen und strukturellen Ursachen der Korruption verschleiert und
andererseits wird die Verantwortung von Kolonialmächten, die nach wie
vor von der Abhängigkeit und Unterwerfung vieler Länder profitieren, an
die unterdrückte Bevölkerung oder deren Regierungen abgeschoben, als ob
diese an ihrer Unterentwicklung „selber schuld“ wären.
Verbreitung und Umfang von Korruption hängen jedoch weniger vom
internationalen Index ab als von den Medien, vom Zugang zu
Informationen, von der Transparenz von Regierungen und nicht zuletzt
von der Bekämpfung der Korruption selbst ab, denn Regierungen, die
Maßnahmen ergreifen, um Korruption zu bekämpfen, tragen entscheidend
dazu bei, dass die Öffentlichkeit sich damit befasst und korrupte
Handlungen als Problem betrachtet. In Brasilien sind geschichtlich die
meisten Korruptionsaffären erst durch private Konflikte öffentlich
geworden. Deshalb ist es für das Land eine neue Situation, dass unter
der Regierung Lula die Korruption zunächst als ein politisches Problem
thematisiert wurde: Bestochene Politiker sind als „Opfer“ in die
Öffentlichkeit gegangen, um die PT anzugreifen und dadurch die
Opposition zu stärken und Lula abzuwählen. Dies erklärt die Freude der
rechten Politiker im Lande, manche davon (wie Jorge Bornhausen[8])
glauben sogar, jetzt hätten sie die Chance, die PT, „diese Rasse
endlich zu vernichten“. Die Korruption wird weiter als politisches
Instrument im Wahlkampf genutzt im Zusammenhang mit der Strategie der
brasilianischen korrupten Eliten, sie als endogenes Problem der
brasilianischen Kultur zu bezeichnen, denn die Naturalisierung der
Korruption, indem sie als selbstverständlich betrachtet wird (nach dem
Moto „das hat es schon immer gegeben“, „alle sind korrupt“, „man muss
damit leben wie mit den Jahreszeiten“) vernichtet die Chancen, sie
effektiv zu bekämpfen, obwohl sie von Menschen gemacht und von daher
auch von Menschen gestaltbar und veränderbar ist.
Das politische System in Brasilien
Bei der theoretischen Debatte um die Korruption in Brasilien sind
mindestens zwei Tendenzen zu erkennen: a) Manche Wissenschaftler gehen
davon aus, dass die Korruption in Brasilien als Erbe des iberischen
Patrimonialismus zu bezeichnen ist; b) Andere Autoren weisen auf das
Fehlen einer feudalen Geschichte im Lande hin, was den Vergleich mit
dem orientalischen Patrimonialismus erlauben würde, indem keine
Trennung zwischen öffentlichen und privaten Bereichen stattfindet.
Unseres Erachtens ist die Entwicklung Brasiliens jedoch durch
Modernisierung und Erhaltung des Patrimonialismus zugleich geprägt,
d.h. dass nach wie vor eine Abhängigkeitsstruktur[9] des Landes
besteht, die mit der Aufrechterhaltung des status quo der Eliten
zusammenhängt. Deshalb wird von einer konservativen Modernisierung
Brasiliens gesprochen, da es sich nicht um eine neue Ordnung handelt,
sondern um Veränderungen, die letztendlich zur Konsolidierung einer
ungerechten und ungleichen Gesellschaftsstruktur beitragen. Der Begriff
„Modernisierung“ wird insofern ständig von wirtschaftlichen, sozialen,
politischen und kulturellen Aspekten geprägt, so dass es sich im Grunde
um den Streit zwischen verschiedenen Modernisierungsprozessen handelt,
denen die Akteure gegenüber stehen. Der ungleiche Zugang zu den
Produktionsmitteln seit der Kolonialisierung des Landes stellt
eigentlich die Basis für den brasilianischen Patrimonialismus dar, eine
Korruption, die sich auch auf der politischen Ebene auswirkt und auch
in anderen Ländern Lateinamerikas zu sehen ist. Es ist eine wichtige
Besonderheit des gesamten südamerikanischen Kontinents, dass dort eine
Koexistenz von vor- und halbkapitalistischen Produktionsweisen besteht,
obwohl der Kapitalismus sich als grundlegend herausbildete, und worauf
das meiste kritische Denken sich schwerpunktmäßig konzentrierte.
Insbesondere in Brasilien ist deshalb eine abhängige und ungleiche
Entwicklung des Kapitalismus zu erkennen, indem ein Zugang zur Moderne
erfolgte, ohne dass ein Bruch mit der patrimonialischen Vergangenheit
stattgefunden hat.
Es gibt daher keinen konsolidierten Rechtsstaat in Brasilien, ganz zu
schweigen von einem Sozialstaat. Der durch die ungleiche Entwicklung
des Landes entstandene neopatrimoniale Staat dient in erster Linie den
privaten Interessen von Großgrundbesitzern, Unternehmern und anderen
Vertretern des Kapitals. Es handelt sich um einen autoritären und
zentralisierten Staat und wir vertreten hier die These, dass, je
autoritärer und zentralisierter die Macht ist, umso wahrscheinlicher es
wird, dass Privates mit Öffentlichem (res publica) durcheinander
gerät/verwechselt wird. Viele Verbrechen entstehen in Brasilien aus dem
Staatsapparat selbst und sind mit ihm verwoben, so dass die
Kriminalität stark von staatlichen Strukturen (insbesondere der Polizei
und der Judikative) unterstützt wird. Politiker werden meistens als
Vertreter mächtiger Interessen in der Gesellschaft gewählt, die auch
deshalb kandidieren, weil sie von der staatlichen Struktur profitieren
möchten. Selbst Verbrecher kandidieren, um als Politiker geschützt zu
werden, die sogenannte „bancada do crime“ (Fraktion des Verbrechens),
die nach Franciso Weffort bis zu etwa 10% im Parlament ausmacht.
Fehlende Transparenz, Ausgrenzung der Bevölkerungsmehrheit, geringe
Teilnahme der Zivilgesellschaft und fehlende Bestrafung der Korruption
sind die Folgen des politischen Systems in Brasilien und schließen
wieder den Kreis, der korruptes Handeln erleichtert. Die zunehmende
Professionalisierung der Politik kommt hinzu, denn diese führt dazu,
dass Wahlkämpfe immer teurer und Politiker zunehmend abhängiger von
Unternehmen werden, die bereit sind, „in deren Zukunft zu investieren“.
Auch die Möglichkeit, einen Arbeitsplatz durch und in Regierungen zu
bekommen, ist in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit nicht zu unterschätzen.
Allein an der Bundesregierung sind ca. 25.000 Menschen als
Vertrauenspersonal angestellt, die je nach Wahlenergebnis ausgewechselt
werden können.
Insbesondere das Wahlsystem trägt dazu bei, dass Korruption als
normales Mittel der Politik betrachtet wird. Die unbegrenzte private
Finanzierung des Wahlkampfs erhöht die Wahrscheinlichkeit zur
Begünstigung von Unternehmen mit öffentlichen Geldern und die Tatsache,
dass die meisten Parteien überhaupt kein Programm haben, macht sie zu
politischen Instrumenten im Dienst von Unternehmen. Die Wahl der Person
(nach persönlichen Kriterien und Einflüssen), die fehlende
Parteizugehörigkeitspflicht von Kandidaten, der ständige
Parteienwechsel und die Parteibündnisse bereits vor den Wahlen
vermindern die Kontrolle der Gewählten und erhöhen die Tendenz, Stimmen
als Ware zu betrachten. Es kommt noch hinzu, dass Bankgeheimnisse der
Gewählten die Zirkulation von Schmiergeldern erleichtern und die
Konzessionen an Politiker, Medien zu besitzen, das Potential zur
Manipulation der Öffentlichkeit erhöhen. Die politische Erfahrung
Brasiliens deutet also klar darauf hin, dass die existierende
repräsentative Demokratie weder repräsentativ noch demokratisch ist,
denn es besteht keine Volkssouveränität, keine Verantwortung der
Gewählten gegenüber den Wählern und keine Kontrolle der Gewählten, ein
Kontext, in dem die Korruption sehr schwer zu bekämpfen ist.
Die politische Kultur
Auch wenn die Korruption in Brasilien vor allem im politischen System
selbst verankert ist und mit der wirtschaftlichen Entwicklung
zusammenhängt, kann auch eine Kontinuität zwischen dem alltäglichen
Leben und der politischen Korruption gesehen werden. Und dies wird
seitens konservativer Journalisten und Politiker als eine Art
Naturgesetz dargestellt. Roberto Pompeu de Toledo schrieb 1994 in der
Zeitschrift Veja: „Korruption ist ein Bestanteil der brasilianischen
Politik so wie Reis und Bohnen die Grundlage der Ernährung darstellen“.
Adib Jatene, Minister für Gesundheit unter der Regierung Collor de
Melo, sagte 1992: „Wer den Haushalt der brasilianischen Bundesregierung
bestimmt sind eigentlich die „empreiteiras“ (Baukonzerne)“. Maria
Helena Guinle äußerte im Dezember 1992 in der Zeitschrift Interview,
kurz vor dem Collor-Skandal: „Collor ist eine wunderbare Person, er hat
einen guten Geschmack[10], kann gut reden, wir können nur stolz auf ihn
sein“. Und selbst nach dem Impeachment Collors versucht sie erneut das
Handeln des Präsidenten zu rechtfertigen, diesmal mit folgender
Argumentation: „Solche Ausrutscher passieren immer im Leben. Wenn du
eine öffentliche Funktion vertrittst, die dich irgendwie begünstigen
kann, wäre es ein wenig dumm von dir, wenn du die Gelegenheit nicht
nutzen würdest“. Mario Amato, Ex-Vorsitzender der FIESP[11], sagte
deutlich „Wir sind alle korrupt“. Diese Äußerungen weisen jedenfalls
darauf hin, dass es eine Art von Toleranz mit der Korruption in
Brasilien gibt, oder ein Verständnis dafür, was zugleich als
Unterstützung funktioniert.
Eines der wichtigen kulturellen Merkmale der brasilianischen Korruption
ist der bereits erwähnte Patrimonialismus. Die patrimonialistische
Kultur betrachtet Staatsstrukturen wie private Bereiche, was eng mit
der brasilianischen Entwicklung zusammenhängt, die durch Enteignung und
Abhängigkeit gekennzeichnet ist. In der Kolonialzeit besaßen 10% der
Reichsten 2/3 des Reichtums des Landes. Damals gab es keine allgemeine
Ethik, denn Ethik war auf die Familie begrenzt. Heutzutage besitzen die
10% der Reichsten 50% des Reichtums des Landes. Könnte das ein Zeichen
dafür sein, dass das Land auf dem falschen Weg ist? Nach der Meinung
der brasilianischen Eliten bedeuten Hunger, Konzentration des
Reichtums, zunehmende soziale Ungerechtigkeit, Privatisierung und nicht
zuletzt Korruption jedoch seit Jahrhunderten keine Barriere. Es geht
darum, „Veränderungen durchzuführen, damit alles gleich bleibt“.
Eng verstrickt mit der patrimonalistischen Sichtweise brasilianischer
Eliten finden sich die Phänomene des sogenannten Coronelismo und
clientelismo, die eigentlich die Grundlage des brasilianischen
Populismus und Assistentialismus bilden. Beim Coronelismo geht es um
die politische Macht der Grundbesitzer (der „Coronéis“), die durch die
Abhängigkeitsstruktur des Landbesitzes über die Beschäftigten ausgeübt
wird. Freundschaft und Verwandtschaft spielen dabei eine entscheidende
Rolle sowie die Unterwerfung der Unterlegenen (Loyalität und
Anerkennung), um patriarchalischen Schutz und Privilegien zu erreichen.
Clientelismo ist die städtische Version des Coronelismo, da die meisten
Grundbesitzer entweder Ärzte oder Anwälte waren und ihre Wähler als
Kunden („clientes”) betrachteten. Auch Coronelismo und clientelismo
sind historisch mit der Entwicklung Brasiliens verbunden, da die
Marktwirtschaft ursprünglich von Grundbesitzern geführt wurde. Dabei
entstanden die sogenannten Machtbereiche der Grundbesitzer („reinos“),
wobei die Herrschaften stolz darauf waren, ihr „Volk“ öffentlich zeigen
zu können, als Zeichen ihrer Macht. Trotz der „Modernisierung“
Brasiliens blieb das Gleichgewicht bei der Machtverteilung zwischen
Industriellen und Großgrundbesitzern erhalten. Der Präsident Getúlio
Vargas verstand es, als charismatisch-populistischer Führer, mit diesem
Kontext zurechtzukommen. Mit seiner Strategie, die Interessen des
Volkes, der Großgrundbesitzer und Industriellen zu kombinieren, gelang
es Vargas, 15 Jahre an der brasilianischen Regierung zu bleiben. Es
handelte sich dabei insbesondere um die Manipulation der
Arbeiterklasse, indem soziale Konzessionen zum Ende der Autonomie der
sozialen Organisationen im Lande führten. Und das ist die Basis des
brasilianischen Populismus und Assistentialismus, womit dem Volk
Konzessionen gemacht werden, damit die Macht erhalten bleibt, nach dem
Motto: „Auf die Ringe verzichten, um die Finger zu erhalten“.
Hinzu kommt die herrschende Sichtweise, dass bestimmte Verbrechen wie
Schmuggel und Korruption vorwiegend nicht als Problem betrachtet
werden, wenn das Ziel als gut und nachvollzierbar wahrgenommen wird.
Korrupte werden tendenziell eher als schlau denn als Verbrecher
betrachtet, was eng mit der Art und Weise zusammenhängt, wie
Korruptionsskandale dargestellt werden. Dies wird mehrmals als Kultur
des „jeitinho brasileiro“ (etwa die Geschicklichkeit der Brasilianer,
immer einen Ausweg zu finden) bezeichnet. Nach Untersuchungen
verurteilen Brasilianer jedoch mehrheitlich die Korruption: 83% sagen,
dass sie ihre Stimme nicht verkaufen würden; zugleich geben jedoch 73%
an, dass ihre Mitbürger es tun würden, ein klares Zeichen dafür, dass
eine Wahrnehmung herrscht, dass die meisten Menschen im Lande korrupt
sind.
Auch persönliche Rechtfertigungen haben eine besondere Bedeutung bei
der Auseinandersetzung über Korruption. Die Referenz an Freundschaft
wird als wichtiger betont als die politische Verantwortung der
Politiker. Es geht um Reziprozität, um das Verständnis, dass Menschen
voneinander abhängig seien und deshalb einen besonderen Wert auf
loyales Vertrauen gelegt werden soll. Vertrauen wird als Zement der
persönlichen Beziehungen zusammen mit der Solidarität und
Hilfsbereitschaft gesehen, Werte, die oft für die Rechtfertigung
korrupter Handlungen missbraucht wurden. Staatliche Institutionen
werden dazu genutzt, persönlichen Schulden gerecht zu werden, wobei
gute Beziehungen als Vermittlungsinstrument dargestellt werden, da sie
mit Intimität, einem vertraulichen Umgang miteinander, einem leichteren
Zugang zu Menschen verbunden sind. Korruption sowie das Leben sei ein
ständiger Austausch zwischen Menschen. Deshalb lohnen sich
Investitionen in guten Beziehungen zu Politikern und Ämtern, was seinen
politischen Preis hat: Wirtschaftliche Konzessionen werden gegen
politische Konzessionen getauscht und die Schwierigkeiten, um eine
Begünstigung zu erreichen, erhöhen deren politischen Preis.
Die PT hat inzwischen einen hohen politischen Preis gezahlt. Es geht
dabei in erster Linie um Macht und Regierungsfähigkeit. Anstatt
Bündnisse einzugehen, um Sozialreformen durchzusetzen, ging die PT
Bündnisse um Macht ein. Das Mittel wird zum Ziel und die Pragmatiker
scheinen sich inzwischen durchgesetzt zu haben. Dies ist unserer
Meinung nach jedoch kein Verrat, denn es ist nicht so, dass Lula oder
die PT von der sogenannten Macht des Staates verändert wurden, sondern
eher umgekehrt: um Macht zu erreichen, um regieren zu können, wird das
Programm/Ziel aufgegeben. Diese Entwicklung wurde seit Anfang der 90er
Jahren allmählich zur politischen Strategie der PT und fand ihren
Höhepunkt nach dem Wahlerfolg 2002: Immer mehr wurden die Türen für
Mitglieder geöffnet, die keinen Bezug zur Parteitradition hatten;
Parlamentarier anderer Parteien wurden aufgenommen, die in der PT
bessere Wahlchancen für sich sahen; es wurden Direktwahlen zum Vorstand
durchgeführt, die die Bedeutung der parteiinternen Debatten
herabsetzten; Investitionen in Marketing und Professionalisierung des
Parteiapparats wurden massiv erhöht; und nicht zuletzt wurden die
Intensität der politischen Bildung und der programmatischen
Auseinandersetzung drastisch verringert (Pont, 2003).
Da im Präsidialsystem ein Präsident mit einer Minderheitsregierung sich
tendenziell gezwungen sieht, Bündnisse mit anderen Parteien einzugehen,
um regieren zu können, stellen die politischen Verhandlungen ein
wichtiges Mittel für die Regierungsfähigkeit dar. Und indem die
Mehrheit der Parteien im Lande bereits im Wahlkampf durch korrupte
Handlungen ihre meisten Stimme erreicht, um ihre Machtpositionen
aufbauen zu können, ist es sehr wahrscheinlich, dass politische
Verhandlungen zwischen den Parteien und Parlamentariern durch korrupte
Handlungen begleitet werden.
Dies kann jedoch keineswegs als Rechtfertigung für die PT dienen, denn
in den meisten Situationen, in denen sie regierte, konnte sie nicht mit
Mehrheiten in Parlamenten rechnen. Die PT legte nicht nur deshalb einen
besonderen Wert auf die Mobilisierung der Zivilgesellschaft, um
wichtige Veränderungen zugunsten der Mehrheit der Bevölkerung
durchzusetzen, weil sie meistens mit einer Minderheitsposition in
Parlamenten konfrontiert war, sondern weil sie davon ausging, dass die
Macht als Gegenhegemonie in der Gesellschaft zu erkämpfen ist, indem
durch politische Partizipation und Selbstorganisation ein höheres
politisches Bewusstsein der Bevölkerung erreicht werden kann.
Dies ist die grundsätzliche Veränderung der PT unter der Regierung
Lula, die nicht bereit ist, auf partizipative Demokratie (nach dem
Vorbild des erfolgreichen Beteiligungshaushaltes) zu setzen, sondern
versucht, sich der Logik der korrupten parlamentarischen Demokratie
Brasiliens anzupassen und dahin tendiert, selbst zu degenerieren. Für
Brasilien bedeutet dies einen großen Rückschlag in der Demokratisierung
des Landes, denn die PT verkörperte bisher als einzige große
Programmpartei die große Hoffnung auf Veränderungen, die demokratisch
von unten durch wachsende Sozialmobilisierung gestaltet werden könnten.
Die zunehmende Anpassung der PT an die historische autoritäre,
populistische und lobbyistische Tradition der brasilianischen Politik
ist besonders in dem Sinne zu bedauern, weil sie dadurch nicht nur ihre
führende Rolle als Hoffnungsträger in Brasilien aufgibt, sondern
entscheidend dazu beiträgt, dass Korruption noch stärker naturalisiert
wird und es stets schwieriger wird, effektive Alternativen dagegen zu
setzen.
Literatur:
Córdova, Armando/Michelena, Hector Silva. Die wirtschaftliche Struktur
Lateinamerikas. Drei Strudien zur politischen Ökonomie der
Unterentwicklung. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1971.
Córdova, Armando. Strukturelle Heterogenität und wirtschaftliches Wachstum. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1973.
Marx, Karl. Der Bürgerkrieg in Frankreich. MEW, Band 17. Berlin: Dietz Verlag, 1971.
Pont, Raul. Hoffnung für Brasilien. Beteiligungshaushalt und
Weltsozialforum in Porto Alegre. Entwicklung der PT und Lulas Wahlsieg.
Köln: Neuer ISP Verlag, 2003.
Smith, Adam. Untersuchung über Wesen und Ursachen des Reichtums der
Völker. Band I. Düsseldorf: Verlag Wirtschaft und Finanzen, 1990.
__________
[1] Der Skandal um angebliche Schmiergeldzahlungen an Bundesabgeordnete
durch wichtige PT-Funktionäre im Juni/Juli 2005, um eine Mehrheit für
parlamentarische Abstimmungen zu erhalten.
[2] Partido dos Trabalhadores (Arbeiterpartei).
[3] Fernando Affonso Collor de Mello, Präsident Brasiliens zwischen 15.03.1990 und 02.10.1992.
[4] Eine Art brasilianisches Kanzleramt.
[5] Die Bedingung des Schmarotzerdaseins der Bourgeoisie nach Karl Marx (1971).
[6] Das Forum fand vom 7. bis zum 10. Juni 2005 in Brasília statt.
[7] Brasilien steht übrigens dabei auf Platz 46 mit der Note 4.
[8] Präsident der PFL (Partei der Liberalenfront, die rechteste Partei
Brasiliens) und Senator aus dem Bundesland Santa Catarina.
[9] Wie beziehen uns hier auf die u.a von Córdova dargelegten
Abhängigkeitsstruktur Lateinamerikas. „In unseren Gesellschaften hat
die Entwicklung eines abhängigen kapitalistischen Sektors historisch
die Existenz nicht-kapitalistischer Sektoren vorausgesetzt; dadurch
wurde die Ungleichheit der Verteilung erheblich verschärft. (...) Doch
nicht die einfache Monoproduktion macht den Charakter der Abhängigkeit
aus. Wenn sie tatsächlich im nationalen Besitz und auf diese Weise
kontrolliert wäre, verschwände eines ihrer entscheidenden Attribute:
ihre Extra-Nationalität. Im allgemeinen aber befindet sich in den
monoproduzierenden Ländern dieser Sektor im Besitz oder unter der
Kontrolle von ausländischen Unternehmen; das mag an der Eigentumslage
des im Sektor investierten Kapitals und/oder an der Kontrolle über den
Außenmarkt der Produktion liegen. Und das ist der Schlüssel zur
wirtschaftlichen Abhängigkeit. Die Entscheidungen über das
Produktionsvolumen und die Preisdynamik werden getroffen, um Ziele zu
erreichen, die mit dem Allgemeinwohl der Einwohner des Landes nichts zu
tun haben“ (Córdova, 1973: 54; Córdova/Michelena, 1971: 115).
[10] Damit bezog sie sich insbesondere auf die Kleidung des damaligen Präsidenten.
[11] Federação das Indústrias do Estado de São Paulo (Industrieverband des Bundesstaates São Paulo).
28-09-2006, 21:17:00 |Antonio Inàcio Andrioli