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Brasilien: Die Ursachen der Korruption

Antonio Andrioli

Korruption ist das zentrale Thema der gegenwärtigen politischen Auseinandersetzung in Brasilien. Die Korruptionsaffäre von Lulas regierender PT bekam einen solchen Raum in den brasilianischen Medien, wie es zuvor nur während des Impeachment-Prozesses von Collor de Melo zu sehen war.

25.04.2007

Korruption ist das zentrale Thema der gegenwärtigen politischen Auseinandersetzung in Brasilien. Die Korruptionsaffäre[1] der PT[2] bekam einen solchen Raum in den brasilianischen Medien, wie es zuvor nur während des Impeachment-Prozesses von Collor de Melo[3] zu sehen war. Die Regierung Lula steckt seitdem in ihrer tiefsten Krise: sowohl José Dirceu, der Minister der Casa Civil[4], als auch der Parteivorsitzende José Genoino und der Finanzminister Antonio Palocci mussten von ihren Ämtern zurücktreten. Obwohl die meisten Anzeigenden selbst in Korruption verwickelt waren und daher die Glaubwürdigkeit fehlt, wenige ernsthafte Beweise geliefert wurden und die Affäre eigentlich die PT und nicht unmittelbar die Regierung Lula betrifft, wird absichtlich das falsche Bild verbreitet, diese Regierung sei die korrupteste aller Zeiten. Das ist natürlich Unsinn. Bei der gezielten und anhaltenden Diskussion ist deutlich zu sehen, dass es sich größtenteils um einen Versuch seitens konservativer Medien und oppositioneller Kräfte im Lande handelt, die Regierung Lula politisch zu lähmen und deren Wiederwahl 2006 zu verhindern.

Das neue an der derzeitigen brasilianischen Debatte zu dem Thema ist eigentlich, dass nicht nur die bürgerlich konservativen Parteien wie bekannt korrupt sind, sondern auch selbst die PT, die bisher als frei von Korruption galt. Indem auch die PT in Korruption verwickelt wird, ist von einer „Demokratisierung“ der Korruption in Brasilien die Rede, d.h. jetzt sind „alle“ davon betroffen, was im Grunde die Freude korrupter Politiker mit der Situation erklärt, denn die PT profitierte sehr lange von ihrer Tugend, frei von Korruption regiert zu haben. Der Kontext in Brasilien führt uns zu folgenden Fragen, auf die wir versuchen näher einzugehen: 1) Warum sitzt die Korruption so tief in Brasilien? 2) Welche Ursache gibt es dafür? Wie kommt es dazu, dass auch die PT davon betroffen ist? Methodisch werden wir zunächst den Begriff Korruption und dessen Verständnis in Brasilien analysieren, danach das politische System in Brasilien bezüglich des Problems erläutern und schließlich auf Merkmale der brasilianischen politischen Kultur eingehen, um die wichtigsten Hintergründe der gegenwärtigen Debatte zu dem Thema verstehen zu können.

Der Begriff Korruption

Es gibt in Brasilien sehr viele Wörter, um Korruption zu bezeichnen: Cervejinha, molhar a mão, lubrificar, lambileda, mata-bicho, jabaculê, jabá, capilê, conto-do-paco, conto-do-vigário, jeitinho, mamata, negociata, por fora, taxa de urgência, propina, rolo, esquema, peita, falcatrua, maracutaia, usw. Die Fülle an Wörtern scheint in Brasilien und in den Ländern größer zu sein, in denen Korruption als alltäglich betrachtet oder sogar als Naturgesetz akzeptiert wird. Ursprünglich stammt der Begriff Korruption aus dem Latein Corruptione und bedeutet etwa Korrumpierung, Perversion, Verdorbenheit, Verderbtheit, Verwesung, Zergliederung und Bestechung. Korruption ist jedoch – ­­je nach Kontext – nicht immer negativ zu sehen. Sie stellt zum Beispiel die Grundlage für die Sprachentwicklung dar. In dem Sinne wird die portugiesische Sprache als eine vorteilhafte Veränderung der lateinischen Sprache betrachtet, die in ihrer brasilianischen Variante noch dynamischer und lebhafter gestaltet (insofern korrumpiert) wurde. Im politischen Sprachgebrauch hat Korruption jedoch eine negative Bedeutung, was geschichtlich gesehen nicht der Fall ist. Geschichtlich wurde Korruption meistens mit Rechtmäßigkeit/Legalität verbunden: Als korrupt wurde jener bezeichnet, der sich nicht an die Gesetze hielt. Selbst die heutzutage als äußerst negativ bezeichneten Erscheinungen der Korruption wie Bestechungsgeld, Vetternwirtschaft und Veruntreuung waren vor wenigen Jahrzehnten nicht negativ belastet: Bestechungsgelder (peita) wurden als normale Zahlungen von Steuern an Adlige charakterisiert; Vetternwirtschaft (nepotismo) war als Autoritätsprinzip der Kirche im Mittelalter anerkannt, wonach die Verwandten des Papstes sozial akzeptierte Privilegien erhielten;  der Begriff Peculato (Veruntreuung) stammt sprachgeschichtlich aus der Zeit, als die Rindzucht die Grundlage des Reichtums darstellte und hing damit zusammen, dass Ochsen oder Kühe als eine Art Währung dienten. Mit der heutigen Bezeichnung für eine Begünstigung durch öffentliche Gelder blieb die Gemeinsamkeit, dass eine Gegenleistung für bestimmte Privilegien vorausgesetzt wird.

In Brasilien kommt zu dieser Voraussetzung das sogenannte Gerson-Gesetz hinzu, was bedeutet, dass bei jeder Handlung immer Vorteile erwartet werden und die Handelnden möglichst nur an sich denken sollen. Dieses Verhalten passt eigentlich gut zum sogenannten kapitalistischen Geist, der in der Marktwirtschaft von den Menschen erwartet wird. Schon Adam Smith z.B. bezeichnete diese Art zu handeln als die beste Form, zum Fortschritt der Gesellschaft beizutragen (Smith, 1990). Die Korruption ist zwar älter als die kapitalistische Produktionsweise, sie findet aber unseres Erachtens im Kapitalismus ideale Bedingungen, um sich fortzusetzen. Indem die Zwingherrschaft des Kapitals über die Arbeit[5] es den Kapitalisten ermöglicht, den durch die Arbeit anderer erzeugten Mehrwert privat anzueignen, ist eine der grundlegendsten Formen der Korruption als legal anerkannt.

Die moderne Korruption ist demnach im Kontext der grundlegenden Ungerechtigkeit der Klassengesellschaften zu verstehen: der Ungerechtigkeit am Zugang zu den Produktionsmitteln, dem Ursprung der sozialen Ungleichheit und der Klassengesellschaften, was im frontalen Widerspruch zur Demokratisierung, zur sozialen Gerechtigkeit und zur Solidarität zwischen den Menschen steht. Deshalb ist die Korruption geschichtlich verhältnismäßig umso größer, je ungerechter die Gesellschaft ist, d.h. je größer der Kontrast zwischen Arm und Reich. Der Mangel an öffentlicher Versorgung und Diensten schafft die Grundlage dazu, öffentliche Güter zu privatisieren und sie als Ware zu missbrauchen, ein Kontext indem z.B. Stimme gegen Leistungen des Staates im Wahlkampf verkauft werden oder die Zustimmung zu Gesetzen als Gegenleistung für regionale Investitionen (die sogenannten „Emendas Parlamentares“) erfolgt.  

Korruption ist allerdings ein weltweites Phänomen und nach der Erklärung des IV. Globalen Forums zur Bekämpfung der Korruption[6] stellt sie „eine Bedrohung für die Demokratie, für das Wirtschaftswachstum und den Rechtsstaat dar“. Nach diesem Verständnis dient der internationale Korruptionsindex[7] als Parameter für Investitionen der Weltbank, angeblich um zu verhindern, dass internationale Kredite zur Finanzierung korrupter Regierungen missbraucht werden und zugleich, um Maßstäbe zu setzen, Regierungen dazu zu verpflichten, Korruption zu bekämpfen. Andrerseits  wird Korruption durch diese Vorgehensweise oft als Argument zur Rechtfertigung der Unterentwicklung armer Länder genutzt. Die Akzeptanz dieser These ist erstaunlicherweise in den ärmsten Ländern, insbesondere in Afrika, stark verbreitet worden, als ob die sozial ungerechte Struktur in diesen Ländern ausschließlich am Mangel sogenannter Good-Governance liegen würde. Dadurch werden einerseits die historischen und strukturellen Ursachen der Korruption verschleiert und andererseits wird die Verantwortung von Kolonialmächten, die nach wie vor von der Abhängigkeit und Unterwerfung vieler Länder profitieren, an die unterdrückte Bevölkerung oder deren Regierungen abgeschoben, als ob diese an ihrer Unterentwicklung „selber schuld“ wären.

Verbreitung und Umfang von Korruption hängen jedoch weniger vom internationalen Index ab als von den Medien, vom Zugang zu Informationen, von der Transparenz von Regierungen und nicht zuletzt von der Bekämpfung der Korruption selbst ab, denn Regierungen, die Maßnahmen ergreifen, um Korruption zu bekämpfen, tragen entscheidend dazu bei, dass die Öffentlichkeit sich damit befasst und korrupte Handlungen als Problem betrachtet. In Brasilien sind geschichtlich die meisten Korruptionsaffären erst durch private Konflikte öffentlich geworden. Deshalb ist es für das Land eine neue Situation, dass unter der Regierung Lula die Korruption zunächst als ein politisches Problem thematisiert wurde: Bestochene Politiker sind als „Opfer“ in die Öffentlichkeit gegangen, um die PT anzugreifen und dadurch die Opposition zu stärken und Lula abzuwählen. Dies erklärt die Freude der rechten Politiker im Lande, manche davon (wie Jorge Bornhausen[8]) glauben sogar, jetzt hätten sie die Chance, die PT, „diese Rasse endlich zu vernichten“. Die Korruption wird weiter als politisches Instrument im Wahlkampf genutzt im Zusammenhang mit der Strategie der brasilianischen korrupten Eliten, sie als endogenes Problem der brasilianischen Kultur zu bezeichnen, denn die Naturalisierung der Korruption, indem sie als selbstverständlich betrachtet wird (nach dem Moto „das hat es schon immer gegeben“, „alle sind korrupt“, „man muss damit leben wie mit den Jahreszeiten“) vernichtet die Chancen, sie effektiv zu bekämpfen, obwohl sie von Menschen gemacht und von daher auch von Menschen gestaltbar und veränderbar ist.

Das politische System in Brasilien

Bei der theoretischen Debatte um die Korruption in Brasilien sind mindestens zwei Tendenzen zu erkennen: a) Manche Wissenschaftler gehen davon aus, dass die Korruption in Brasilien als Erbe des iberischen Patrimonialismus zu bezeichnen ist; b) Andere Autoren weisen auf das Fehlen einer feudalen Geschichte im Lande hin, was den Vergleich mit dem orientalischen Patrimonialismus erlauben würde, indem keine Trennung zwischen öffentlichen und privaten Bereichen stattfindet. Unseres Erachtens ist die Entwicklung Brasiliens jedoch durch Modernisierung und Erhaltung des Patrimonialismus zugleich geprägt, d.h. dass nach wie vor eine Abhängigkeitsstruktur[9] des Landes besteht, die mit der Aufrechterhaltung des status quo der Eliten zusammenhängt. Deshalb wird von einer konservativen Modernisierung Brasiliens gesprochen, da es sich nicht um eine neue Ordnung handelt, sondern um Veränderungen, die letztendlich zur Konsolidierung einer ungerechten und ungleichen Gesellschaftsstruktur beitragen. Der Begriff „Modernisierung“ wird insofern ständig von wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Aspekten geprägt, so dass es sich im Grunde um den Streit zwischen verschiedenen Modernisierungsprozessen handelt, denen die Akteure gegenüber stehen. Der ungleiche Zugang zu den Produktionsmitteln seit der Kolonialisierung des Landes stellt eigentlich die Basis für den brasilianischen Patrimonialismus dar, eine Korruption, die sich auch auf der politischen Ebene auswirkt und auch in anderen Ländern Lateinamerikas zu sehen ist. Es ist eine wichtige Besonderheit des gesamten südamerikanischen Kontinents, dass dort eine Koexistenz von vor- und halbkapitalistischen Produktionsweisen besteht, obwohl der Kapitalismus sich als grundlegend herausbildete, und worauf das meiste kritische Denken sich schwerpunktmäßig konzentrierte. Insbesondere in Brasilien ist deshalb eine abhängige und ungleiche Entwicklung des Kapitalismus zu erkennen, indem ein Zugang zur Moderne erfolgte, ohne dass ein Bruch mit der patrimonialischen Vergangenheit stattgefunden hat.

Es gibt daher keinen konsolidierten Rechtsstaat in Brasilien, ganz zu schweigen von einem Sozialstaat. Der durch die ungleiche Entwicklung des Landes entstandene neopatrimoniale Staat dient in erster Linie den privaten Interessen von Großgrundbesitzern, Unternehmern und anderen Vertretern des Kapitals. Es handelt sich um einen autoritären und zentralisierten Staat und wir vertreten hier die These, dass, je autoritärer und zentralisierter die Macht ist, umso wahrscheinlicher es wird, dass Privates mit Öffentlichem (res publica) durcheinander gerät/verwechselt wird. Viele Verbrechen entstehen in Brasilien aus dem Staatsapparat selbst  und sind mit ihm verwoben, so dass die Kriminalität stark von staatlichen Strukturen (insbesondere der Polizei und der Judikative) unterstützt wird. Politiker werden meistens als Vertreter mächtiger Interessen in der Gesellschaft gewählt, die auch deshalb kandidieren, weil sie von der staatlichen Struktur profitieren möchten. Selbst Verbrecher kandidieren, um als Politiker geschützt zu werden, die sogenannte „bancada do crime“ (Fraktion des Verbrechens), die nach Franciso Weffort bis zu etwa 10% im Parlament ausmacht.

Fehlende Transparenz, Ausgrenzung der Bevölkerungsmehrheit, geringe Teilnahme der Zivilgesellschaft und fehlende Bestrafung der Korruption sind die Folgen des politischen Systems in Brasilien und schließen wieder den Kreis, der korruptes Handeln erleichtert. Die zunehmende Professionalisierung der Politik kommt hinzu, denn diese führt dazu, dass Wahlkämpfe immer teurer und Politiker zunehmend abhängiger von Unternehmen werden, die bereit sind, „in deren Zukunft zu investieren“. Auch die Möglichkeit, einen Arbeitsplatz durch und in Regierungen zu bekommen, ist in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit nicht zu unterschätzen. Allein an der Bundesregierung sind ca. 25.000 Menschen als Vertrauenspersonal angestellt, die je nach Wahlenergebnis ausgewechselt werden können.

Insbesondere das Wahlsystem trägt dazu bei, dass Korruption als normales Mittel der Politik betrachtet wird. Die unbegrenzte private Finanzierung des Wahlkampfs erhöht die Wahrscheinlichkeit zur Begünstigung von Unternehmen mit öffentlichen Geldern und die Tatsache, dass die meisten Parteien überhaupt kein Programm haben, macht sie zu politischen Instrumenten im Dienst von Unternehmen. Die Wahl der Person (nach persönlichen Kriterien und Einflüssen), die fehlende Parteizugehörigkeitspflicht von Kandidaten, der ständige Parteienwechsel und die Parteibündnisse bereits vor den Wahlen vermindern die Kontrolle der Gewählten und erhöhen die Tendenz, Stimmen als Ware zu betrachten. Es kommt noch hinzu, dass Bankgeheimnisse der Gewählten die Zirkulation von Schmiergeldern erleichtern und die Konzessionen an Politiker, Medien zu besitzen, das Potential zur Manipulation der  Öffentlichkeit erhöhen. Die politische Erfahrung Brasiliens deutet also klar darauf hin, dass die existierende repräsentative Demokratie weder repräsentativ noch demokratisch ist, denn es besteht keine Volkssouveränität, keine Verantwortung der Gewählten gegenüber den Wählern und keine Kontrolle der Gewählten, ein Kontext, in dem die Korruption sehr schwer zu bekämpfen ist.

Die politische Kultur

Auch wenn die Korruption in Brasilien vor allem im politischen System selbst verankert ist und mit der wirtschaftlichen Entwicklung zusammenhängt, kann auch eine Kontinuität zwischen dem alltäglichen Leben und der politischen Korruption gesehen werden. Und dies wird seitens konservativer Journalisten und Politiker als eine Art Naturgesetz dargestellt. Roberto Pompeu de Toledo schrieb 1994 in der Zeitschrift Veja: „Korruption ist ein Bestanteil der brasilianischen Politik so wie Reis und Bohnen die Grundlage der Ernährung darstellen“. Adib Jatene, Minister für Gesundheit unter der Regierung Collor de Melo, sagte 1992: „Wer den Haushalt der brasilianischen Bundesregierung bestimmt sind eigentlich die „empreiteiras“ (Baukonzerne)“. Maria Helena Guinle äußerte im Dezember 1992 in der Zeitschrift Interview, kurz vor dem Collor-Skandal: „Collor ist eine wunderbare Person, er hat einen guten Geschmack[10], kann gut reden, wir können nur stolz auf ihn sein“. Und selbst nach dem Impeachment Collors versucht sie erneut das Handeln des Präsidenten zu rechtfertigen, diesmal mit folgender Argumentation: „Solche Ausrutscher passieren immer im Leben. Wenn du eine öffentliche Funktion vertrittst, die dich irgendwie begünstigen kann, wäre es ein wenig dumm von dir, wenn du die Gelegenheit nicht nutzen würdest“. Mario Amato, Ex-Vorsitzender der FIESP[11], sagte deutlich „Wir sind alle korrupt“. Diese Äußerungen weisen jedenfalls darauf hin, dass es eine Art von Toleranz mit der Korruption in Brasilien gibt, oder ein Verständnis dafür, was zugleich als Unterstützung funktioniert.

Eines der wichtigen kulturellen Merkmale der brasilianischen Korruption ist der bereits erwähnte Patrimonialismus. Die patrimonialistische Kultur betrachtet Staatsstrukturen wie private Bereiche, was eng mit der brasilianischen Entwicklung zusammenhängt, die durch Enteignung und Abhängigkeit gekennzeichnet ist. In der Kolonialzeit besaßen 10% der Reichsten 2/3 des Reichtums des Landes. Damals gab es keine allgemeine Ethik, denn Ethik war auf die Familie begrenzt. Heutzutage besitzen die 10% der Reichsten 50% des Reichtums des Landes. Könnte das ein Zeichen dafür sein, dass das Land auf dem falschen Weg ist? Nach der Meinung der brasilianischen Eliten bedeuten Hunger, Konzentration des Reichtums, zunehmende soziale Ungerechtigkeit, Privatisierung und nicht zuletzt Korruption jedoch seit Jahrhunderten keine Barriere. Es geht darum, „Veränderungen durchzuführen, damit alles gleich bleibt“.  

Eng verstrickt mit der patrimonalistischen Sichtweise brasilianischer Eliten finden sich die Phänomene des sogenannten Coronelismo und clientelismo, die eigentlich die Grundlage des brasilianischen Populismus und Assistentialismus bilden. Beim Coronelismo geht es um die politische Macht der Grundbesitzer (der „Coronéis“), die durch die Abhängigkeitsstruktur des Landbesitzes über die Beschäftigten ausgeübt wird. Freundschaft und Verwandtschaft spielen dabei eine entscheidende Rolle sowie die Unterwerfung der Unterlegenen (Loyalität und Anerkennung), um patriarchalischen Schutz und Privilegien zu erreichen. Clientelismo ist die städtische Version des Coronelismo, da die meisten Grundbesitzer entweder Ärzte oder Anwälte waren und ihre Wähler als Kunden („clientes”) betrachteten. Auch Coronelismo und clientelismo sind historisch mit der Entwicklung Brasiliens verbunden, da die Marktwirtschaft ursprünglich von Grundbesitzern geführt wurde. Dabei entstanden die sogenannten Machtbereiche der Grundbesitzer („reinos“), wobei die Herrschaften stolz darauf waren, ihr „Volk“ öffentlich zeigen zu können, als Zeichen ihrer Macht. Trotz der „Modernisierung“ Brasiliens blieb das Gleichgewicht bei der Machtverteilung zwischen Industriellen und Großgrundbesitzern erhalten. Der Präsident Getúlio Vargas verstand es, als charismatisch-populistischer Führer, mit diesem Kontext zurechtzukommen. Mit seiner Strategie, die Interessen des Volkes, der Großgrundbesitzer und Industriellen zu kombinieren, gelang es Vargas, 15 Jahre an der brasilianischen Regierung zu bleiben. Es handelte sich dabei insbesondere um die Manipulation der Arbeiterklasse, indem soziale Konzessionen zum  Ende der Autonomie der sozialen Organisationen im Lande führten. Und das ist die Basis des brasilianischen Populismus und Assistentialismus, womit dem Volk Konzessionen gemacht werden, damit die Macht erhalten bleibt, nach dem Motto: „Auf die Ringe verzichten, um die Finger zu erhalten“.

Hinzu kommt die herrschende Sichtweise, dass bestimmte Verbrechen wie Schmuggel und Korruption vorwiegend nicht als Problem betrachtet werden, wenn das Ziel als gut und nachvollzierbar wahrgenommen wird. Korrupte werden tendenziell eher als schlau denn als Verbrecher betrachtet, was eng mit der Art und Weise zusammenhängt, wie Korruptionsskandale dargestellt werden. Dies wird mehrmals als Kultur des „jeitinho brasileiro“ (etwa die Geschicklichkeit der Brasilianer, immer einen Ausweg zu finden)   bezeichnet. Nach Untersuchungen verurteilen Brasilianer jedoch mehrheitlich die Korruption: 83% sagen, dass sie ihre Stimme nicht verkaufen würden; zugleich geben jedoch 73% an, dass ihre Mitbürger es tun würden, ein klares Zeichen dafür, dass eine Wahrnehmung herrscht, dass die meisten Menschen im Lande korrupt sind.

Auch persönliche Rechtfertigungen haben eine besondere Bedeutung bei der Auseinandersetzung über Korruption. Die Referenz an Freundschaft wird als wichtiger betont als die politische Verantwortung der Politiker. Es geht um Reziprozität, um das Verständnis, dass  Menschen voneinander abhängig seien und deshalb einen besonderen Wert auf loyales Vertrauen gelegt werden soll. Vertrauen wird als Zement der persönlichen Beziehungen zusammen mit der Solidarität und Hilfsbereitschaft gesehen, Werte, die oft für die Rechtfertigung korrupter Handlungen missbraucht wurden. Staatliche Institutionen werden dazu genutzt, persönlichen Schulden gerecht zu werden, wobei gute Beziehungen als Vermittlungsinstrument dargestellt werden, da sie mit Intimität, einem vertraulichen Umgang miteinander, einem leichteren Zugang zu Menschen verbunden sind. Korruption sowie das Leben sei ein ständiger Austausch zwischen Menschen. Deshalb lohnen sich Investitionen in guten Beziehungen zu Politikern und Ämtern, was seinen politischen Preis hat: Wirtschaftliche Konzessionen werden gegen politische Konzessionen getauscht und die Schwierigkeiten, um eine Begünstigung zu erreichen, erhöhen deren politischen Preis.

Die PT hat inzwischen einen hohen politischen Preis gezahlt. Es geht dabei in erster Linie um Macht und Regierungsfähigkeit. Anstatt Bündnisse einzugehen, um Sozialreformen durchzusetzen, ging die PT Bündnisse um Macht ein. Das Mittel wird zum Ziel und die Pragmatiker scheinen sich inzwischen durchgesetzt zu haben. Dies ist unserer Meinung nach jedoch kein Verrat, denn es ist nicht so, dass Lula oder die PT von der sogenannten Macht des Staates verändert wurden, sondern eher umgekehrt: um Macht zu erreichen, um regieren zu können, wird das Programm/Ziel aufgegeben. Diese Entwicklung wurde seit Anfang der 90er Jahren allmählich zur politischen Strategie der PT und fand ihren Höhepunkt nach dem Wahlerfolg 2002: Immer mehr wurden die Türen für Mitglieder geöffnet, die keinen Bezug zur  Parteitradition hatten; Parlamentarier anderer Parteien wurden aufgenommen, die in der PT bessere Wahlchancen für sich sahen; es wurden Direktwahlen zum Vorstand durchgeführt, die die Bedeutung der parteiinternen Debatten herabsetzten; Investitionen in Marketing und Professionalisierung des Parteiapparats wurden massiv erhöht; und nicht zuletzt wurden die Intensität der politischen Bildung und der programmatischen Auseinandersetzung drastisch verringert (Pont, 2003).

Da im Präsidialsystem ein Präsident mit einer Minderheitsregierung sich tendenziell gezwungen sieht, Bündnisse mit anderen Parteien einzugehen, um regieren zu können, stellen die politischen Verhandlungen ein wichtiges Mittel für die Regierungsfähigkeit dar. Und indem die Mehrheit der Parteien im Lande bereits im Wahlkampf durch korrupte Handlungen ihre meisten Stimme erreicht, um ihre Machtpositionen aufbauen zu können, ist es sehr wahrscheinlich, dass politische Verhandlungen zwischen den Parteien und Parlamentariern durch korrupte Handlungen begleitet werden.

Dies kann jedoch keineswegs als Rechtfertigung für die PT dienen, denn in den meisten Situationen, in denen sie regierte, konnte sie nicht mit Mehrheiten in Parlamenten rechnen. Die PT legte nicht nur deshalb einen besonderen Wert auf die Mobilisierung der Zivilgesellschaft, um wichtige Veränderungen zugunsten der Mehrheit der Bevölkerung durchzusetzen, weil sie meistens mit einer Minderheitsposition in Parlamenten konfrontiert war, sondern weil sie davon ausging, dass die Macht als Gegenhegemonie in der Gesellschaft zu erkämpfen ist, indem durch politische Partizipation und Selbstorganisation ein höheres politisches Bewusstsein der Bevölkerung erreicht werden kann.

Dies ist die grundsätzliche Veränderung der PT unter der Regierung Lula, die nicht bereit ist, auf partizipative Demokratie (nach dem Vorbild des erfolgreichen Beteiligungshaushaltes) zu setzen, sondern versucht, sich der Logik der korrupten parlamentarischen Demokratie Brasiliens anzupassen und dahin tendiert, selbst zu degenerieren. Für Brasilien bedeutet dies einen großen Rückschlag in der Demokratisierung des Landes, denn die PT verkörperte bisher als einzige große Programmpartei die große Hoffnung auf Veränderungen, die demokratisch von unten durch wachsende Sozialmobilisierung gestaltet werden könnten. Die zunehmende Anpassung der PT an die historische autoritäre, populistische und lobbyistische Tradition der brasilianischen Politik ist besonders in dem Sinne zu bedauern, weil sie dadurch nicht nur ihre führende Rolle als Hoffnungsträger in Brasilien aufgibt, sondern entscheidend dazu beiträgt, dass Korruption noch stärker naturalisiert wird und es stets schwieriger wird, effektive Alternativen dagegen zu setzen.

Literatur:

Córdova, Armando/Michelena, Hector Silva. Die wirtschaftliche Struktur Lateinamerikas. Drei Strudien zur politischen Ökonomie der Unterentwicklung. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1971.

Córdova, Armando. Strukturelle Heterogenität und wirtschaftliches Wachstum. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1973.

Marx, Karl. Der Bürgerkrieg in Frankreich. MEW, Band 17. Berlin: Dietz Verlag, 1971.

Pont, Raul. Hoffnung für Brasilien. Beteiligungshaushalt und Weltsozialforum in Porto Alegre. Entwicklung der PT und Lulas Wahlsieg. Köln: Neuer ISP Verlag, 2003.

Smith, Adam. Untersuchung über Wesen und Ursachen des Reichtums der Völker. Band I. Düsseldorf: Verlag Wirtschaft und Finanzen, 1990.

__________

[1] Der Skandal um angebliche Schmiergeldzahlungen an Bundesabgeordnete durch wichtige PT-Funktionäre im Juni/Juli 2005, um eine Mehrheit für parlamentarische Abstimmungen zu erhalten.

[2] Partido dos Trabalhadores (Arbeiterpartei).

[3] Fernando Affonso Collor de Mello, Präsident Brasiliens  zwischen 15.03.1990 und 02.10.1992.

[4] Eine Art brasilianisches Kanzleramt.

[5] Die Bedingung des Schmarotzerdaseins der Bourgeoisie nach Karl Marx (1971).

[6] Das Forum fand vom 7. bis zum 10. Juni 2005 in Brasília statt.

[7]  Brasilien steht übrigens dabei auf Platz 46 mit der Note 4.

[8] Präsident der PFL (Partei der Liberalenfront, die rechteste Partei Brasiliens) und Senator aus dem Bundesland Santa Catarina.

[9] Wie beziehen uns hier auf die u.a von Córdova dargelegten Abhängigkeitsstruktur Lateinamerikas. „In unseren Gesellschaften hat die Entwicklung eines abhängigen kapitalistischen Sektors historisch die Existenz nicht-kapitalistischer Sektoren vorausgesetzt; dadurch wurde die Ungleichheit der Verteilung erheblich verschärft. (...)  Doch nicht die einfache Monoproduktion macht den Charakter der Abhängigkeit aus. Wenn sie tatsächlich im nationalen Besitz und auf diese Weise kontrolliert wäre, verschwände eines ihrer entscheidenden Attribute: ihre Extra-Nationalität. Im allgemeinen aber befindet sich in den monoproduzierenden Ländern dieser Sektor im Besitz oder unter der Kontrolle von ausländischen Unternehmen; das mag an der Eigentumslage des im Sektor investierten Kapitals und/oder an der Kontrolle über den Außenmarkt der Produktion liegen. Und das ist der Schlüssel zur wirtschaftlichen Abhängigkeit. Die Entscheidungen über das Produktionsvolumen und die Preisdynamik werden getroffen, um Ziele zu erreichen, die mit dem Allgemeinwohl der Einwohner des Landes nichts zu tun haben“ (Córdova, 1973: 54; Córdova/Michelena, 1971: 115).

[10] Damit bezog sie sich insbesondere auf die Kleidung des damaligen Präsidenten.

[11] Federação das Indústrias do Estado de São Paulo (Industrieverband des Bundesstaates São Paulo).




28-09-2006, 21:17:00 |Antonio Inàcio Andrioli