Abschlachten von Unschuldigen
Michel Warschawski
Das folgende Interview dokumentiert das Leiden und die Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung im Gaza noch vor der Militärinvasion. Das Gespräch mit Michel Warshawsky, Leiter des Alternativen Informationszemtrums (AIC) in Jerusalem, erschien am 22.6. in der italienischen Zeitung il manifesto.
25.04.2007
Das folgende Interview dokumentiert das Leiden und die Unterdrückung
der palästinensischen Bevölkerung im Gaza noch vor der Militärinvasion.
Das Gespräch mit Michel Warshawsky, Leiter des Alternativen
Informationszemtrums (AIC) in Jerusalem, erschien am 22.6. in der
italienischen Zeitung il manifesto.
An der israelischen Luftoffensive klebt erneut das Blut unschuldiger
Palästinenser. Gestern wurden eine schwangere Frau und ihr Bruder
getötet sowie 14 weitere Palästinenser bei einem neuen Angriff in Khan
Yunis (Gaza) verletzt (drei davon sind Kinder). Eine von einem Flugzeug
(oder einem Hubschrauber) anscheinend auf ein Auto, in dem sich
Mitglieder der Komitees des Volkswiderstandes (PRC) befanden,
abgefeuerte Rakete, traf stattdessen ein Wohnhaus. Ein erneuter
"tragischer Irrtum", ein neuer "Kollateralschaden" des militärischen
Feldzuges, den Israel gegen die palästinensischen Aktivisten gestartet
hat, die beschuldigt werden, selbst gebaute Raketen auf die Stadt
Sderot abgefeuert zu haben. Die verbitterten Bewohner der israelischen
Kleinstadt protestieren nun mit einem gegen den Staat gerichteten
Streik. Der Verteidigungsminister und ihr Mitbürger Amir Peretz (von
der Arbeitspartei Avoda) versucht sie zu beruhigen, indem er grünes
Licht für Luftangriffe und Kanonenbeschuss gibt und (wie man sagt) bald
auch für eine umfangreiche Bodenoffensive. Die Palästinenser antworten
darauf mit neuen Raketenangriffen.
Eine Abfolge von Angriffen und Repressalien, für die die
palästinensischen Zivilisten teuer bezahlen, während Peretz, der
israelischen Presse zufolge die Eliminierung von Hamas-Führern
genehmigt hat. Die "große konservative" Tageszeitung Yediot Ahronot
veröffentlichte gestern die Profile der acht möglichen Ziele des
israelischen Feuers, darunter Ministerpräsident Ismail Hanija,
Außenminister Mahmud Zahar und Innenminister Said Siam. Israel
bezeichnet das als "gezielte Exekutionen" von Führern und Militanten.
Es sterben aber auch Unschuldige.
Gestern nahmen Hunderte Palästinenser in Jabaliya an der Beerdigung
zweier Brüder im Kindesalter und eines Heranwachsenden teil, die von
einer israelischen Rakete getroffen wurden, die auf ein Auto abgefeuert
worden war, in dem sich zwei Aktivisten der Al-Aqsa-Märtyrer-Brigaden
befanden. In den vergangenen Tagen wurden bei verschiedenen
israelischen Militäroperationen weitere palästinensische Kinder
getötet. Die internationale Gemeinschaft aber schweigt weiter oder
beschränkt sich darauf, die beiden im Konflikt liegenden Parteien zur
"Mäßigung" aufzurufen. Über diese Gleichgültigkeit gegenüber dem
Schicksal der unter der Besatzung lebenden Palästinenser und das jeden
Tag fließende Blut diskutierten wir mit Michael "Mikado" Warschawski,
einem der bedeutendsten Vertreter der israelischen Friedensbewegung und
Autor des Buches "Israele – Palestina. La sfida binazionale" ("Israel –
Palästina. Die binationale Herausforderung").
Tödlich
getroffene Unschuldige. Jeden Tag erreichen uns aus Gaza dramatische
Nachrichten, die die Weltöffentlichkeit erschüttern. Bis vor einiger
Zeit war das allerdings nicht so.
"Der Hauptgrund für die Gleichgültigkeit liegt darin, dass es den
amerikanischen Neokonservativen und ihren Verbündeten in aller Welt
gelungen ist die These zu verbreiten, dass in dem stattfindenden ‚Kampf
gegen den internationalen Terrorismus’ ein Tribut in Form von
Menschenleben Unschuldiger unvermeidlich, ja fast notwendig ist. Jeden
Tag erfahren wir von zivilen Opfern bei amerikanischen Luft- und
Bodenoperationen in Afghanistan oder im Irak. Das alles erschüttert die
Weltöffentlichkeit (vor allem im Westen) allerdings nicht. Diesen
Leuten ist es gelungen, Hunderte Millionen Menschen glauben zu machen,
dass die Besetzung bestimmter Länder, der Einsatz verheerender Waffen
und der daraus folgende Tod von Männern, Frauen und Kindern, die ohne
irgendeine Verantwortung sind, den Preis darstellt, der für unsere
Sicherheit bezahlt werden muss. Das alles trifft auch und vor allem in
Israel zu, wo zunächst Sharon und dann Olmert alles dafür getan haben,
die Bevölkerung glauben zu machen, dass unsere Armee ‚die Moralischste
der Welt’ ist und dass immer die Palästinenser schuld sind, auch wenn
unsere Soldaten Frauen und Kinder am Strand abschlachten oder während
sie auf der Straße herumlaufen. Diese Toten – erklären uns Politiker
und Militärs – sind Teil der humanen Kosten, die unsere Sicherheit
garantieren. Natürlich werden sich diese Leute nach jeder Tötung
beeilen, ihr Bedauern über den ‚Fehler’ auszusprechen, dabei aber
gleichzeitig betonen, dass dafür immer nur die militanten Palästinenser
verantwortlich sind."
Und
die israelische Mitte-Linke? In den letzten Jahren haben die Mitglieder
der Arbeitspartei (Avoda) und die "links"-sozialdemokratische Meretz
den von der Rechten entwickelten Unilateralismus akzeptiert, ohne dies
zuzugeben.
"Die unilateralen Pläne von Sharon und Olmert gefallen einem großen
Teil der traditionellen israelischen Linken, wie dem Meretz oder der
Arbeitspartei sehr gut. Das sind politische Kräfte, die sich öffentlich
für die Wiederaufnahme der Verhandlungen aussprechen, aber in
Wirklichkeit die Mauer, die in Cisjordanien gebaut wird, und all das,
was auf dem Terrain derzeit einseitig umgesetzt wird, akzeptieren. Man
darf nicht vergessen, dass die Idee einer eindeutigen Trennung von den
Palästinensern zuallererst eine der Arbeitspartei ist. Und wenn der
Unilateralismus okay ist, dann ist für diese politischen Kräfte auch
all das in Ordnung, was die militärischen Befehlsstäbe beschließen,
auch wenn es unschuldige Palästinenser sind, die dabei ihr Leben
verlieren."
(Vorbemerkung, Übersetzung und Einfügungen in eckigen Klammern: Antifa-AG der Uni Hannover und Gewerkschaftsforum Hannover)
03-07-2006, 21:38:00 |Michel Warshawsky im Interview