50 Jahre Römische Verträge: Was gibts denn da zu feiern?
Franco Russo
Vor 50 Jahren, im März 1957, besiegelten die Römischen Verträge die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und die europäische Nukleargemeinschaft (Euratom). In diesen Tagen wird dieser Akt als die größte friedensstiftende Maßnahme auf dem europäischen Kontinent der letzten 200 Jahre gefeiert. Doch die Römischen Verträge nehmen vorweg, was heute durch den EU-Verfassungsvertrag für alle Zeiten festgeschrieben werden soll: Markt, freien Wettbewerb und autokratischen Regierungsstil als Verfassungsgrundsatz. FRANCO RUSSO erklärt, wie die Nachkriegsverfassungen Europas dadurch auf den Kopf gestellt wurden.
11.05.2007
Vertreter der neoliberalen Schule, in Italien bspw. der Jurist Fabio
Merusi, haben eindeutig bestätigt, dass die Regierungen mit den
Römischen Verträgen über die Errichtung einer Europäischen
Wirtschaftsgemeinschaft eine Zeitbombe geschaffen haben, die in den
60er und 70er Jahren explodierte und sie dann dazu zwang, sich Formen
der governance zu geben, die die technokratische Rolle des Regierens
betonen und die Regierungen in einem ständigen Prozess des Aushandelns
öffentlicher Entscheidungen mit den Wirtschaftsmächten sehen. Die
Römischen Verträge haben an die Stelle des "keynesianischen"
Eingreifens in die Wirtschaft den Markt und den Konkurrenzkampf gesetzt.
Das Vorhaben, den Wettbewerbsmarkt in den Verfassungsrang zu erheben,
stand kurz vor der Realisierung, wären nicht die beiden Nein zum
Verfassungsvertrag in der französischen und niederländischen
Volksbefragung dazwischen gekommen. Der dritte Teil dieses Vertrags
erhebt die neoliberale Politik der Union in den Verfassungsrang.
Die "Gründungsväter" der Europäischen Gemeinschaft kannten die Dramen
der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krise der 30er Jahre und
die Schrecken der beiden Weltkriege, sie fühlten sich verpflichtet,
darauf eine Antwort zu geben, um Europa zu befrieden: Sie taten es,
indem sie die politische und ökonomische Instrumente der
kapitalistischen Gesellschaft einsetzten. Sie wussten, um den Konflikt
in Europa zu überwinden, der seine Wurzeln in der bewaffneten
Gegenüberstellung zwischen Frankreich und Deutschland hatte, mussten
die beiden Volkswirtschaften miteinander verflochten werden, angefangen
von den beiden Schlüsselsektoren der Kriegsproduktion — Kohle und
Stahl. Sie hofften dadurch das Terrain für eine politische Integration
vorzubereiten.
Für beide Projekte, die politische und die wirtschaftliche Integration,
konnte man auf historische Erfahrungen und politische Projekte
zurückgreifen. In den 20er und 30er Jahren war das Stahlkartell
errichtet worden (1926, es wurde 1933 erneuert) — es hielt dem Angriff
der "Staatsräson" nicht stand, obwohl die großen Konzerne es
verstanden, ihre Interessen zu vertreten; vor allem aber zielte das
Gewaltregime Hitlers darauf ab, die deutsche Wiederbewaffnung zu
fördern.
1950 ging es nicht allein darum, ein neues Wirtschaftskartell zu
errichten, man musste ihm auch einen "Sinn" und eine politische
"Dimension" geben. Dieser fand sich in den verschiedenen
föderalistischen Projekten, die in den Jahren des antifaschistischen
Kampfes gereift waren (man denke nur an das Manifest von Ventotene, das
im Jahr 1941 von den Italienern Altiero Spinelli und Ernesto Rossi
verfasst wurde). Nach dem Ende des Krieges erhielten sie neuen Schwung
durch europäische Kongresse und Konferenzen.
Das wichtigste Treffen war der Kongress von Den Haag, der am 7.Mai 1948
eröffnet wurde. Dort legten die "europäistischen Europaverfechter" ihre
verschiedenen Konzepte dar: Konföderation, Integration von
Wirtschaftszweigen, Föderation — ohne dass es ihnen gelang, den Prozess
des europäischen Aufbaus in Gang zu setzen. Von diesem Kongress ging
jedoch der Anstoß zur Gründung des Europarats aus; dieser
verabschiedete die "Europäische Konvention zum Schutz der
Menschenrechte und Grundfreiheiten" am 4.November 1950 in Rom — das war
ein erstes wirksames Instrument für eine supranationale
(staatenübergreifende) Garantie der Grundrechte gegenüber den einzelnen
Staaten.
Die Erklärung Robert Schumans vom 9.Mai 1950 hatte die ökonomische
Integration und den föderalistischen Aufbau Europas zur Achse. Eine
Hohe Behörde sollte die Fusion der Märkte und die Ausweitung der
Produktion von Kohle und Stahl regeln, um die materielle Möglichkeit
eines Krieges zwischen Deutschland und Frankreich bereits im Keim zu
ersticken und mit Hilfe einer europäischen Gemeinschaft die Grundlage
für eine europäische Föderation zu legen — die sei "unabdingbar für den
Erhalt des Friedens".
Die wirtschaftliche Integration, die "Fusion" der Märkte, sollte zu
einer politischen Union führen, das war am Anfang das Ziel. Es schlug
jedoch fehl, weil der Plan der wirtschaftlichen Integration fortgeführt
werden konnte, die politische Integration jedoch fehlschlug. Heute
dominieren Markt und Unternehmen die Europäische Union: die
kapitalistische Wirtschaft dominiert die ganze Gesellschaft.
Die Geschichte der Europäischen Gemeinschaften und der Union ist die
des Aufbaus eines Binnenmarkts, einer Gemeinschaft von Handelsleuten.
Deren wichtigste Etappen waren die Zollunion, der Gemeinsame Markt und
später der Binnenmarkt; die Integration nach Wirtschaftssektoren wie
sie die Römischen Verträge vorsahen; die Agrarpolitik; die
Stabilisierung der Wechselkurse durch Geldmengenpolitik; die
Währungsunion und die Kontrolle der öffentlichen Haushalte, begleitet
von der Privatisierung der Monopole und der öffentlichen Dienste und
von der Liberalisierung des Arbeitsmarktes.
Der Vertrag von Maastricht erhob "stabile Preise, gesunde öffentliche
Finanzen und ordentliche monetäre Verhältnissen sowie eine nachhaltige
Zahlungsbilanz" in den Rang von Grundsätzen (EG-Vertrag, Art.4) und hat
damit eine richtiggehende "Wirtschaftsverfassung" entworfen. Eine
solche ist im dritten Teil des EU-Verfassungsvertrags enthalten; damit
hat sich die ordoliberale Freiburger Schule — die Doktrin von einer
"sozialen Marktwirtschaft", auf die sich in Deutschland das Modell des
rheinischen Kapitalismus gründete — nunmehr überwältigt von der
Globalisierung in Luft aufgelöst.
Mit Hilfe der Institutionen der EWG und später der EU haben sich die
Regierungen legislative Funktionen angeeignet, sie haben sich der
parlamentarischen Kontrolle entzogen und agieren in einem Vakuum
politischer Verantwortung. Mit Hilfe der verschiedenen Ministerräte
haben die Regierungen weite Bereiche der gesetzgebenden Gewalt der
Kontrolle der nationalen Parlamente und des europäischen Parlaments
entzogen. Letzteres hat mit den Jahren die Befugnis errungen zu
kooperieren und "mitzuentscheiden", doch bis heute verfügt es nicht
einmal über das Recht zur Gesetzesinitiative. Diese ist ausschließliche
das Monopol der EU-Kommission, und der Verfassungsvertrag ändert an
dieser Sachlage nichts (siehe Art.I-26 und III- 396). In der Union
machen die Regierungen die Gesetze und bestimmen zugleich über ihre
Durchführung — das sind die "Direktiven", die die Regierungen
unmittelbar ohne Vermittlung der nationalen Parlamente umsetzen. Die
Regierungen haben ihre Vorherrschaft in der Form des Primats des
Europäischen Rats durchgesetzt, er bestimmt die politische Richtung in
der Union; er ist keinem repräsentativen Organ gegenüber verantwortlich
und seine Entscheidungen sind unanfechtbar.
Der Mehrebenenkonstitutionalismus kann helfen politische Initiativen zu
erfinden, die mit den Gepflogenheiten zwischenstaatlicher Politik
brechen. Einen Hinweis des frühen Hans Kelsen aufgreifend, fasst er die
Möglichkeit ins Auge, "die Verfassung vom Staat zu trennen", also eine
Verfassungsdemokratie ohne Staat von unten zu errichten, in der
Gesellschaft und Institutionen auf verschiedenen Ebenen (der lokalen,
regionalen, nationalen und europäischen) miteinander kommunizieren,
über Mechanismen der direkten Beteiligung und der Vertretung, die von
der Verfassung festgelegt werden. In deren Zentrum stehen die
Grundrechte, die politisches Handeln zugleich lenken und begrenzen.
Die "europäischen Verfassungstraditionen", die sich in den universellen
Menschenrechten materialisieren, wurden in historischen Kämpfen
errungen und in die Verfassungen der zweiten Nachkriegsära gegossen —
man denke nur an die ersten zwanzig Artikel des Grundgesetzes oder an
den ersten Teil der italienischen Verfassung. Sie bilden die Grundlage
der europäischen Verfassungsdemokratie und das Naturrechtsubstrat für
das positive Recht — es kann von keinem Gesetzgeber angetastet und zur
Verfügung gestellt werden — und sei es eine verfassungsgebende
Versammlung.
Die Tatsache, dass gesellschaftliche Subjekte mit dem Nein in den
Volksbefragungen zum Verfassungsvertrag verfassungsgebenden Boden
betreten haben, bietet deshalb die Chance, dass die Bevölkerungen zum
europäischen Parlament und zu den nationalen Parlamenten in eine
direkte Beziehung treten und damit ein Mehrebenensystem ins Leben
rufen, das eine die Verfassung ausarbeiten und in einem gemeinsamen
europäischen Referendum verabschieden kann. Mit ihrer
"verfassunggebenden" Beteiligung können die Völker einen
Kompetenzzuwachs des Europäischen Parlaments legitimieren. Dieses wäre
dann berufen, die Regierungskonferenzen bei der Ausarbeitung der
Verfassung zu ersetzen. Sie würde einem europäischen Referendum
vorgelegt und würde damit zum Gründungsakt der politischen Gesellschaft
der Bürgerinnen und Bürger Europas.
22-03-2007, 08:33:00 |Franco Russo