Wieder normal?
Kurt Hofmann
Notizen zum Begriff der „Neuen Normalität“
10.09.2020
Normal:
1) „normal“ Adj. `der Norm entsprechend´, vorschriftsmäßig, gewöhnlich, allgemein üblich, durchschnittlich, geistig gesund (Anfang 18.Jh.) - Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, S.1178, Akademie-Verlag Berlin, 1989
2) „Die Mitglieder der jeweiligen sozialen Gruppe `wissen´ einfach, was richtig oder falsch ist. Oder sie meinen es zu wissen. Und diese Haltung gilt zunächst einmal. Das Richtige ist die Norm, deren Einhaltung erwartet werden kann.“ - Asmus Finzen/Normalität, S.56, Psychiatrie-Verlag
3) Normal: Stadt in Illinois, USA
1947: Knapp nach der „Stunde Null“, dem Ende der verachtenswerten zwölf Jahre, fordert der westdeutsche Staat (die staatliche Neugründung in Bundesrepublik Deutschland erfolgt erst zwei Jahre später) wieder Achtung ein. Hier sei nun die Demokratie eingekehrt, ein selbstbewusstes Volk könne über seine Zukunft entscheiden, die schon hoffnungsvoll begonnen habe, anders als in der nahegelegenen „SBZ“ (Sowjetische Besatzungszone) - wie man den Osten Deutschlands (dessen staatliche Neugründung in Deutsche Demokratische Republik erfolgt erst zwei Jahre später) hier nennt - wo die freie Meinung unterdrückt werde. Von dort meldet sich Bertolt Brecht und nimmt die „Neue Normalität“ (um es mit einem aktuellen Begriff zu benennen) des westdeutschen Staates in seinem Gedicht „Der anachronistische Zug oder Freiheit und Democracy“ unter die Lupe: „Folgen, denn es braucht der Staat sie/Alle die entnazten Nazi/Die als Filzlaus in den Ritzen/Aller hohen Ämter sitzen…“
2020: Die „Neue Normalität“ definiere sich durch die im Seuchenalltag notwendigen Einschränkungen. Danach (Nach: „Der Impfung“) werde alles wieder sein, wie zuvor, heißt es. So wie bei Skandalen oder nach (Natur-)Katastrophen wird dabei auf die Ungeheuerlichkeit des Vorgangs verwiesen. Dass hinter dem Skandal möglicherweise System steckt und die (Natur-) Katastrophe auf vorheriges menschliches Eingreifen, befördert durch ein verfehltes System, zurückzuführen ist, verschwindet dabei im Schatten des Erschauerns.
Naturgemäß ist auch in der „Neuen Normalität“ des Covid-19-Zeitalters die gesellschaftliche Realität nicht verschwunden. Pünktlich um 18.00h wurde in der Zeit des Shutdowns den „Heldinnen und Helden“ (noch einmal Brecht – aus „Leben des Galilei“: Unglücklich das Land, das Helden nötig hat“) aus den systemrelevanten Bereichen applaudiert.
Eine schöne, allerdings auch eine leere Geste. Den systemrelevanten PflegerInnen (vornehmlich) aus Rumänien hatte man in der Alten Normalität von Schwarz-Blau 2 die Kinderbeihilfe auf das im Herkunftsland übliche Maß gekürzt, die systemrelevanten Supermarktkassiererinnen müssen vielfach nach wie vor in ihren (gesetzlich vorgeschriebenen) Pausen Arbeit verrichten, zu schweigen von der erbärmlichen Bezahlung. Und die sichtbar gewordenen Arbeits- und Lebensbedingungen der systemrelevanten LeiharbeiterInnen in den Spargelfeldern oder in den Postverteilungszentren? (hier wirkte Covid-19 wie ein Brennspiegel – allerdings folgenlos). Kennzeichnend ein Statement des ProG-Gewerkschafters Erwin Kinslechner über die Situation in den (systemrelevanten) Fleischverarbeitungsbetrieben, deren BranchenvertreterInnen nicht müde wurden, zu betonen, ein Skandal wie in den deutschen Tönnies-Betrieben wäre „bei uns“ nicht möglich: „In unserem Bereich gibt es Unternehmen, die bis zu 90 Prozent LeiharbeiterInnen beschäftigen. Und deren Unterbringung: Da gibt es ein Beispiel aus der Steiermark, wo sechs Leute auf 15 m² Wohnraum leben mussten. Sie hatten nur Matratzen und pro Matratze wurden 100 Euro verlangt.
Da geht es nicht um einzelne schwarze Schafe, sondern um ein System, das man nicht in den Griff bekommt.“ (zitiert nach: Konkret, ORF2, 30.7.2020)
Allerdings: all dies wurde in der „Neuen Normalität“ ausschließlich unter dem Aspekt der Cluster-Bildung betrachtet. Eine mögliche Lebensgefahr durch die unter lebensunwürdigen Bedingungen Arbeitenden wurde festgestellt, eine nachhaltige Debatte über den in der Neuen Normalität sichtbar gewordenen Skandal alter (kapitalistischer) Normalitäten blieb (angesichts des „Ungeheuerlichen“ von Covid-19) aus.
Eine kaum diskutierte Programmmaßnahme des ORF ist die Durchschaltung der „Zeit im Bild“ auf alle Programme des ORF. In den Siebzigern des Zwanzigsten Jahrhunderts war das noch durchaus üblich (in einer Programmlandschaft ohne private Konkurrenz) und, speziell in der Auslandsberichterstattung, den Maßgaben des Kalten Krieges geschuldet. In Holzinger/Springers Untersuchung „Aktuelle Fernsehinformation“, 1973 erschienen, wird zudem deutlich, dass „die Angabe exakter Nachrichtenquellen in der Fernsehinformation die Ausnahme ist. 61,9% der Meldungen nennen keine Quellen, Personenquellen werden bei 29,2% angegeben, Agenturquellen bei 6,9%, unidentifizierbare Quellen („gewöhnlich gut unterrichtete Kreise“ u.ä.) bei 1,9% der Meldungen.“ Abzüglich der mangelhaften journalistischen Qualität wird hier, in der Alten Normalität von 1973, eine Tendenz zur Verschleierung sichtbar.
In der „Neuen Normalität“ von 2020 wird seitens des ORF auf die notwendige Vermittlung der Maßnahmen der Regierung speziell während des Shutdowns verwiesen. Allerdings wurde besonders in dieser Phase auch die journalistische Eigenständigkeit weitgehend zurückgestellt, zugunsten des vom Ballhausplatz kommenden Informationsflusses. Diese offiziösen Statements der Regierung mischten sich mit den der Nachrichtensendung folgenden „Mitteilungen der Bundesregierung“, gestaltet von Marketingfirmen zwecks leichterer Vermittlung der Inhalte („der Babyelefant“), was zur Folge hatte, dass die Werbung einer Möbelfirma („Du musst nicht in die Welt hinaus, am schönsten ist es doch zuhaus!“) ohne weiteres mit einer „Mitteilung der Bundesregierung“ verwechselt werden konnte... Immer noch wird durchgeschaltet, trotz des in anderen Bereichen nun üblichen Verweises auf die Eigenverantwortlichkeit – wie ist es mit jener der MedienkonsumentInnen? Dabei geht es nicht um die unterschwellige Vermittlung sinistrer Botschaften, sondern um konkrete Interessen seitens der ORF-Führung (die demnächst neu bestellt wird und bleiben will) wie der Regierung, der an ungefilterter Präsenz in der Deckung des Erschauerns ob des „Ungeheuerlichen“ gelegen ist. Ein gewisses Unbehagen ob der durchgeschalteten Omnipräsenz einer Nachrichtensendung in der Medienrealität des 21.Jahrhunderts bleibt aber.
Rekapitulieren wir: Alte Normalitäten werden ständig durch Neue Normalitäten abgelöst, durchmischen sich auch immer wieder.
Vieles von dem, was heute als normal gilt, hätte man in den bieder-konservativen 1950er-Jahren als abnorm bezeichnet, viele der gesellschaftlichen Reformen der 1970er Jahre wären Anfang der 1960er-Jahre noch unvorstellbar gewesen, ebenso wie das neoliberale „Geiz ist geil“ der Gegenwart einige Jahrzehnte zuvor etc.
Wenn sich Restauratives in der Maskierung von „Reformen“ Platz schaffen will, geht es allerdings um die Definitionshoheit. Am 15.Dezember 2000 schreibt Monika Mokre in „Die Linke“ unter dem Titel „Widersteht Normalität“ über den Widerstand der KünstlerInnen gegen Schwarz-Blau I und endet so: „Und es steht zu hoffen, dass sich der künstlerische Widerstand auch weiterhin zu Wort melden, Aufmerksamkeit erregen und dem Einzug der Normalität keine Chance geben wird.“
Naiv ist, wer vermeint, mit der Findung eines Impfstoffes werde „Österreich wieder zu unserer alten Normalität zurückkehren“ (Kurz). Abgesehen von der Frage, wie wünschenswert das in vielerlei Hinsicht wäre, ist Kurz wohl der Erste, dem dies nicht zupass käme. In seiner Rede zur Lage der Nation (üblicherweise ja ein Privileg von US-Präsidenten, aber im Vergleich mit Trump steigt selbst Kurz besser aus, also, was soll's) findet sich eine ebenso bemerkenswerte wie beunruhigende Ankündigung für einen Notstand 2.0: „In manchen Situationen haben wir gesehen, dass unsere gesetzlichen Grundlagen gut sind für den Normalbetrieb, aber dass sie nicht ausreichen für Krisenzeiten. Wir werden daher als Bundesregierung ein neues Krisensicherungsgesetz auf den Weg bringen. (…), damit unbürokratisch Beschaffungsvorgänge stattfinden können und wir gut gerüstet sind, egal, ob die nächste Krise eine Pandemie, ein Terroranschlag oder ein Cyberangriff ist. (Kurz, 28.8.2020)
Gut gerüstet - für den Notstand? Der dann wie begründet wird? Wann ist ein Terroranschlag schlimm genug, wann ein Cyberangriff nachhaltig bedrohlich, um in der Folge alles zuzusperren und unter Kontrolle zu bringen?
Auf welche befreiende Impfung kann im Falle eines Notstandes, begründet durch „Bedrohung von außen“, behauptet oder real, gehofft werden?
Freilich, wir sind in Österreich, und es ist so wie im Falle des Feueralarms, wohl „nur eine Übung“, sind wohl bloß Gedankenspiele, denn es kann doch nicht, bei uns doch nicht...
Konkreter sind die Vorbereitungen für eine Zeit, die sich als Rückkehr zur Alten Normalität definieren wird, bei Kurz schon im Falle von möglichen Sparpaketen nach dem „Koste es, was es wolle!“ (das jedoch durch die Abschaffung der im Epidemiegesetz festgeschriebenen vollständigen Entschädigung für [wirtschaftlich] Betroffene einer Seuche ohnedies nur ein „Koste es, wieviel es uns halt passt“ war - ein Taschenspielertrick), die mit dem Gegeneinander-Ausspielen, dem Säen von Neid und Zwietracht vorbereitet werden sollen: „Nennen sie mir ein Land, ein einziges Land der Erde, wo Menschen in dieser Krise, auch wenn sie keine einzige Stunde gearbeitet haben, 90% ihres Gehaltes erhalten haben!“ sagt Kurz im Rahmen einer parlamentarischen Anfrage während der Generalbudgetdebatte 2020 und setzt fort: „Und verstehen sie mich nicht falsch! Das ist nicht das Verdienst der Bundesregierung, das sind die österreichischen Steuerzahler, die das möglich gemacht haben!“...
Was aus dieser Neuen Normalität, der Neuen Normalität dieser Tage, in einer nächsten Neuen Normalität wohl bleiben wird, ist das Homeoffice, bislang ein Hort des jederzeit Erreichbaren, in dem kein Arbeitsinspektorat jemals die Arbeitsbedingungen überprüft hat. Ist es also vorteilhaft, wenn sich die Regierung nun für die Arbeitsbedingungen interessiert, Regelungen einbringen will? Arbeitsministerin Aschbacher spricht im Interview mit dem „Kurier“ allerdings von dem Wunsch nach „mehr Flexibilität“ und „Eigenverantwortung“ nach einer von ihr gewünschten Aufhebung der gesetzlich festgeschriebenen elf Stunden Nachtruhe (vgl. Kurier, 27.8.2020,S.4)... Das ginge noch besser im Sinne neoliberaler Phantasien: „Der große Teil des Lebens, den wir im Schlaf verbringen, frei vom Sumpf simulierter Bedürfnisse, ist bis heute einer der großen menschlichen Affronts gegen die Gefräßigkeit des Kapitalismus“ schreibt der Kunsthistoriker Jonathan Crary in seinem Buch „24/7“, wissend um die Aktivitäten der „Sleephacker“, die „hochwertigen, effizienten Schlaf“ fördern wollen: „Sleephacker gehen mit Sensoren an Handgelenken und Stirn ins Bett und führen detaillierte Online-Schlaftagebücher. Um den Wechsel zwischen den Schlafphasen zu manipulieren, experimentieren sie mit diversen Faktoren wie Ernähung, Raum- und Körpertemperaturen oder körperlichen Übungen.“ (Evgeny Morozov: Silicon Demokratie; FAZ, 2.8.2013). Weniger, dafür “effizienter“ - Crary resümiert: „Innerhalb des globalisierten neoliberalen Paradigmas ist Schlafen etwas für Verlierer“ (FAZ, a.a.O)
Wer annimmt, die zunehmende Bedeutung des Homeoffice speise sich einzig aus den Erfahrungen während der Pandemie, irrt. Sie ist vielmehr gemäß Naomi Klein in Zusammenhang mit dem „Screen New Deal“ zu sehen: „Das Silicon Valley hatte schon vor Corona die Agenda, möglichst viele unserer persönlichen körperlichen Erfahrungen durch technologische Vermittlung zu ersetzen. Also etwa persönliches Lernen durch virtuelles Lernen, persönliche Arztkontakte durch Telemedizin und Zusteller durch Roboter. Jetzt wird uns all das als berührungslose Technologie angepriesen, um etwas zu ersetzen, was als Problem dargestellt wird, nämlich das Problem der Berührung. Und doch ist das, was wir auf persönlicher Ebene am meisten vermissen, Berührung“ (Naomi Klein im Gespräch mit Katharina Viner, Guardian/deutsche Version: Der Freitag, 30.7.2020, S.8)
Alles anders in Zeiten wie diesen, oder doch nicht? 1918: In Deutschland wütet, wie auch weltweit, die Spanische Grippe. Und Kurt Tucholsky schreibt das Gedicht „Spanische Krankheit“. Hier die letzte Strophe: „Ein bißchen Gefieber, ein bißchen Beschwerden,/Onkel Doktor sagt:`Morgen wird’s besser werden!´/Nachts im Dunkel transpirieren,/Herzangst, Schwindel und Phantasieren,/mittags Erhitzen, abends Erkalten/morgen ist alles wieder beim Alten-/Das ist keine Grippe, kein Frost, keine Phtisis-/ das ist die deutsche politische Krisis.“
Kurt Hofmann
(to be continued)