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Neue Allianz zwischen Regierungen und Zivilgesellschaft

Leo Gabriel

Bericht zum "Lateinamerika/Karibik und EU"-Alternativgipfel

24.04.2007

An die 3.500 Menschen besuchten die über 70 Veranstaltungen, die gleichzeitig an drei verschiedenen Schauplätzen stattfanden: dem altehrwürdigen Kongresshaus der Gewerkschaften, in der funktionalen Wiener Stadthalle und in der Arena, einem abgetakelten, ehemaligen Schlachthof, den die Studentenbewegung im Jahr 1976 "erobert" hatte, um daraus ein selbstorganisiertes Kulturzentrum zu machen.
Auch die nicht immer einfachen Verhandlungen mit den Botschaften von Venezuela, Bolivien und Kuba haben sich für die Veranstalter gelohnt. Zum ersten Mal in der Geschichte der globalisierungskritischen Sozial(forums)bewegung gab es einen Schulterschluss zwischen Regierungen und Zivilgesellschaft. Zum ersten Mal gelang es, ein offizielles Gipfeltreffen von an die 60 Regierungschefs in den medialen Schatten selbst jener Stimmungsmacher zu stellen, die bereits im Vorfeld von bevorstehenden "Ausschreitungen" gesprochen hatten.
Dabei ließ sich der sog. "Gegengipfel" zunächst eher gemächlich an. Zeitgleich zur anfänglichen Pressekonferenz im Kongresshaus strömten nach und nach die ankommenden Teilnehmer in den großen Saal und lauschten andächtig den mit viel Verve vorgetragenen Erklärungen jener Bezugspersonen, die während des gesamten Treffens immer wieder in Erscheinung treten sollten: Susan George von Attac Frankreich, Blanca Chancoso, die Symbolfigur der ecuadorianischen Indígena-Bewegung, der deutsche Politologe Elmer Altvater und der "spiritus rector" der brasilianischen Landlosenbewegung MST, João Pedro Stedile.
Letzterer sorgte für den ersten medialen Eklat, als er angesichts der politischen Linkswende in Südamerika die rhetorische Frage stellte: "Und was ist los mit Europa? Braucht ihr vielleicht Entwicklungshilfe? Oder haben sich die Grünen und die Sozialdemokraten hier bereits mit den Neoliberalen an der Macht arrangiert?"
Wie sehr diese provokante Frage ins Schwarze traf, stellte sich bald heraus, als auf dem sorgfältig vorbereiteten "Tribunal der Völker" zwei Tage hindurch die Machenschaften europäischer transnationaler Konzerne an den Pranger gestellt wurden. Trotz der Fülle des Materials, mit dem die eigens zu diesem Zweck aus Lateinamerika eingeflogenen Zeugen und Sachverständigen über 30 Fallbeispiele aus den verschiedenen Wirtschaftssektoren (Bodenschätze, Banken, Dienstleistungen, Agrobusiness etc.) dokumentierten, wurde bald klar, dass der Wahnsinn, mit dem die TNCs heute in Lateinamerika operieren, eine durchaus verallgemeinerbare Methode hat.
Zunächst treten sie mit neuen Technologien unter dem Vorwand auf, die Bedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen, kreieren dann in Wirklichkeit künstliche Bedürfnisse und kontrollieren aufgrund ihrer Quasimonopolstellung bald die lokalen und regionalen Märkte, wobei sie einander Marktanteile zuspielen, als wären sie Bälle auf einem Fußballfeld. Dass sie dabei — im Unterschied zum Fußball — die Felder systematisch zerstören, kümmert sie ebenso wenig wie der Umstand, dass sie bei ihren Beutezügen ganze Bevölkerungen der Arbeitslosigkeit und dem Hunger preisgeben.
Ein Beispiel unter vielen ist eine Zellulosefabrik, die ein finnischer und ein spanischer Konzern an der Grenze zwischen Uruguay und Argentinien aufgebaut haben, um so nützliche Dinge wie nicht recycelbare Papiertücher herzustellen, deren Abfälle den Grenzfluss verseuchen. Die Greenpeace-Aktivistin Evangelina Carrozzo sorgte beim offiziellen Gipfel für großes Aufsehen, als sie beim offiziellen Fototermin der Staatschefs im Bikini als Sambamädchen verkleidet mit einem Schild mit einem Transparent auftrat, auf dem geschrieben stand: "No pulpmill pollution" (Keine Zellstoffverseuchung).
Nicht immer war der Alternativengipfel so vergnüglich: Am 11. und 12.Mai wurden in den Plenardiskussionen zu den fünf Hauptachsen Neoliberale Ordnung, Militarisierung und Menschenrechte, Zusammenarbeit, Integration und politischer Dialog sowie in über 60 Seminaren Konzepte erarbeitet, mit denen in Zukunft die lateinamerikanisch-karibische und die europäische Zivilgesellschaft der Herrschaft der transnationalen Konzerne entgegentreten wollen. Das Spektrum reichte von den Forderungen der Mapuche-Indianer, die des "Terrorismus" angeklagt sind und sich im Hungerstreik befinden, über die Ernährungssouveränität und den Beteiligungshaushalt bis zum Entwurf des lateinamerikanischen Integrationsmodells ALBA (Alianza Bolivariana de las Américas), in dessen Mittelpunkt Venezuela, Bolivien und Kuba stehen.
Dieses "Dreigestirn", personifiziert durch die Staatschefs Hugo Chávez und Evo Morales sowie durch den Vizepräsidenten des kubanischen Staatsrats Carlos Lage, erregte am letzten Tag des Alternativengipfels besonderes Aufsehen. Während eines Kulturprogramms (in Lateinamerika sind Kultur und Politik zwei Seiten ein und derselben Medaille) platzten sie in die bis auf den letzten Platz gefüllte Wiener Stadthalle, um dadurch zu dokumentieren, dass der Alternativengipfel für sie die Hauptsache vom ganzen Treffen der Regierungschefs war.
Auch wenn die zweieinhalbstündige Rede des venzolanischen Staatspräsidenten eindeutig zu lang ausfiel, fiel es den etwa 2000 Zuschauern, die nach der Abschlussdemonstration auf dem Wiener Heldenplatz in die Stadthalle gekommen waren, wie Schuppen von den Augen, als dieser sagte: " Wir sind nicht hierher gekommen, um uns bei einem folkloristischen Ereignis zu vergnügen, sondern um der Frage nachzugehen, wie diese neue Allianz zwischen Regierungen und Zivilgesellschaft durch die Ausarbeitung konkreter Projekte besiegelt werden könnte."
Gesagt, getan: Noch im August dieses Jahres wird in Caracas ein Treffen von Vertretern der wichtigsten lateinamerikanischen und europäischen Netzwerke stattfinden. Auf ihm sollen konkrete Projekte diskutiert werden, in denen die Netzwerke selbst als Akteure eines neuartigen, solidarwirtschaftlichen Marktgeflechts auftreten. Das politische Projekt Enlazando Alternativas, das so viele Menschen aus so unterschiedlichen Kulturen in Wien zusammengeführt hat, wird also weitergehen.


07-06-2006, 10:52:00 |Leo Gabriel