EU-Dienstleistungsrichtlinie: Gewerkschaften und soziale Bewegungen ausgetrickst
Klaus Dräger
Das Europäische Parlament hat am 15. November 2006 mit großer Mehrheit in zweiter Lesung der Vorlage des Ministerrats "Wettbewerbsfähigkeit" zur EU-Dienstleistungsrichtlinie zugestimmt – mit drei rein technischen Änderungen. Für den Antrag von Linksfraktion und Grünen im EP, die Ratsposition zurückzuweisen, stimmten lediglich 105 Abgeordnete, darunter 28 SozialdemokratInnen, überwiegend aus Frankreich.
24.04.2007
Damit sind zwei Jahre heftigen Kampfes um die Richtlinie vorerst
beendet. Sie kann schon Ende 2006 in Kraft treten und stellt einen
historischen Einschnitt in der Entwicklung der Europäischen Union dar.
Nach der Schaffung eines europäischen Binnenmarkts für Güter (1985 bis
1993) und der Privatisierung vieler vormals in öffentlicher Regie
betriebenen Infrastrukturunternehmen (Fernsehen, Elektrizitäts- und
Gasversorgung, Telekommunikation, Bahn, Postdienste usw.) wird nun ein
liberalisierter Binnenmarkt für Dienstleistungen geschaffen. Betroffen
sind etwa 50% der Wirtschaftsleistung und rund 70% der Beschäftigten in
der EU.
Im Zentrum der Richtlinie steht die Abschaffung von Vorschriften in den
Mitgliedstaaten, die angeblich die freie Niederlassung von
Dienstleistungsunternehmen aus anderen Mitgliedstaaten sowie die
vorübergehende Erbringung von Dienstleistungen (den freien
Dienstleistungsverkehr) behindern. Dies seien "bürokratischen Hemmnisse
für die Wettbewerbsfähigkeit Europas", die beseitigt gehören.
Annelie Buntenbach vom DGB-Bundesvorstand wies bei der
Bundestagsanhörung Mitte Oktober 2006 zu Recht darauf hin, dass die nun
verabschiedete Regelung keine klare Unterscheidung zwischen fester
Niederlassung und nur vorübergehend in Anspruch genommener
Dienstleistungsfreiheit erlaubt. Damit könnten
Dienstleistungsunternehmen einfach durch formale Verlagerung ihres
Firmensitzes strengere Auflagen umgehen, die mit einer festen
Niederlassung einhergehen. Ein in Wirklichkeit nach wie vor "deutsches"
Unternehmen könnte künftig als britisches, polnisches usw. Unternehmen
auftreten, das in Deutschland nur die Dienstleistungsfreiheit in
Anspruch nimmt.
Die ursprünglichen Vorschläge des Bolkestein-Entwurfs zur Deregulierung
des Niederlassungsrechts (Verbot bzw. Überprüfung der Anforderungen der
Mitgliedstaaten) sind weitgehend bestehen geblieben. Insgesamt werden
künftig zur "Erleichterung" der Dienstleistungs- und
Niederlassungsfreiheit 31 Auflagen von Mitgliedstaaten verboten.
Weitere 60 müssen mit dem Ziel überprüft werden, sie abzuschaffen oder
abzuschwächen. Die Mitgliedstaaten müssen zudem ein Berichtsystem
einführen, inwieweit sie die Bestimmungen zum Verbot und zur
Überprüfung der Anforderungen umgesetzt haben. Vorhaben für neue
Vorschriften müssen sie zunächst von der Europäischen Kommission prüfen
lassen.
Die Mehrheit der EP-Abgeordneten behauptet, mit der beschlossenen
Richtlinie sei ein "Dritter Weg" zwischen dem ursprünglich vorgesehenen
Herkunftslandprinzip und dem Bestimmungslandprinzip gewählt worden. Die
Richtlinie halte eine gerechte Balance zwischen den Anliegen der
Marktliberalisierung und der Wahrung des Europäischen Sozialmodells.
Der geltende EG-Vertrag sieht bei der Niederlassungs- und
Dienstleistungsfreiheit im Kern das Bestimmungslandprinzip vor. In
beiden Fällen haben die aufnehmenden Mitgliedstaaten Dienstleister aus
anderen EU-Mitgliedstaaten Voraussetzungen zu gewährleisten, "die
dieser Staat für seine eigenen Angehörigen vorschreibt". Es geht nach
dem EG-Vertrag folglich nur darum, dass Dienstleister aus anderen
Mitgliedstaaten gegenüber den inländischen nicht diskriminiert werden
dürfen.
Die beschlossene Richtlinie diskriminiert nun aber die inländischen
Dienstleister. Allein sie müssen sich noch an alle Standards und
Vorschriften ihres Landes halten. Im freien Dienstleistungsverkehr
brauchen Dienstleister aus anderen EU- Mitgliedstaaten nur noch jene
Vorschriften erfüllen, die zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und
Ordnung oder von Umwelt und Gesundheit erlassen wurden. Die
inländischen Dienstleister werden deshalb in Zukunft die Abschaffung
hoher heimischer Standards und Auflagen fordern, um in der verschärften
Kostenkonkurrenz nicht unterzugehen. So leitet die Richtlinie den von
Gewerkschaften und sozialen Bewegungen befürchteten Wettlauf um die
niedrigsten Standards im Dienstleistungssektor ein.
Aus Furcht vor der Auseinandersetzung um den inkriminierten Begriff des
Herkunftslandprinzips haben die EU-Institutionen jedoch nur vage
festgehalten, dass Vorschriften der Mitgliedstaaten gegenüber
Dienstleistern aus dem EU-Ausland nicht diskriminierend, erforderlich
und verhältnismäßig sein müssen. Die eigentliche Drecksarbeit der
Deregulierung im Detail wird an den Europäischen Gerichtshof (EuGH)
delegiert. Rechtsklarheit und Rechtssicherheit schafft die beschlossene
Richtlinie jedenfalls nicht. Selbst in der Linken und in den
Gewerkschaften glauben daher nicht wenige, bei der Umsetzung der
Richtlinie in nationalstaatliches Recht sei noch einiges zum Besseren
zu wenden.
Das mag sein – doch der EuGH ist für seine äußerst
liberalisierungsfreundliche Auslegung des Binnenmarktrechts berühmt.
Erst in den kommenden Jahren wird sich anhand zu erwartender
Einzelfallurteile abzeichnen, wie viel von diesen Hoffnungen real oder
bloß Illusion ist. Die EU-Institutionen habe jedenfalls auch hier
vorgesorgt: die Revisionsklausel der Richtlinie ermöglicht der
Kommission, in regelmäßigen Abständen Vorschläge zur Weiterentwicklung
der Dienstleistungsfreiheit und zur Abschaffung jetzt bestehender
Ausnahmeregelungen ins Spiel zu bringen. Dass sie sich dabei voll die
EuGH-Entscheidungen zunutze machen wird, ist jetzt schon sicher.
Eine bedeutende Schlacht verloren
Eine nüchterne Bilanz der Auseinandersetzungen um den Binnenmarkt für
Dienstleistungen kommt natürlich nicht daran vorbei, die Rolle der
politischen und zivilgesellschaftlichen AkteurInnen zu beleuchten.
Konservative und Liberale im Europaparlament sympathisierten in ihrer
Mehrheit eher mit dem ursprünglichen Bolkestein-Entwurf, mussten aber
erkennen, dass das radikale Herkunftslandprinzip so nicht durchsetzbar
sein würde. Das erkannten auch Kommission und Rat – sie schwenkten
deshalb formal auf die "Kompromisslinie" der Parlamentsmehrheit ein.
Das Europäische Parlament bestand im Februar 2006 immerhin noch darauf,
dass soziale Dienstleistungen, die öffentliche Daseinsvorsorge, das
Arbeitsrecht und die in Tarifverträgen festgelegten Arbeits- und
Beschäftigungsbedingungen vollständig von der Richtlinie ausgenommen
sein müssten. Diese Haltung hat dieselbe Parlamentsmehrheit in der
zweiten Lesung jedoch schmählich verraten, indem sie die Formulierungen
des Rates, der diese Punkte ablehnte oder verwässerte, vollständig
akzeptierte.
Bemerkenswert ist die Richtungsänderung bei den SozialdemokratInnen.
Die Sozialdemokratische Fraktion im EP wollte ursprünglich immerhin die
öffentliche Daseinsvorsorge komplett vom Anwendungsbereich der
Richtlinie ausnehmen. Von dieser Position ist nichts mehr übrig
geblieben – die PSE hat sich am Ende vollständig der Position der
Konservativen gebeugt und zur zweiten Lesung im Parlament keine
Änderungsanträge mehr eingebracht.
Der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) hatte sich anfangs scharf gegen
den Bolkestein-Entwurf gestellt und im März 2005 Zehntausende Menschen
zum EU-Gipfel nach Brüssel mobilisiert. Doch bereits bei der
nachfolgenden Demonstration zur ersten Lesung im Februar 2006 in
Straßburg wurde ein schleichender Kurswechsel deutlich. Vorneweg
marschierte ein kleines, durch ein Seil vom Rest der Demonstration
abgetrenntes Kontingent von Gewerkschaftsführern für eine "sozial
gerechte Dienstleistungrichtlinie" – hinterher kam die Masse der rund
50.000 Gewerkschaftsmitglieder und Aktiven sozialer Bewegungen mit den
üblichen "Stoppt Bolkestein"-Transparenten.
Der EGB-Vorstand würdigte anschließend die Vorschläge des
Europaparlaments als ausgewogenen Kompromiss und gute
Verhandlungsgrundlage und hat sogar den jetzt verabschiedeten Text des
Rates im Prinzip für akzeptabel befunden. Nur einige Verbesserungen
seien noch nötig: die Erwähnung der Grundrechtecharta sowie eine
deutlichere Ausklammerung des Arbeitsrechts und von Tarifverträgen.
Nach genauer Lektüre der Ratsposition meinte der EGB, er müsse doch
nochmal ein Vermittlungsverfahren anstreben, um seinen Forderungen
Nachdruck zu verleihen. Der DGB und seine Einzelgewerkschaften nahmen
sogar deutlich kritischere Positionen ein als vor der ersten Lesung im
Europäischen Parlament. Doch jedes Bemühen um erneute Massenaktionen
wurde im Keim erstickt. Selbst die Herbstaktionen des DGB Ende Oktober
2006 wurden nicht dazu genutzt, die Dienstleistungsrichtlinie noch
einmal zum Thema zu machen.
Angesichts dieser Haltung sahen auch die sozialen Bewegungen und
Verbände wie Attac für sich keine realistische Möglichkeit mehr, mit
Massenaktionen gegen die Richtlinie Front zu machen. Man war froh, mit
dem G8-Gipfel in Heiligendamm einen neuen Schwerpunkt für
Mobilisierungen gefunden zu haben – "als solches" ist dagegen ja auch
nichts zu sagen. So kam es schließlich, dass die Strategie von
Kommission und Rat seit der österreichischen EU-Präsidentschaft voll
aufgegangen ist: die Gewerkschaften einbinden und neutralisieren und
die Öffentlichkeit mit der frohen Botschaft von der "entschärften
Dienstleistungsrichtlinie" einseifen.
Am Ende haben Gewerkschaften und soziale Bewegungen nicht einmal
erreicht, dass die ursprüngliche Position der EP-Mehrheit zum Tragen
kam. Dass den sozialen AkteurInnen im Endspurt um die Richtlinie die
Puste ausging, werden VerbraucherInnen und abhängig Beschäftigte in
Europa bitter zu bezahlen haben.
Das Ende der Fahnenstange ist nicht erreicht
Die Europäische Kommission akzeptiert die Änderungsvorschläge des
Europäischen Parlaments (Ausklammerung des Entsenderechts und der
Gesundheitsdienste aus der Richtlinie) natürlich nur formal. Mit ihrer
Entsenderichtlinie (Leitlinie für die Entsendung von Arbeitnehmern im
Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen) will die Kommission auf der
Linie des alten Bolkestein-Entwurfs den Mitgliedstaaten untersagen, die
Einhaltung des EU-Entsenderechts wirksam zu kontrollieren.
Zur Liberalisierung des Gesundheitswesens will sie einen neuen
Richtlinienentwurf präsentieren. Soziale Dienstleistungen betrachtet
die Kommission als "wirtschaftliche Tätigkeiten" – sie fallen unter die
Richtlinie, Ausnahmen müssen ausdrücklich festgeschrieben sein. So
steht bis 2009 die vollständige Liberalisierung der Postdienste auf der
Tagesordnung.
Industriekommissar Günter Verheugen hat neue Initiativen zum
"Bürokratieabbau" vorgestellt – rund 220 EU-Richtlinien sollen zur
Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen ausgedünnt und
verschlankt werden. Dies will auch die deutsche Ratspräsidentschaft
2007 zu ihrem Schwerpunkt machen. Der "Geist von Bolkestein" ist
quicklebendig; die Auseinandersetzung ist mit der Verabschiedung der
Dienstleistungsrichtlinie nicht vorbei, sondern sie geht weiter.
Der linke "Pessimismus des Verstandes" hegt die begründete Skepsis, ob
die Linke, die Gewerkschaften und sozialen Bewegungen angesichts der
auch von ihnen mitzuverantwortenden gesellschaftlichen und politischen
Kräfteverhältnisse noch in der Lage sind, auf der Höhe der ihnen
gestellten Aufgaben zu agieren. Das Megathema
"Dienstleistungsrichtlinie" betraf viele und konnte viele kritische
Potenziale bündeln. Die jetzt folgenden Auseinandersetzungen werden
Einzelthemen wie Gesundheit, Entsendung von Arbeitnehmern, soziale
Dienstleistungen usw. und deshalb zunächst einmal zersplitterte
Teilöffentlichkeiten betreffen; die Ausgangsbedingungen für die
Entfaltung von Widerstand werden deshalb schwieriger. Es wäre natürlich
nur allzu wünschenswert, wenn diese Prognose durch die reale
Entwicklung widerlegt würde.
07-12-2006, 20:03:00 |Klaus Dräger