EU-Dienstleistungsrichtlinie: Erfolg mit Fallstricken
Gerhard Klas
Die Proteste gegen die Dienstleistungsrichtlinie waren massiv: Gewerkschaften, GlobalisierungskritikerInnen und KonsumentenschützerInnen haben in vielen europäischen Ländern gegen das Vorhaben demonstriert. Sie befürchten Nachteile für KonsumentInnen, Sozial- und Lohndumping. Besonders scharf wurde das „Herkunftslandprinzip“ kritisiert. Es bedeutet, dass der Erbringer einer Dienstleistung den Rechtsvorschriften eines Landes unterliegt, in dem er niedergelassen ist, und nicht den Rechtsvorschriften des Landes, in dem er seine Dienstleistungen erbringt. „Das Wort Herkunftslandprinzip ist im gesamten Text zu streichen“, empfahl der Binnenmarktausschuss des europäischern Parlaments angesichts der Proteste. Jetzt ist vom „freien Dienstleistungsverkehr“ die Rede. „Zwar wird jetzt nicht mehr pauschal festgelegt, dass grenzüberschreitende Unternehmen nur noch den Gesetzen des Landes unterliegen, in dem sie tätig sind“, schreibt Oskar Lafontaine, Fraktionsvorsitzender der Linkspartei im deutschen Bundestag, „aber den Mitgliedsstaaten werden gravierende Einschränkungen bei der Anwendung der eigenen Gesetze auferlegt.“
24.04.2007
Sprachliche Kosmetik nach Protesten
Die Auffassung, dass es sich beim „Freien Dienstleistungsverkehr“ in
erster Linie um sprachliche Kosmetik handelt, teilt auch das
globalisierungskritische Netzwerk Attac.
Sogar der konservative Verhandlungsführer im EU-Parlament, der Brite
Malcolm Harbour, sprach nach der Abstimmung davon, dass „das
Herkunftslandprinzip als Teil der Europäischen Verträge nach wie vor
gültig ist“. Die jeweiligen Dienstleistungsunternehmen benötigen keine
Zulassungen und müssen sich nicht einmal registrieren lassen, wenn sie
in einem anderen EU-Land tätig werden. Die Richtlinie soll sie darüber
hinaus vor „Diskriminierung“ schützen. Die fände dann statt, wenn
inländische Bewerber für ausgeschriebene Dienstleistungen bevorzugt
werden oder öffentliche Subventionen erhalten – bspw. die Mensen an
Universitäten. Nur besonders sensible Branchen wie die
Gesundheitssysteme sind ausgenommen.
Es gab tumultartige Szenen im Europaparlament, als es am 16. Februar
zur Abstimmung über die Dienstleistungsrichtlinie kam. Im letzten
Moment kippte nämlich die Mehrheit der Abgeordneten die Sozialpolitik
und den Konsumentenschutz aus Artikel 16 der Richtlinie. Dieser
definiert, wann Regierungen der Zielländer gegenüber
Dienstleistungsunternehmen Auflagen durchsetzen können.
Die Proteste kamen von der Fraktion der Vereinigten Linken und den
Grünen, die davon ausgegangen waren, dass Sozialpolitik und
Konsumentenschutz wie vorgesehen zu den Auflagen gehören. Doch die
konservativen Abgeordneten der großen Fraktionen im EP hatten bereits
vor der Abstimmung erklärt, dass sie nicht bereit wären, Sozialpolitik
und Konsumentenschutz im Artikel 16 zu akzeptieren. Damit würde „Tür
und Tor für unsinnige Vorschriften“ geöffnet und die
Dienstleistungsfreiheit völlig ausgehöhlt, so der deutsche
CDU-Europaabgeordnete Andreas Schwab.
Mangelnde Klarheit
Sozialer Wohnungsbau, RechtsanwältInnen, Steuerberatung,
Gesundheitsdienste, Kinderbetreuung und audiovisuelle Medien werden
zwar nach dem jetzigen Entwurf nicht unter die
Dienstleistungsrichtlinie fallen. Aber unter Druck des freien
Wettbewerbs könnten künftig auch die privaten Behinderten- und
Seniorenpflegeheime stehen, denn verbindlich ist nicht festgelegt, dass
sie Teil der Gesundheitsdienste sind. Widersprüchliche Angaben gibt es
auch zu den „Diensten von allgemeinem Interesse“, dazu gehören
Gasversorgung, Nahverkehr, Müllabfuhr oder Schulen. Fallen diese
Bereiche in einem Land unter die öffentliche Daseinsvorsorge, darf der
Mitgliedsstaat besondere Auflagen erteilen. Mit der zunehmenden
Privatisierung gehören diese Dienste aber in den meisten Ländern nicht
mehr ausschließlich zur öffentlichen Daseinsvorsorge.
Nicht näher definiert sind außerdem die Dienstleistungen selbst. Karin
Allewelt, Mitarbeiterin der internationalen Abteilung des Deutschen
Gewerkschaftsbundes, kann sich vorstellen, dass die vielen offenen
Fragen über den Rechtsweg entschieden werden. „Dann zählt vor allem,
wer sich die besseren Anwälte leisten kann“. Die höchste Instanz, der
Europäische Gerichtshof, dessen Musterurteile bisher fast immer im
Zeichen des „freien, europäischen Binnenmarkts“ standen, wird die
Präzedenzurteile fällen.
Mit der neuen Richtlinie werde es kein Lohn- und Sozialdumping mehr
geben, versuchen konservative und sozialdemokratische BefürworterInnen
die KritikerInnen zu beschwichtigen. Davor soll die
EU-Entsenderichtlinie bewahren und ein vager Hinweis, die
Mitgliedstaaten könnten „in Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht ihre
Bestimmungen über Beschäftigungsbedingungen, einschließlich derjenigen
in Tarifverträgen, anwenden“. Doch selbst wenn ein Mitgliedstaat sich
zu diesem Schritt durchringen sollte, ist die Umsetzung doch sehr
fragwürdig. Die nationalstaatlich organisierten Gewerkschaften müssten
die Lohnabhängigen aus anderen EU-Ländern organisieren und bräuchten
Kontrollinstrumente, die sie nicht haben.
Die Entsenderichtlinie hingegen definiert verbindlich nur bei
gesetzlich festgeschriebene Mindestlöhnen und Höchstarbeitszeiten eben
diese minimalen Standards, verhindert also nicht den Druck auf das
Lohnniveau in den alten Mitgliedsländern. Am schlimmsten sieht es
jedoch dort aus, wo es nicht einmal einen gesetzlichen Mindestlohn gibt
– wie z.B. in Deutschland oder Schweden.
„Die außerparlamentarischen Proteste gegen die
Dienstleistungsrichtlinie haben sich trotzdem gelohnt“, so Andre Brie,
PDS-Abgeordneter im EP und Mitglied des Binnenmarktausschusses, „sonst
wäre die Richtlinie noch schlimmer ausgefallen“. So einfach wie in
früheren Jahren können die EU-Gremien neoliberale Politik nicht mehr
umsetzen. „Die Zeiten, in denen sich außer Industrielobbyisten niemand
für EU-Politik interessiert hat, sind vorbei“, sagt Stefan Lindner,
Sprecher der EU-AG des globalisierungskritischen Netzwerks Attac.
Die Demonstrationen gegen die Dienstleistungsrichtlinie markieren die
dritte Protestwelle innerhalb eines Jahres gegen neoliberale Projekte
der EU und der Regierungen ihrer Mitgliedsstaaten. Es begann im
vergangenen Jahr mit den „Nein“ zur EU-Verfassung in Frankreich und den
Niederlanden. Im Januar verhinderten dann die Hafenarbeiter mit Streiks
in fast allen europäischen Hafenstädten, dass die
Hafenarbeiterrichtlinie im Europaparlament verabschiedet wurde.
Den protestierenden Gewerkschaften und GlobalisierungskritikerInnen
wird von den BefürworterInnen der freien Marktwirtschaft vorgeworfen,
sie seien nationale Besitzstandswahrer. Doch es geht „nicht darum,
Arbeiter aus den neuen EU-Staaten fernzuhalten“, beteuerte ein
Gewerkschafter, „es geht um gleichen Lohn für gleiche Arbeit“. Attac
fordert einheitliche Sozial- und Umweltstandards in ganz Europa. Manche
sprechen von einem europäischen Mindestlohn, andere fordern eine
einheitliche Besteuerung der Unternehmensgewinne.
Aus: Sozialistische Zeitung (SOZ), März 2006
www.soz-plus.de
16-03-2006, 19:16:00 |Gerhard Klas