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EU-Arbeitszeitrichtlinie: Warten auf den nächsten Kunden soll keine Arbeitszeit mehr sein

Weil die Arbeitgeber Bereitschaftsdienste und Wartezeiten im Rahmen der Arbeit nicht mehr als Arbeitszeit werten wollen, brachten die Gewerkschaften die Verhandlungen zur EU-Arbeitsrichtlinie zum Scheitern. Die UnternehmerInnen wollen durchsetzen, dass "Wartezeiten" - auch im Handel, im Gesundheitswesen, etc. - nicht mehr als Arbeitszeit gelten.

30.04.2013

Kurz vor Weihnachten brachten die europäischen Gewerkschaftsverbände in einer Presseerklärung ihr Bedauern darüber zum Ausdruck, dass sie keine Möglichkeit mehr sehen, ihre Verhandlungen mit den Arbeitgeberverbänden über die Arbeitszeitrichtlinie fortzusetzen. Das zuvor von den Arbeitgebern vorgelegte «endgültige Angebot» war für sie nicht konsensfähig. Worum geht es in diesem Konflikt?

Grundlage der Verhandlungen im Rahmen des sogenannten «Europäischen Sozialen Dialogs» ist die Arbeitszeitrichtlinie der EU von 1993, die Bestandteil der europäischen Gesundheits- und Arbeitszeitgesetzgebung ist und die Mitgliedstaaten verpflichtet, Mindestschutzbestimmungen wie die 48-Stunden-Woche, Ruhe- und Pausenzeiten in nationales Recht umzusetzen. Die letzte überarbeitete Fassung stammt aus dem Jahr 2004.
Nachdem der Europäische Gerichtshof einen Bereitschaftsdienst, der die Anwesenheit am Arbeitsplatz erfordert, zur Arbeitszeit erklärt hatte, musste die Richtlinie erneut angepasst werden. Dieser Pflicht entzogen sich viele Regierungen dadurch, dass sie die in der Richtlinie vereinbarte «Opt-out»-Klausel nutzten, die ihnen das Recht einräumt, in individuellen Arbeitsverträgen davon abzuweichen. Diese Klausel wurde zuerst von der britischen Regierung genutzt. Andere folgten ihrem Beispiel. Mittlerweile entziehen sich elf Länder auf diese Weise der Pflicht, reale Arbeitszeit auch als solche zu bezahlen.
Da die EU-Kommission fürchtet, dass diese Praxis von allen übernommen werden könnte, wodurch die Richtlinie völlig zur Makulatur würde, bat sie die organisierten Interessenverbände, eine einvernehmliche Regelung zu erreichen. Die Verhandlungen begannen 2011 und sind nun vor allem deshalb am Ende, weil die organisierten Arbeitgeber Korrekturen in die entgegengesetzte Richtung anstreben. Ihre Lobbyisten wollen Rechtssicherheit darüber herstellen, dass Bereitschaftsdienste grundsätzlich nicht als Arbeitszeit gelten.

Was wären die Folgen?
Zum Scheitern der Verhandlungen erklärte Annelie Buntenbach, DGB-Vorstandsmitglied, Mitte Januar in Berlin: "Leider haben sich die Arbeitgeber durchgängig einem konstruktiven Dialog verweigert und kompromisslos Forderungen erhoben, um bestehende Mindeststandards im Arbeits- und Gesundheitsschutz massiv zu verschlechtern. Dies wäre zulasten von Millionen von Beschäftigten gegangen und ist deshalb für die europäischen Gewerkschaften nicht tragbar."
Das Problem der Bereitschaftsdienste berührt – so eine Untersuchung der EU-Kommission – vor allem die öffentlichen Dienstleistungen, insbesondere Krankenhäuser, Rettungsdienste und alle dort tätigen Unternehmen, die Bereitschaftsdienste unterhalten. Darüber hinaus zeigt sich hier jedoch auch der Versuch einer radikalen Umwälzung erkämpfter Sozialstandards im Sinne kapitalistischer Verwertungslogik.
Eine Presserklärung des DGB macht anschaulich, wie diese «schöne neue Welt» des Kapitals aussehen könnte:
«Verkäuferin in einem Modegeschäft: Die Regale sind aufgeräumt, die Kasse stimmt und man wartet nun auf den nächsten Kunden. Bisher war diese Zeit unumstritten Arbeitszeit, doch nun wäre diese ‹Wartezeit› – nach dem Wunsch der Arbeitgeber – keine Arbeitszeit mehr.
Bäckereifiliale: Angestellte warten auf die Lieferung der Brötchen. Bisher war diese Zeit unumstritten Arbeitszeit, doch nun wäre diese ‹Wartezeit› – nach dem Wunsch der Arbeitgeber – keine Arbeitszeit mehr.
Krankenschwestern und Notärzte: Das Krankenhauspersonal wartet auf den nächsten Notfallpatienten. Bisher war diese Zeit unumstritten Arbeitszeit, doch nun wäre diese ‹Wartezeit› – nach dem Wunsch der Arbeitgeber – keine Arbeitszeit mehr.
Journalisten: Sie warten auf ein Statement von einem Politiker, auf den Beginn einer Pressekonferenz oder die Freigabe eines Interviews. Bisher war diese Zeit unumstritten Arbeitszeit, doch nun wäre diese ‹Wartezeit› – nach dem Wunsch der Arbeitgeber – keine Arbeitszeit mehr.
Beschäftigte in einer Autowerkstatt: Die Reparatur eines Wagens ist fertig. Nun warten sie darauf, dass ein neues Auto auf die Hebebühne gefahren wird. Bisher war diese Zeit unumstritten Arbeitszeit, doch nun wäre diese ‹Wartezeit› – nach dem Wunsch der Arbeitgeber – keine Arbeitszeit mehr.
Die hier angeführten Beispiele verdeutlichen die Folgen: Nach dieser Wertung würde sich die tatsächliche Arbeitszeit deutlich erhöhen. Denn wenn Wartezeiten nicht angerechnet werden, verlängert sich die Höchstarbeitszeit entsprechend – gleichgültig ob gesetzlich oder tariflich. Und: Überstunden mit entsprechenden Zuschlägen braucht es dann nicht mehr: Die Mehrarbeit kann ja in dem durch die Wartezeit frei werdenden Zeitvolumen erledigt werden.
Es geht nicht um Bereitschaftszeiten zu Hause, wie bei Rufbereitschaft, sondern um Anwesenheitszeiten im Betrieb. Diese Anwesenheitszeiten sollen aus Sicht der Arbeitgeberseite nun nicht mehr oder nur teilweise angerechnet und damit auch nicht bezahlt werden.

Quelle: SoZ