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Zur Finanzkrise: Weder Keynes noch Sozialismus

Die Finanzkrise und ihre Auswirkung auf die US-Hegemonie: Ingo Schmidt vergleicht die Krisen 1930, 1970, 2008 - Die Finanzkrise hat den Glauben an die Fähigkeit der USA, Vermögen und Profite zu schützen, erschüttert. Doch zum Pentagon-Wall-Street-Kapitalismus gibt es noch keine Alternative. Boom oder Pleite, die Wall Street kann einen beschäftigen. Jedermann diskutiert dieser Tage über das 700 Milliarden Dollar schwere Rettungspaket der US-Regierung. Nach der Pleite der Investmentbank Lehman Brothers ist die große Frage: Wer kommt als nächstes?

26.11.2008

Letzten Monat wurde darüber spekuliert, ob der Verfall der Ölpreise und ein steigender US-Dollar wieder einen neuen Boom anzeigen. Letztes Jahr waren wir schon einmal soweit: Ängste, die Turbulenzen an den Finanzmärkten könnten die US-Wirtschaft und die Weltwirtschaft in die Rezession treiben. Im Verlauf des Jahres erreichte der Ölpreis Rekordhöhen (1,44 US-Dollar im Juli), der US-Dollar Rekordtiefen (1,60 Dollar für 1 Euro im April) und das Flaggschiff des US-Finanzkapitals, die Investmentbanken, versank.
Bear Stearns und Merrill Lynch wurden jeweils von JP Morgan Chase und der Bank of America übernommen. Die beiden Letzteren sind Geschäftsbanken, keine Investmentbanken. Das bedeutet, dass sie der Bankenaufsicht unterstehen und sich bei der Zentralbank refinanzieren können, statt ihre Wertpapiere auf dem Kapitalmarkt auszugeben und zu verkaufen, wie Investmentbanken. Auch Goldman Sachs und Morgan Stanley sind unter den Schutz der US-Notenbank gekrochen, nachdem Lehman Brothers schutzlos auf dem Kapitalmarkt untergegangen ist.
Der Untergang der Investmentbanken in den USA und im weiteren Sinne die globale Instabilität der Finanzmärkte haben in Washington, Frankfurt, Tokyo und London zu Interventionen der Regierungen und der Zentralbanken geführt. Umfangreiche Rettungspakete und staatliche Übernahmen von Finanz- und Hypothekeninstituten – wovon Fannie Mae, Freddie Mac und AIG nur die prominentesten, aber längst nicht die einzigen sind – provozierten zusammen mit Konjunkturpaketen verärgerte Kommentare bei Marktkonservativen, die die USA schon auf dem Marsch in den Sozialismus witterten. Diese Leute müssen es wirklich schwer haben.

Update des Neoliberalismus

In den späten 40er Jahren rüttelte der führende Kopf der Neoklassik, Joseph Schumpeter, die American Economic Association wach, als er die Wirtschaft auf einem "unaufhaltsamen Marsch in den Sozialismus" sah. Milton Friedman sammelte einige von Schumpeters Jüngern zusammen und machte aus ihnen Kader, die später, in den 70er Jahren, zur Avantgarde des neoliberalen Projekts wurden; dieses sollte eine Kehrtwende auf dem Weg in die sozialistische Leibeigenschaft einleiten. Die Kader sollten die Menschheit zurück ins Reich der Freiheit führen, zu Unternehmergeist, Privateigentum und Profit.
Neben vielen anderen führenden Vertretern aus Politik und Wirtschaft wurden auch Hank Paulson, Finanzminister unter George W. Bush und Architekt des 700-Milliarden-Dollar-Rettungspakets, und Robert Rubin, Finanzminister unter Clinton und einer der zentralen Wirtschaftsberater von Barack Obama, zu Mitgliedern dieser Avantgarde erzogen.
Rubin machte 1960 seinen Wirtschaftsabschluss in Harvard, bevor er eine Karriere als Wall-Street-Banker und Politiker startete. Paulson verfehlte eine solide neoliberale Erziehung, weil er 1968 seinen BA in Englisch am Dartmount College machte, aber er folgte Rubin dann in seiner Doppelkarriere als Wall-Street-Banker und Politiker. Biografien wie diese sind heutzutage in der politischen Klasse recht häufig.
Die entscheidende Frage aber ist: Was hat diese Charaktermasken der neoliberalen Kapitalismus dazu bewogen, zum Staatsinterventionismus zu konvertieren? Sind sie Notenbankchef Ben Bernanke zum Opfer gefallen, der, statt der Wall Street als Mann der Praxis zu dienen, lange Zeit seiner Karriere damit verbracht hat, an der Stanford und an der Princeton Universität die Große Depression der 30er Jahre zu studieren, bevor er Gouverneur und später Chef der Fed wurde? Hat das Selbstvertrauen der Konservativen und Neoliberalen unter der aktuellen Krise so sehr gelitten, dass sie verzweifelt nach Bernankes neokeynesianischem Strohhalm greifen?
Wahrscheinlich nicht. Als akademische Modeströmung der letzten zwei Jahrzehnte hat der Neokeynesianismus der neoliberalen Wirtschaftslehre ein Update verpasst und sie von der naiven Version der "perfekten Information" zu einer realistischeren Variante weiterentwickelt, die akzeptiert, dass Marktagenten über unvollständige und ungleich verteilte Informationen verfügen. Diese Art Denken wurde in der Hoch-Zeit des neoliberalen Kapitalismus, den 90er Jahren unter Clinton, zur wirtschaftspolitischen Lehrmeinung.
In den 90ern avancierte Josef Stiglitz, der prominenteste Vertreter des Neokeynesianismus, zuerst zum Chefberater Clintons in Wirtschaftsfragen, danach zum Chefökonom der Weltbank. Erst da begann er, die neokeynesianische Wirtschaftslehre mit sozialdemokratischen politischen Vorstellungen zu vermischen, was ihn alsbald seinen Job kostete. Der Neokeynesianismus hatte sich einen festen Platz als die geeignetste Variante neoliberaler Politik erobert.
Auch Lawrence Summer, Rubins Nachfolger als Finanzminister unter Clinton und die treibende Kraft hinter Stiglitz' Entfernung aus der Weltbank, und Greg Mankiw, von 2003 bis 2005 Chefberater von Bush in Wirtschaftsfragen, schlossen sich der neokeynesianischen Linie des Neoliberalismus an.

Marsch in den Sozialismus?

Uneingestanden haben hart gesottene Konservative Angst davor, dass der Neoliberalismus, nachdem er seinen langjährigen Rivalen Keynes auf einen unteren Rang in der intellektuellen Welt verwiesen hat, dazu beigetragen hat, dass Sozialismus als die einzige machbare politische Alternative in Zeiten schwerer Krise übrig bleibt. Sozialisten mag das überraschen. Viele Sozialisten sind kaum mit der Analyse des Aufstiegs der neoliberalen Hegemonie und einer transnationalen kapitalistischen Klasse fertig geworden und haben sich gerade zur Schlussfolgerung vorgearbeitet, dass das Finanzkapital dominiert. Und jetzt bricht dieser allmächtige historische Block schon wieder weg? Gibt es da nicht gute Gründe anzunehmen, dass die konservativen Befürchtungen von einem Ende des Neoliberalismus weit übertrieben sind?
Nicht unbedingt. Finanzkrisen haben die Wall Street 1987, 1990, 1998 und 2001–2003 erschüttert. Nur die Krisen von 1990 und 2001 waren von einer Rezession begleitet. Verglichen mit den tiefen Krisen, die fast jeden anderen Teil der Welt seit dem Aufstieg des Neoliberalismus erschüttert haben, hatten die USA, Kanada und Westeuropa eine ziemlich ruhige Zeit.
Kehrt Schumpeters Schreckgespenst – damals die Hoffnung der Sozialisten – von einem Marsch in den Sozialismus zurück? Oder erleben wir eine neue Runde der "kreativen Zerstörung", in der Schumpeter das innovative Bewegungsgesetz der Marktwirtschaft sah?
Um diese Frage zu beantworten, mag es nützlich sein, die derzeitige Krise nicht mit ihren eher milden Vorläufern in der Ära des Neoliberalismus zu vergleichen, sondern mit den Sturmböen der 30er und der 70er Jahre. Drei Gründe rechtfertigen diese intellektuelle Reise in die Vergangenheit.
1.Ökonomisch: Die derzeitige Krise hat viel schwerwiegender Auswirkungen auf die Finanzinstitutionen als jede andere Krise seit den 70er Jahren. Obwohl die Wall Street seither einiges an Finanzkrisen erlebt hat, war sie zugleich immer auch ein sicherer Hafen für internationales Kapital, das vor einem Finanzdebakel in anderen Teilen der Welt flüchtete.
2.Politisch: Die Fed hat seit dem Beginn der Krise im Sommer 2007 ihre Zinssätze so aggressiv zurückgefahren wie 1990 und 2001. In diesen beiden Fällen bewirkten diese Senkungen niedrigere Zinsen auf den Märkten, die die einheimische wie die internationale Kapitalzirkulation ankurbelten. Derzeit aber bleiben die Zinsen der Banken oben und die Versorgung der Sektoren außerhalb der Finanzwelt knapp.
3.Ideologisch: Der Staat hat sich nicht aus der Intervention in die Wirtschaft zurückgezogen, seitdem der Neoliberalismus den Keynesianismus als vorherrschende Ideologie abgelöst hat. Aber die neoliberale Ideologie hat diese Intervention mit der Notwendigkeit der Anpassung an die Globalisierung und die New Economy anzupassen gerechtfertigt. Diese Fassade des neoliberalen Staates ist jetzt eingestürzt, da er offen Steuergelder in die Kassen der besitzenden Klassen scheffelt.

Die 30er Jahre: Krise einer werdenden Supermacht

Die Große Depression, die auf den Börsenkrach im Oktober 1929 folgte, kam zu einem Zeitpunkt, als die USA gerade begonnen hatten, die Weltwirtschaft und die Weltpolitik zu dominieren. 1918 propagierte der damalige US-Präsident Woodrow Wilson einen kapitalistischen Internationalismus unter der Führung der USA als Alternative zum proletarischen Internationalismus, der sich von St.Petersburg und Moskau aus nach Berlin, Wien und Budapest ausbreitete. Weder die Briten noch die Franzosen hatten, erschöpft durch den Krieg und konfrontiert mit einer aufsteigenden Welle der Aktivität der Arbeiterklasse, die Kraft, den Mut und die Fantasie für solch ein weitreichendes Unterfangen.
Wenige Jahre später ermöglichten Kapitalimporte aus den USA einen, wenn auch bescheidenen, Wiederaufschwung der europäischen Ökonomien. Doch waren die USA damals noch nicht in der Lage, die kapitalistische Welt nach ihrem Bilde zu gestalten. Nicht alle Fraktionen der US-Bourgeoisie teilten Wilsons Projekt des amerikanischen Internationalismus. Es gab immer noch solche, die an Weltpolitik, zumindest an europäischer Politik, nicht interessiert waren; andere dachten, die Frage nach einer US-Hegemonie sei verfrüht.
Auf der anderen Seite des Atlantiks hing die britische herrschende Klasse, obzwar stark geschwächt durch die aufstrebende Konkurrenz der USA und Deutschlands und auch durch die Kosten des Krieges, immer noch ihrem Empire nach und der Vorstellung, sie sei die Herrscherin der Welt. Das war die Situation, die der italienische Kommunist Antonio Gramsci damals richtig beschrieb als eine, wo die eine Klasse, die britische Bourgeoisie, nicht länger in der Lage war, ihre Hegemonie auszuüben, und die andere, die amerikanische Bourgeoisie, noch nicht in der Lage war, das zu tun.
Diese "Hegemonielücke" wurde sichtbar, als britische und amerikanische Zentralbanker sich im Oktober 1929 nicht darauf verständigen konnten, bei der Eindämmung des Krachs an der Wall Street zusammenzuarbeiten. In Folge dieser Nichtzusammenarbeit führte der Kurssturz an der Börse nicht nur zu einem Preisverfall auf den Rohstoffmärkten, sondern auch zu einem massiven Abzug der Kredite, der zusammen mit konkurrierenden Abwertungen und einer protektionistischen Zollpolitik den Weltmarkt zerstörte.
Heute ist die Situation ganz anders. Die Zentralbanken in den Finanzzentren der Welt arbeiten sehr wohl zusammen, aber ihre Fähigkeit, die internationale Kapitalzirkulation zu stabilisieren, ist begrenzter als je zuvor seit den 70er Jahren. Das ist kein Anzeichen für eine Hegemonielücke, sondern für eine Aushöhlung des US-geführten Kapitalismus.
Es gibt auch andere Aspekte, wodurch sich die gegenwärtige Krise von der Situation der 30er Jahre unterscheidet. Die Finanzkrise von 1929 führte in eine Depression, weil sich die Zirkulation als das schwächste Glied im Prozess der kapitalistischen Akkumulation erwies und die Politik bei der Stabilisierung dieses Gliedes scheiterte. Im Verlauf der Depression entwickelten sich dann verschiedene Faktoren, die schließlich die US-Hegemonie herstellten.
Der erste Faktor war eine Welle von Arbeiterunruhen in den neuen Industriezweigen mit Massenproduktion; sie führte zu Industriegewerkschaften und zum New Deal. Der zweite Faktor war der Aufstieg Nazideutschlands, der bewies, dass die deutsche Bourgeoisie nicht aus eigener Kraft in der Lage war, die Arbeiterbewegung einzudämmen, sondern die Unterstützung einer radikalisierten Mittelschicht benötigte, die durch die Depression wirtschaftlich ruiniert worden war. Gleichzeitig zeigten sich die europäischen Mächte, besonders Großbritannien und Frankreich, unfähig, die Naziaggression und die "Bedrohung" durch die Kommunistischen Parteien und die Sowjetunion zu stoppen.
Die international ausgerichtete Fraktion innerhalb der US-Bourgeoisie nutzte die heimischen und internationalen Faktoren, um eine Wohlfahrts- und Kriegsökonomie aufzubauen. Gewerkschaften – viele davon von Kommunisten aufgebaut und geführt – wurden zunächst in den Kampf gegen den Faschismus einbezogen, der dann aber als antikommunistischer Kreuzzug gegen die vorgestellte totalitäre Identität zwischen Hitlerdeutschland und der Sowjetunion fortgesetzt wurde. Ökonomisch war dies möglich, weil die Kriegswirtschaft mit Hilfe der Techniken der Massenproduktion und einer keynesianischen Nachfragepolitik in eine Geld produzierende Maschine verwandelt werden konnte.
Während die Weltmachtbestrebungen des britischen Empires und Deutschlands unter den ökonomischen Kriegskosten litten, waren die USA in der Lage, diese Last in beträchtlichem Maße auf ihre Alliierten, darunter Großbritannien, abzuwälzen. Darüber hinaus erwies sich die Massenproduktion in vertikal integrierten Unternehmen als produktiver als die Produktion in anderen Ländern. Dieser Wettbewerbsvorteil ermöglichte US-Unternehmen, ohne Profitverluste ihren Arbeitern höhere Löhne zu zahlen; sie wurden zu einem Modell für die kapitalistische Produktion in anderen Ländern.
Keinen dieser Faktoren gibt es heute. Die Finanzkrise und die steigende Steuerlast durch Kriege, die nicht gewonnen werden können, und nun auch durch die Rettung bankrotter Finanzgesellschaften treffen die Arbeitenden und die Mittelschichten in den USA. Finanzminister Paulsons Versuch, die Last der Finanzkrise mit den G7-Partnern der USA zu teilen, ist gescheitert. Seine Kollegen erklärten die Krise rundweg zum amerikanischen Problem und schnürten kleinere Rettungspakete für ihre eigenen Länder. Generell ist die Kriegswirtschaft kein Wachstumsmotor mehr, und die US-Konzerne genießen nicht mehr denselben Effizienzvorsprung, den sie einst hatten, sie hinken nun in vielen Sektoren hinterher.
Um zu begreifen, warum der Anführer des kapitalistischen Rudels heute so viel weniger glanzvoll und erfolgreich ist als im Zweiten Weltkrieg und danach, müssen wir die turbulenten 70er Jahre betrachten.

Die 70er Jahre: Wiederherstellung von Vertrauen

In den 70er Jahren wurden die Risse im US-Modell des Kapitalismus sichtbar. Zu Hause protestierten die Bürgerrechts- und die Frauenbewegung gegen die untergeordnete Rolle von Schwarzen und Frauen im American Way of Life. Werktätige jeder Hautfarbe und beiderlei Geschlechts rebellierten gegen die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen, die Erhöhung des Arbeitstempos und die Aushöhlung der Kaufkraft ihrer Löhne durch die Inflation.
Ähnliche Bewegungen tauchten in allen kapitalistischen Zentren auf, doch die USA waren besonders stark betroffen, weil dazu noch die Konkurrenz der aufstrebenden Exportmächte Deutschland und Japan kam und die Eskalation des Vietnamkriegs, der sich zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg als Hemmnis für die Wirtschaft erwies, statt als Wachstumsanreiz. Der Neoliberalismus war die Antwort auf diese Herausforderung.
Die schwarze Bürgerrechtsbewegung wurde – neben der brutalen Unterdrückung ihres radikalen Flügels, vor allem der Black Panthers – dadurch neutralisiert, dass einem kleinen Teil von Schwarzen erlaubt wurde, in die Mittelschicht aufzusteigen, und einem noch kleineren Teil, führende Positionen in der US-Bourgeoisie einzunehmen. Die Mehrzahl der Afroamerikaner ist jedoch auf der untersten Stufe der US-Gesellschaft geblieben und konkurriert zunehmend mit – insbesondere hispanischen – Arbeitsimmigranten um gute Arbeitsplätze in der Industrie und um schlecht bezahlte Jobs.
Dieselbe Taktik des "Teile und herrsche" wurde zur Neutralisierung der Frauenbewegung angewandt: Manche stiegen in Mittelschichtpositionen auf, während der ökonomische Druck auf den Rest zunahm, da die Verteidigung des Lebensstandards längere Arbeitszeiten erforderte. Die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften wurde dadurch untergraben, dass Unternehmen in die Südstaaten oder in kapitalfreundliche Standorte im Ausland verlagert wurden.
Die Auswirkungen dieser Angriffe auf die Arbeiterschaft wurden gemildert durch Möglichkeit für alle, außer den Angehörigen der alleruntersten sozialen Schichten, an billige Kredite zu kommen, und durch eine Welle billiger importierter Konsumgüter. Alles in allem trugen diese beiden Faktoren zum Aufstieg des Pentagon-Wall-Street-Kapitalismus bei.
Billige Kredite, ergänzt durch die Akkumulation meist fiktiver finanzieller Vermögenswerte, machten die Wall Street zum Angelpunkt der Zirkulationsprozesse des Weltkapitalismus. Damit wurden nicht nur enorme Profite aus Finanzaktivitäten möglich, die Ansprüche auf solche Profite konnten auch in ein effizientes Druckmittel verwandelt werden, um die Verlagerung und Reorganisation von Produktionsprozessen durchzusetzen. Das Ergebnis war nicht nur eine höhere Mehrwertrate – für den Appetit der Wall Street noch nicht hoch genug –, sondern auch das Auftauchen globaler Wertschöpfungsketten.
Managerwille allein reichte dazu nicht. Globale Wertschöpfungsketten erforderten politische Unterstützung zur Öffnung ausländischer Märkte und zum Schutz des Privateigentums. Teilweise konnte dies durch diplomatischen Druck erreicht werden – es gab verschiedene Handelsabkommen, von NAFTA bis zur WTO. Die letzte und verlässlichste Stütze dafür blieb jedoch der militärisch-industrielle Komplex der USA. Die so vorangetriebene Akkumulation von Besitz verursachte eine Krise in vielen Ländern der Welt, aber sie erlaubte den USA auch, an der Heimatfront sozialen Frieden zu bewahren.
Eine Finanzkrise in Übersee führte regelmäßig zur Kapitalflucht in Richtung Wall Street, die als sicherer Hafen wahrgenommen wurde, besonders in den Krisen der 80er und 90er Jahre. Damit konnte die Akkumulation von Buchgeld weitergehen. Die vom IWF als Abhilfe gegen Finanzkrisen geforderte industrielle Umstrukturierung, steuerliche Konsolidierung und Privatisierung stellten weitere Vermögenswerte unter das Kommando der Wall Street und noch mehr billige Konsumgüter auf die Regale der Einkaufszentren.

2008: kein Modell mehr

Der Pentagon-Wall-Street-Kapitalismus beruhte auf zwei Glaubenssätzen. Erstens dass das US-Militär fähig sein würde, das Privateigentum überall auf der Welt zu schützen. Zweitens dass der Dollar ein verlässlicher Hort für Reichtum sein würde. In den 70er Jahren konnte die US-Bourgeoisie durch eine entschlossene Wende zum Neoliberalismus und zu einer aggressiven Außenpolitik die beiden Glaubenssätze wiederherstellen, die durch die Niederlage der US-Armee in Vietnam, die Abwertung des Dollars nach der Aufgabe des Systems fester Wechselkurse und die heimische Inflation erschüttert worden waren.
Diese Wende versprach einen effizienteren Schutz von Profiten und Eigentum als die wankelmütige Politik vieler europäischer Staaten, die noch Kompromisse mit den heimischen Gewerkschaftsführungen und den Entwicklungsländern suchten.
Dreißig Jahre später ist dieser Glaube geschwunden. Zwar ist die US-Außenpolitik aggressiver als je zuvor, und die Bemühungen der Regierung, die Wall Street zu stützen, haben ein beispielloses Ausmaß erreicht, doch die Resultate sind demütigend. In Afghanistan und im Irak beweist die größte Militärmacht der Welt, dass sie Regime zerstören kann, die sie – zumeist einseitig – als inhuman und undemokratisch erklärt. Aber die USA beweisen auch, dass sie nicht in der Lage sind, eine Gesellschaft des freien Marktes nach ihrem Bild zu errichten. An der Wall Street kann das Vertrauen der Investoren nicht einmal durch die Injektion gewaltiger Mengen an Zentralbankgeld und Steuerdollars wiederhergestellt werden.
Darüber hinaus haben viele Werktätige und Angehörige der Mittelschicht den Verlust des Arbeitsplatzes, der Altersversorgung oder des Hauses vor Augen. Für sie ist der "amerikanische Traum" zu Ende. Die USA sind kein Modell mehr für den internationalen Kapitalismus. Der Grund, weshalb sie immer noch im Führerhaus sitzen, ist, dass es weder alternative Modelle des Kapitalismus gibt, die eine neue kapitalistische Hegemonie errichten könnten, noch oppositionelle Bewegungen, die den Anspruch erheben könnten, den Weg in eine nichtkapitalistische Zukunft zu weisen.
Als der deutsche Finanzminister Steinbrück am 25.September vor dem Bundestag erklärte, die USA wären dabei, ihren "Status als finanzielle Supermacht" zu verlieren, rauschte es mächtig im Blätterwald. In anderen Ländern drückten Regierungen sich ähnlich aus. Solche Kommentare bedeuten jedoch nicht viel. Nirgendwo sonst wird eine Alternative zum schrumpfenden Pentagon-Wall-Street-Kapitalismus auch nur ansatzweise sichtbar.
Als Komplizen des US-Empires, die sie waren und noch immer sind, sind die Regierungen anderer Länder damit beschäftigt, die Auswirkungen der in den USA ausgelösten Krise einzudämmen. Die Briten haben immer noch mit den Folgen des Northern-Rock-Debakels im vergangenen Jahr zu kämpfen; die Deutschen mit den Verlusten der IKB; und alle zusammen bereiten sich die herrschenden Klassen der ganzen Welt auf eine Rezession vor. Anders als während der Krisen der letzten 20 Jahre prahlen sie diesmal nicht mit einer raschen Erholung. Stattdessen malen sie ein ziemlich düsteres Bild der Zukunft und bereiten die unteren Klassen auf einen umfassenden Anschlag auf ihre Arbeits- und Lebensbedingungen vor.
Bislang hat es keine größere Reaktion seitens der Gewerkschaften und anderer sozialer Bewegungen gegeben. Gewöhnt an die Vorstellung von allmächtigen Finanzmärkten ist es schwierig, sich auf eine Situation einzustellen, wo die Zuversicht jener, die bis vor kurzem als die Herren des Universums auftraten, zutiefst erschüttert ist. Der New York City Labor Council hat in der Wall Street eine Protestkundgebung gegen Paulsons großzügigen Rettungsplan auf Kosten der weniger Reichen und der Armen organisiert. Dies war vielleicht nur eine symbolische Aktion, aber sie weist in eine interessante Richtung: Die einfachen Leute fordern die Wall Street und andere Finanzzentren der Welt heraus...

Aus: www.socialistproject.ca
(Quelle: SOZ, Übersetzung: Angela Klein/Hans-Günter Mull).