Zehn Jahre nach dem Krieg im Kosovo - Die Lügen des Krieges
Catherine Samary
Im März 1999 flog die NATO ihre ersten Luftangriffe gegen Belgrad, damals die Hauptstadt dessen, was von der Jugoslawischen Föderation übrig geblieben war: Serbien, einschließlich Kosovo, und Montenegro. Aus den Angriffen, die laut den Diplomaten der atlantischen Allianz nur einige Tage dauern sollten, wurde ein dreimonatiger Krieg. Unter dem Vorwand, die Kosovoalbaner vor den serbischen Streitkräften zu schützen, ging es in Wirklichkeit um die Rettung der NATO: Denn die NATO, entstanden im Kalten Krieg, hätte sich 1991 ebenso auflösen müssen wie sein östliches Gegenstück, der Warschauer Pakt. Die Luftangriffe waren von den USA gewollt, um ihr Recht zu erzwingen, sich auf dem Balkan festzusetzen. Damit verhinderten sie keinen Steppenbrand, sie lösten ihn erst aus.
18.07.2009
Im März 1999 flog die NATO ihre ersten Luftangriffe gegen Belgrad, damals die Hauptstadt dessen, was von der Jugoslawischen Föderation übrig geblieben war: Serbien, einschließlich Kosovo, und Montenegro. Aus den Angriffen, die laut den Diplomaten der atlantischen Allianz nur einige Tage dauern sollten, wurde ein dreimonatiger Krieg — der erste in der Geschichte der NATO und ohne UN-Mandat. Unter dem Vorwand, die Kosovoalbaner vor den serbischen Streitkräften zu schützen, ging es in Wirklichkeit um die Rettung der NATO: Denn die NATO, entstanden im Kalten Krieg, hätte sich 1991 — dem Jahr des Zerfalls der UdSSR, aber auch der Zerschlagung der ursprünglichen Jugoslawischen Föderation — ebenso auflösen müssen wie sein östliches Gegenstück, der Warschauer Pakt. Die Luftangriffe aber waren von den USA gewollt, um ihr Recht zu erzwingen, sich auf dem Balkan festzusetzen. Damit verhinderten sie keinen Steppenbrand, sie lösten ihn erst aus.
Die vertrackten nationalen Fragen auf dem Balkan sind stets von rivalisierenden Großmächten ausgenutzt worden, um die Region mit Hilfe wechselnder Allianzen unter ihre Kontrolle zu bringen. Dies bedeutet nicht, dass die nationalen Konflikte künstlich geschaffen würden oder dass die Allianzen stabil und die Strategien von Dauer wären.
Ende der 80er Jahre setzten der IWF und die große Mehrheit der westlichen Regierungen eher auf die Transformation Jugoslawiens in eine liberale Marktwirtschaft als auf den Zusammenbruch der Föderation — aus Furcht vor einem Steppenbrand auf dem Balkan. Aber 1991 erklärten Slowenien und Kroatien ihre Unabhängigkeit und wurden in diesem Schritt durch ihre Beziehungen zu Deutschland und Österreich (und dem Vatikan) ermutigt.
Des gleichen hat Washington vor 1998 nicht die Unabhängigkeit des Kosovo unterstützt (der serbischen Provinz mit albanischer Bevölkerungsmehrheit). Das Abkommen von Dayton 1995 war ein geballter Ausdruck von Realpolitik und wurden häufig ignoriert zugunsten anderer Optionen, die der NATO-Krieg mit sich brachte: Es beendete den dreijährigen Krieg um Bosnien und sollte nach den Vorstellungen amerikanischer und westlicher Diplomaten die Region stabilisieren. Wie? Einerseits, indem ein pseudosouveränes Bosnien errichtet wurde (das faktisch unter Protektorat stand), andererseits indem sich das Abkommen auf die Präsidenten Kroatiens, Franjo Tudjman, und Serbiens, Slobodan Milosevic, stützte, deren „heimliche” Zusammenkunft Anfang der 90er Jahre die ethnische Teilung Bosniens eingeleitet hatte — auf den Bajonetten der Streitkräfte beider Seiten.
Die Unterschrift der beiden Präsidenten unter das Abkommen von Dayton war erkauft worden mit dem Schweigen der westlichen Diplomaten zur Vertreibung Hunderttausender Serben aus Kroatien durch Tudjmans Armee im Sommer 1995; gleichzeitig konnte Milosevic dadurch seine Macht über den Kosovo festigen.
Die amerikanische Realpolitik löste sich vom Diskurs über den „Schutz der Muslime” und der Albaner und verschanzte sich hinter dem Nebelvorhang eines „souveränen” Bosnien (nach einigen „gezielten Schlägen” und der Anklage der bosnisch-serbischen Führer vor dem Internationalen Strafgerichtshof).
In Wirklichkeit scheiterte der serbische Präsident mit der Festigung seiner Macht in Dayton; und für die Kosovoalbaner war das eine herbe Enttäuschung. Seit Anfang der 90er Jahre hatten sie gegen die erneute Übernahme der Kontrolle über die Provinz durch Belgrad protestiert und einseitig die Republik Kosovo mit Ibrahim Rugova als gewähltem Präsidenten ausgerufen; dabei rechneten sie mit westlicher Unterstützung.
Es war diese Lektüre von Dayton als Scheitern des friedlichen Widerstands im Kosovo, die den bewaffneten Kampf der UÇK (Befreiungsarmee Kosovas) auslöste. Die UÇK wurde anfangs von Belgrad und den westlichen Diplomaten als „terroristisch” bezeichnet — bis 1998 und parallel zur Aufhebung der Sanktionen gegen Serbien. Doch die serbische Repression gegen die UÇK machte die Unabhängigkeitsbestrebungen zunehmend populär. Da änderten die USA ihren Kurs.
Das Scheitern von Rambouillet
Washington nutzte die Sackgasse, in die sich die Friedenspläne der europäischen Länder und der UNO in Bosnien manövriert hatten, um die NATO als „bewaffneten Arm der UNO” ins Spiel zu bringen. Man wollte sich von der UNO frei schwimmen und Freizügigkeit für die NATO-Truppen auf dem strategisch wichtigen Balkan durchsetzen. Die Region ist vor allem als Durchgangsstraße für fossile Energie wichtig und für die USA ein Sprungbrett (Militärbasen, Häfen) zu anderen Regionen. Überdies wollten die USA verhindern, dass die EU sich als rivalisierende Macht etabliert. Auf dem Spiel standen die Osterweiterung der NATO, aber auch die Einbindung der europäischen Regierungen in die Atlantische Allianz bei der Neubestimmung und Stärkung ihrer Rolle.
Während der ersten Phase der Verhandlungen von Rambouillet, die von europäischen Diplomaten im Februar 1999 geführt wurden, akzeptierten die serbischen Unterhändler das Autonomieprojekt für den Kosovo — zum großen Leidwesen der westlichen Diplomaten wurde es jedoch von der albanischen Delegation, der für die Unabhängigkeit kämpfte, abgelehnt. In einer Verhandlungspause „schnappte” sich Madeleine Albright den Führer der UÇK und überzeugte ihn, die Delegation dazu zu bringen, das Autonomieabkommen zu unterzeichnen, indem sie ihm unter der Hand spätere Verhandlungen über die Selbstbestimmung versprach; sie fügte einen „Anhang B” hinzu, der die Stationierung von NATO-Truppen zur Durchsetzung der Abkommen vorsah. Diese Klausel, von den Kosovoalbanern begrüßt, um den serbischen Repressionsapparat loszuwerden, wurde von Belgrad entschieden abgelehnt — das die „Abkommen” somit nicht unterzeichnete: Die serbische Weigerung „legitimierte” die „Strafaktion”, die für den Fall der Ablehnung angekündigt war.
Die Bombenangriffe sollten nur einige Tage dauern, um (so sagten die Diplomaten hinter den Kulissen) Milosevic Gelegenheit zu geben, seine Bevölkerung von der Unterzeichnung der Abkommen zu überzeugen — wie er das bei dem von Dayton auch getan hatte. Aber die Bombenangriffe und ihre realen Zielscheiben waren für jeden souveränen Staat „unannehmbar”, und sie dienten Milosevic auf ganz andere Weise: nämlich als Hintergrund für die Förderung eines Patriotismus, der seine Opposition in die Ecke drängte und ihm erlaubte, eine Bodenoffensive zu starten, um den bewaffneten Widerstand der UÇK und der sie unterstützenden Dörfer zu vernichten.
Aus den Luftangriffen der NATO (aus einer Höhe, die ihre Soldaten unversehrt ließ) wurde ein Krieg mit zahlreichen „Kollateralschäden” an der Zivilbevölkerung und der Infrastruktur. Das Fiasko war so groß, dass die NATO am Rande des Zerfalls stand. In einer Fernsehsendung der BBC am 20.August erklärte der Vizeaußenminister der USA, Strobe Talbott, die Meinungsverschiedenheiten in der NATO seien so ausgeprägt, dass es ohne das Anfang Juni mit dem jugoslawischen Präsidenten Milosevic geschlossenen Abkommen „wirklich sehr schwierig gewesen wäre, die Einheit und Geschlossenheit der Allianz zu bewahren” Dabei fielen die Bomben im selben Rhythmus wie die Worte, die sie rechtfertigten, und die Bilder Hunderttausenden vor dem Krieg flüchtender Albaner mussten dazu herhalten, sie als die neuen Deportierte in einem angekündigten Genozid zu präsentieren.
Gefördert wurde diese Darstellung durch die Erinnerung an den Krieg in Bosnien, der von 1992 bis zu den Abkommen von Dayton 1995 100000 Tote forderte (darunter 6000 bei dem Massaker in der muslimischen Enklave Srebrenica). Aber Kosovo (mit seinen 80% Albanern) war eine serbische Provinz — und die serbisch-nationalistische Politik wollte, dass dies so blieb. Das war nicht Bosnien mit seinen 40% Muslimen, die zwischen serbischen und kroatischen Nationalisten eingeklemmt waren, die auf undurchsichtige Weise von Belgrad und Zagreb unterstützt wurden — bereit, Bosnien unter sich aufzuteilen.
Man würde, so stand es in den Zeitungen, Zehntausende Tote entdecken, verbrannte Leichen auf dem Grund von Bergwerken und in Massengräbern. Damit Deutschland (darunter die Grünen) seine Teilnahme an einem solchen Krieg rechtfertigen konnte, musste ein „Hufeisenplan” erfunden werden, der ein „Genozid” verursacht hätte, wäre er nicht verhindert worden. In den USA wie in Deutschland ging es darum, in Ermangelung einer legalen militärischen Intervention ein neues „Völkerrecht” zu verkünden, das eine „humanitäre” Einmischung erlaubte.
Eine Untersuchung an Ort und Stelle nach Juni 1999 — d.h. im Rahmen eines UN-Protektorats und in Anwesenheit der NATO-Truppen — veranlasste den Obersten Gerichtshof in Pristina zur Schlussfolgerung, dass es im Kosovo keinen Völkermord gegeben hat (AFP vom 7.September 2001).
Was hat der Krieg der Region gebracht?
Die Niederlage von Slobodan Milosevic bei den Wahlen im Oktober 2000 ist als Erfolg der NATO dargestellt worden. Als die Westmächte über ein Jahr nach Kriegsende auf Wahlen setzten, um Milosevic zu beseitigen, fiel ihr Augenmerk auf den Kandidaten, der laut Umfragen als einziger in der Lage war, die Wähler an die Urnen zu bringen und Milosevic zu besiegen: nicht der der NATO ergebene Zoran Djindjic, sondern Vojislav Kostunica. Sie zwangen die „prowestlichen” Parteien, sich hinter ihm zusammenzuschließen. Aber er war nationalistischer als Milosevic (dem er vorwarf, die Serben Kroatiens und Bosniens ebenso im Stich gelassen zu haben wie das Kosovo) und gegenüber den NATO-Bomben wie dem Internationalen Strafgerichtshof äußerst feindselig eingestellt. Sein Profil als nicht korrupter Politiker begründete seine Popularität, ihm traute man zu, er werde mit der Vetternwirtschaft und der Korruption des „sozialistischen” Regimes, aber auch eines guten Teils der Opposition Schluss machen.
Das Regime wurde dann, ohne Blutvergießen, nach einem ähnlichen Drehbuch wie die „farbigen Revolutionen” in der Ukraine und in Georgien gestürzt...
Von 2000 an wurden die politischen Verhältnisse in Serbien wahlpolitisch wieder instabil. Hintergrund waren die katastrophale Wirtschaftslage, die Enttäuschung über erwartete Wirtschaftshilfen und der Aufstieg ultranationalistischer Kräfte.
Im Februar 2009 feierten die Kosovoalbaner den ersten Jahrestag ihrer Unabhängigkeitserklärung. Doch wenn Kosovo auch eine Verfassung, eine neue Fahne, eine Nationalhymne und den Kern einer Armee hat, ist es sicher nicht souverän. Seit Ende des Krieges im Juni 1999 verwaltet die Unmik, die UN- Mission im Kosovo, das Land. Im Dezember 2008 sollte sie die Stafette an die Europäische Mission für Polizei und Justiz (Eulex) weitergeben. Aber einerseits würde dies Kosovo in die Lage bringen, in der sich Bosnien von 1995 an befand: nämlich die eines europäischen Quasiprotektorats mit einem Hochkommissar, der unbeschränkte Vollmachten hat. Andererseits haben bislang nur 54 UN-Mitgliedstaaten (darunter 22 von 27 EU- Ländern) seine Unabhängigkeit anerkannt — was bedeutet, dass die von Milosevic am Kriegsende unterzeichnete UN-Resolution 1244 nicht hinfällig ist. Diese sagt, dass Kosovo im Status einer autonomen Provinz verbleibt. Serbien, stützt sich auf diese Resolution und hat den Internationalen Gerichtshof angerufen, der sich zur Unabhängigkeitserklärung äußern muss. In der Zwischenzeit bereitet Serbien mehr oder weniger offiziell eine Teilung der Provinz mit Gebietsaustausch vor. Die Bildung der FSK, der neuen Sicherheitskräfte, die im Wesentlichen aus früheren UÇK-Mitgliedern bestehen, im Januar 2009 hat Öl ins Feuer gegossen — sie werden beschuldigt, zahlreiche Gewaltakte gegen Nichtalbaner (Serben, Roma) und „kollaborierende” Albaner begangen zu haben.
Das Kosovo ist heute eines der Länder mit der höchsten EU-Wirtschaftshilfe pro Einwohner, aber mehr als 80% davon kommen dem Geberland zugute — über Lohnzahlungen oder Importe, die in Euro bezahlt werden. Die Hälfte der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze, die Arbeitslosigkeit liegt bei 45%. Die Geldquellen aus der Diaspora, mit denen Familien und der Kleinhandel sich hauptsächlich finanzieren, drohen mit der Krise zu versiegen.Die Preise für Brot und Strom (der mehrmals am Tag abgestellt wird) steigen, die Korruption grassiert.
In den serbischen Enklaven ist die Bevölkerung weitgehend dem Aufruf zum Boykott der albanischen Regierung gefolgt. Aber auch unter der albanischen Mehrheit wächst der Unmut. Daraus versucht die Bewegung Vetëvendosje (Selbstbestimmung) Kapital zu schlagen, die sich gleichzeitig aus der Vormundschaft Belgrads und der internationalen Institutionen lösen will.
So drückt die jugoslawische Krise der 90er Jahre den Übergang von einer Weltordnung (der des Kalten Krieges) zu einer anderen aus, die noch voller Zweideutigkeiten ist: Die kapitalistische Restauration (die sich nicht so nennen will) zerbricht alle Formen gesellschaftlichen Eigentums und sozialen Schutzes; Exkals virulente Antikommunisten ommunisten — wie Franjo Tudjman in Kroatien — posieren als virulente Antikommunisten oder Sozialliberale. Medienlügen rechtfertigen Kriege — zum Zweck der ethnischen Säuberung oder zur Aneignung von Territorien — aber auch die „humanitären Kriege” der NATO, deren wahre Ziele von den Medienberichten verschleiert werden.
Ein europäischer Rahmen, der den gesamten Balkan integriert, würde gewiss helfen, die dortigen nationalen Fragen zu lösen. Aber dazu muss es gleichen Status und gleiche Würde für alle seine Völker geben sowie wirtschaftliche und politische Demokratie. Doch dies steht im Widerspruch zur neokolonialen Logik des Protektorats und der klientelistischen Privatisierung, die mit der EU und der NATO verbunden sind.
(Übersetzung: Hans-Günter Mull)