Vor 70 Jahren: Der Pjatakow-Radek-Prozeß und Stalins Holocaust
Helmut Dahmer
Die drei spektakulären, im „Oktobersaal“ des Moskauer Gewerkschaftshauses im August 1936, im Januar 1937 und im März 1938 veranstalteten Schauprozesse gegen Parteiführer der Ära Lenin, die sich in den zwanziger Jahren (zu verschiedener Zeit und mit ganz verschiedenen Programmen) gegen Stalin und seine Gruppe gestellt, 1929 aber „kapituliert“ hatten, waren für die sowjetische wie für die internationale Öffentlichkeit bestimmt.
24.04.2007
I
Die meist durch Folter erpreßten „Geständnisse“ der Angeklagten (1) lieferten eine Art „Rechtfertigung“ für den Massenterror, dem gleichzeitig mehrere Millionen Menschen zum Opfer fielen. (2)
Nachdem Stalin sich 1927 im innerparteilichen Machtkampf gegen die (um
Trotzki gescharte) Linke Opposition durchgesetzt hatte, schaltete er
auch die Rechte Opposition (um Bucharin) aus und nahm im November 1929
Kurs zum einen auf die Zwangskollektivierung (Verstaatlichung) des
bäuerlichen Landbesitzes (und auf die „Liquidierung“ der
„Dorfbourgeoisie“, der „Kulaken“), zum anderen auf eine forçierte
Industrialisierung. Mit Erschießungen und Deportationen wurde der
Widerstand der Bauernschaft gebrochen, die ja die Bolschewisten 1917
und während des Bürgerkriegs einzig wegen ihrer Landverteilungs- und
Friedenspolitik unterstützt hatte. Eine furchtbare Hungersnot, die in
den Jahren 1932-1934 (vor allem in der Ukraine) mehrere Millionen
Menschenleben kostete, war die Folge. Von der gewaltsamen
Umstrukturierung während des ersten Fünfjahresplans (1929-1932) konnte
sich die sowjetische Landwirtschaft jahrzehntelang nicht erholen. Die
Industrialisierung zeitigte Mitte der dreißíger Jahre erste Erfolge,
1937 aber kam es zu einer neuerlichen Wirtschaftskrise, der die
Stalin-Führung nur mit neuen Terrormaßnahmen zu begegnen wußte. Hitlers
kampfloser Sieg über die deutschen Arbeiterorganisationen hatte die
Hoffnungen auf eine Durchbrechung der Isolation der Sowjetunion
enttäuscht. In den folgenden Jahren ging die stalinisierte Komintern
von ihrem ultralinken Kurs (der die Niederlage der deutschen
Kommunisten besiegelt hatte) ab und setzte (vor allem in Frankreich und
Spanien) auf Bündnisse („Volksfronten“) mit bürgerlichen und
reformistischen Parteien zur Verteidigung der Demokratie gegen den
Faschismus. Nach dem Ausbruch des spanischen Bürgerkriegs im Juli 1936
unterstützte die Stalin-Regierung (nach einigem Zögern) die
republikanischen Regierungen Caballero und Negrín militärisch und
geheimpolizeilich sowohl gegen Franco als auch gegen die sozialistische
Massenbewegung und deren revolutionäre Organisationen (wie etwa die
POUM, die „Arbeiterpartei der marxistischen Vereinigung“ [3]).
Rjutin und Slepkow, Schüler von Bucharin, hatten im Sommer 1932 mit
anderen „Roten Professoren“ und einigen „sinowjewistischen“ Arbeitern
eine kleine Oppositionsgruppe gebildet, die alsbald von der GPU
zerschlagen wurde. Ihr Programm, das auch in Gestalt eines „Aufrufs an
die Parteimitglieder“ verbreitet wurde, sah vor, die verschiedenen
kommunistischen Oppositionsströmungen gegen Stalin, „den bösen Geist
der Revolution“, zu vereinigen, um ihn aus dem Amt zu jagen, die
innerparteiliche Demokratie wiederherzustellen, die ausgeschlossenen
Oppositionellen (einschließlich des in die Türkei verbannten Trotzki)
wieder in die Partei aufzunehmen und die Wirtschaftsplanung realistisch
zu korrigieren. Sinowjew und Kamenjew, die von diesem „Rjutin-Programm“
Kenntnis hatten, wurden deswegen im Oktober neuerlich aus der Partei
ausgeschlossen. (4) Stalin war alarmiert. Nach dem Attentat auf den Leningrader Parteisekretär Kirow am 1. 12. 1934 (5)
ergriff er sofort Notstandsmaßnahmen und skizzierte ein Dekret, das es
ermöglichte, mit „Terroristen“ kurzen Prozeß zu machen. Es erlangte
Gesetzeskraft und diente als Rechtsgrundlage für die Repressionswellen
der folgenden Jahre. Stalin beauftragte den Geheimdienstchef Jagoda
(der zum Lohn für seine Dienste 1938 im dritten Schauprozeß selbst zum
Tode verurteilt wurde), die Existenz eines Verschwörernetzes mit einem
Leningrader und einem Moskauer „Zentrum“ nachzuweisen und die
Ex-Oppositionellen Sinowjew und Kamenjew (seine Verbündeten in den
Jahren 1923-1925) in diese fiktive Verschwörung einzubeziehen. Stalin
formulierte auch die Anklageschrift gegen die „Kirow-Mörder“ – ein
erster Versuch, seinen Verfolgungswahn zu „objektivieren“. Argwohn
beflügelte seine Phantasie und ließ ihn in den kommenden Jahren immer
ausgedehntere Netze fiktiver Verschwörungen knüpfen, in die er seine
Gegner zu verwickeln suchte. Wahn und Kalkül ergänzten einander, und am
Schluß, wenn die Opfer „gestanden“ hatten, glaubte der „Führer“ selbst
mehr oder weniger an die Existenz all’ jener Konspirationen, die zu
nichts geführt hatten. In den Fängen der Geheimpolizei belasteten sich
die angeklagten Altbolschewisten gegenseitig, während die noch in
„Freiheit“ befindlichen sich beeilten, die Todesurteile gegen ihre zu
„Volksfeinden“ gestempelten Genossen von gestern zu preisen und
Ergebenheitsadressen an den „weisen“ Chefterroristen (6) im Kreml zu richten.
Im ersten, im August 1936 inszenierten großen Schauprozeß gegen
Sinowjew, Kamenjew und neun andere alte Bolschewisten, denen
(entsprechend der Technik der „Amalgam“-Bildung) noch fünf
geständnisfreudige Provokateure beigesellt waren, behauptete die
Anklage, Trotzki und sein (älterer) Sohn, Leo Sedow, hätten (in
Absprache mit der Gestapo) die Ermordung der sowjetischen Führung
geplant. Die Angeklagten gestanden, wurden zum Tode verurteilt und
umgehend erschossen. Die Beschuldigten waren dazu gedrängt worden,
Mitschuldige zu benennen, und so stand am Ende des Verfahrens schon die
Angeklagten-Riege für den zweiten Schauprozeß fest – und spätestens
nach diesem auch diejenige für den dritten (im März 1938). (7)
Die Zusammensetzung der „sowjetfeindlichen“ Gruppen, die die Anklage
präsentierte, und die von ihr erhobenen Anschuldigungen wurden von
einem Prozeß zum anderen immer abenteuerlicher. Trotzki (der in
Norwegen beziehungsweise in Mexiko Asyl gefunden hatte) und Leo Sedow
(der im Januar 1938 in Paris von einem GPU-Agenten vergiftet wurde)
waren die (abwesenden) Hauptangeklagten. Sie sollten die Verschwörer
organisiert und ihnen Direktiven zur Ermordung Stalins und der
stalinistischen Führung übermittelt haben. Alte
Meinungsverschiedenheiten mit Lenin wurden dazu herangezogen, die
Fraktions- oder Agententätigkeit bestimmter Angeklagter bis in die Zeit
vor dem ersten Weltkrieg zurückzuverlegen. Die Zugehörigkeit zur Linken
Opposition in den zwanziger Jahren oder, allgemeiner, Sympathien für
den „Trotzkismus“ galten als ein unauslöschlicher Makel und wurden als
kriminelle Disposition gewertet. (8)
Einer der Hauptanklagepunkte war die Sabotage der Industrie und der
Landwirtschaft, konkret: die Herbeiführung von Unfällen und die
Vergiftung von Arbeitern. Im Zusammenhang mit der Vorbereitung eines
Krieges gegen die Sowjetunion sollten die Beschuldigten darüber hinaus
mit dem deutschen und dem japanischen Geheimdienst konspiriert und eine
Aufteilung der Sowjetunion unter die imperialistischen Mächte (also die
Restauration des Kapitalismus) geplant haben.
Stalin war der Repräsentant einer immer wieder „gesäuberten“ und
schließlich gleichgeschalteten Partei; und diese Partei war das
politische Organ der sowjetischen Bürokratie, die die Kontrolle über
die verstaatlichten Produktionsmittel des Landes usurpiert hatte. Alle
Ängste dieser neuen Bürokratie und ihres Beherrschers Stalin
manifestierten sich in Wyschinskis (9)
Anklage-Katalogen. Stalin plante seit 1934 nicht nur die Beseitigung
der Zögernden unter seinen Anhängern (wie Ordschonikidse), sondern die
Eliminierung einer jeden überhaupt denkbaren Ersatzführung. Ein solcher
„politischer Genozid“ (Isaac Deutscher) ließ sich nur bewerkstelligen,
wenn die früheren Oppositionellen zu Kriminellen gestempelt wurden und
wenn es gelang, den Volkszorn von der für Hunger, Geheimdienstkontrolle
und Blutvergießen verantwortlichen Stalin-Führung abzulenken und gegen
die designierten „Volksfeinde“ zu richten. Der „Totengräber der
Revolution“ (wie Trotzki ihn schon 1926 genannt hatte), der mit Hilfe
der GPU in der Lage war, Millionen Menschen im eigenen Land umbringen
zu lassen, und der seine Mörderbanden nach Frankreich, Spanien und
Mexiko aussandte, um Dissidenten zur Strecke zu bringen, wähnte, seine
Gegner würden ihm Gleiches mit Gleichem vergelten, und zwang seine
Opfer, diesen Wahn durch ihre „Geständnisse“ zu verifizieren. Abgesehen
von dem Anschlag auf Kirow, gab es weder in den dreißíger, noch in den
vierziger Jahren irgendein Attentat auf Stalin oder einen seiner
Kumpane. Darum wurden den angeklagten „Terroristen“ (oder den
mitangeklagten Ärzten) ersatzweise natürliche Todesfälle und
Auftragsmorde der Geheimpolizei zur Last gelegt. Die früheren
Revolutionäre und Ex-Oppositionellen, die Stalin vor Gericht stellen
und erschießen ließ, waren aufgrund ihrer marxistischen Schulung
zutiefst von der Sinnlosigkeit des „individuellen Terrors“ überzeugt.
Der einzige aus der alten Lenin-Partei, der unablässig von Morden und
Attentaten träumte und solche anordnete, weil er „Palastrevolutionen“,
„Putschversuche“, „Fünfte Kolonnen“ und eine neue Revolution gegen die
bürokratische Kaste fürchtete, war Stalin selbst. Die Woge des
sowjetischen „Thermidors“ hatte den begabten Apparatschik auf den
Gipfel der Macht gehoben, und er nutzte seine Stellung, um die Träger
der revolutionären Tradition zu vernichten, der herrschenden Partei
jedes Eigenleben auszutreiben, ihre Führungskader ebenso wie die von
Armee (10)
und Geheimpolizei zu beseitigen, nonkonforme Intellektuelle,
Wissenschaftler, Künstler und ausländische Kommunisten, die in Moskau
Zuflucht gesucht hatten, erschießen zu lassen und widerspenstige
Ethnien zu deportieren.
Die Angeklagten und die überall im Lande zu Hunderttausenden
eingesperrten, verbannten und erschossenen „Diversanten und Schädlinge“
starben als Sündenböcke für das Desaster der Zwangskollektivierung und
für das Zurückbleiben der Industrieproduktion hinter den ehrgeizigen
Zielen der ersten Fünfjahrespläne. Ihnen wurde die Verantwortung für
das Scheitern des Stalinschen Projekts des Aufbaus einer (allen
kapitalistischen Staaten überlegenen) sozialistischen Gesellschaft auf
dem Territorium der Sowjetunion zugeschoben. Stalin, als
Generalsekretär der KPdSU auch Herr der „Dossiers“, die über Millionen
von Mitgliedern Auskunft gaben, war ein Meister der Personalisierung.
Und da die Sowjetmenschen auch noch zwanzig Jahre nach der Revolution
um Brot anstehen mußten, versuchte der „Baumeister des Sozialismus“,
sie mit eigens von ihm erfundenen Schauspielen von ihrer Misere
abzulenken und ihnen „Volksfeinde“ zum Fraß vorzuwerfen. Die großen,
vor sorgfältig ausgesuchtem Publikum inszenierten Prozesse waren
moderne Mysterienspiele, ein „Theater der Grausamkeit“, dessen 54
unfreiwillige Darsteller die Aufführungen in ihrer großen Mehrheit
nicht überlebten. Das gräßliche Spektakel ermöglichte es Stalin, sich
den Massen als einen wiedererstandenen mythischen Drachentöter zu
präsentieren. Die Verhältnisse, die der Verwirklichung seiner Utopie
entgegenstanden, kamen in der Gestalt prominenter „Saboteure“ (und
ihrer Helfershelfer) auf die Bühne des „Oktobersaals“, wurden tagelang
geschmäht und schließlich unter allgemeinem Beifall zur Strecke
gebracht. Robert Conquest berichtet:
„Als [am 27. 1. 1937] die Urteile [im Pjatakow-Radek-Prozeß] verkündet
wurden, versammelte sich eine Menge von 200.000 Menschen auf dem Roten
Platz. Es herrschte eine Temperatur von minus 27 Grad, und die Menge
lauschte den Reden, die Chruschtschow (11)
und Schwernik von sich gaben, und demonstrierte spontan gegen die
Angeklagten. [Die Demonstranten] trugen Transparente, auf denen die
sofortige Vollstreckung der Todesurteile verlangt wurde.“ (12)
Die vielfach redigierten Protokolle der Verhandlungen wurden in der
Prawda veröffentlicht, in größter Eile in 13 Sprachen übersetzt und
dann in großer Auflage verbreitet. Das Für-Wahr-Halten der
„Geständnisse“ der Angeklagten und die Überzeugung, daß bei den
Prozessen alles mit rechten Dingen zugegangen sei, gehörten fortan zum
Katechismus der Mitglieder und Freunde der stalinistischen Kirche. Im
Potemkinschen Dorf des „real existierenden“ Sozialismus verdeckte das
Moskauer Gewerkschaftshaus den „Archipel GULag“ (13). Die Prozesse der dreißiger Jahre dienten als Deckerinnerung für den Massenterror (14),
für Stalins Holocaust, von dem die Moskautreuen wenig wußten und noch
weniger wissen wollten. „Ungläubige“ galten ihnen als verblendete
Reaktionäre. (15)
Millionen von Parteikommunisten und Sympathisanten in aller Welt
wollten Stalins Verbrechen nicht wahrhaben und verloren so ihre
politisch-moralische Integrität. Den „Trotzkismus“ hielten sie für
ihren Todfeind, in Stalin sahen sie den einzigen Garanten für den
Fortschritt der Menschheit, und sie waren fest entschlossen, ihre
eigene Politik der jeweiligen „Generallinie“, also den
Sicherheitsinteressen der sowjetischen Führung unterzuordnen.
II
Der Prozeß gegen Pjatakow, Radek und andere, der vom 23. bis zum 30.
Januar 1937 veranstaltet wurde, war vor allem ein Verfahren gegen das
Kommissariat für Schwerindustrie, dessen Leiter, Ordschonikidse, am 18.
1. 1937 (nach einem Streit mit Stalin und einer Hausdurchsuchung)
erschossen worden war (oder dazu gedrängt worden war, sich zu
erschießen). Georgi Pjatakow, sein Stellvertreter, war Parteimitglied
seit 1910, wurde 1918 Vorsitzender der ukrainischen Sowjetregierung und
1921 stellvertretender Vorsitzender des Obersten Volkswirtschaftsrats.
1923-1928 gehörte er der Linken Opposition an, kapitulierte dann vor
Stalin und wurde Präsident der Staatsbank und Organisator der
Schwerindustrie. Im Prozeß behauptete er, Trotzki im Dezember 1935 in
Norwegen aufgesucht zu haben, um von ihm mündliche „Direktiven“
entgegenzunehmen. Karl Radek, ein alter Revolutionär und brillanter
Journalist, war schon vor dem ersten Weltkrieg in der Partei Rosa
Luxemburgs und in der Bremer Sozialdemokratie aktiv gewesen. Später
stand er mit Lenin und Trotzki auf vertrautem Fuße. In der sibirischen
Verbannung aber bekehrte er sich (im Sommer 1929) zum
Nationalkommunismus, und Stalin hatte ihn daraufhin zu seinem
Lohnschreiber und außenpolitischen Berater gemacht. Er behauptete nun
ebenfalls, Trotzki habe ihm Direktiven erteilt; die entsprechenden
Briefe aber habe er leider verbrannt. Auf den Aussagen Pjatakows und
Radeks, und nur auf ihren Aussagen, beruhte die Anklageschrift im
„Prozeß der 17“.
„Trotz Schlafentzug und anderer Foltern dauerte es einen Monat, bis die
Angeklagten des >parallelen, sowjetfeindlichen Zentrums<
zusammenbrachen und […] vor Gericht gestellt wurden. Karl Radek, das
einzige Opfer, für das Stalin noch einen Rest von Achtung empfand,
willigte ein, sich schuldig zu bekennen, aber unter der Bedingung, daß
er seinen Part selber schreiben durfte.“ (16)
Radeks Aufgabe war es, aus den Verhörprotokollen der (überlebenden)
Angeklagten ein halbwegs stimmiges Verschwörungs-Szenario zu
komponieren. Dieses Drehbuch wurde von Wyschinski und Stalin redigiert
und umgeschrieben und anschließend von den Angeklagten auswendig
gelernt. Im Prozeß brauchte Wyschinski diese „Geständnisse“ nur noch
abzufragen. Der Druck auf die todgeweihten Opfer der Prozeß-Spektakel
war so groß, daß nur Radek hin und wieder vom vorgeschriebenen Text
abzugehen wagte und im Dialog mit Wyschinski unterstrich, daß die
Anklage keine andere Grundlage habe als das, was er und Pjatakow
ausgesagt hatten. Im dritten Prozeß versuchte Bucharin dann wiederholt,
mit dem Staatsanwalt zu argumentieren, und der Angeklagte Krestinski
widerrief sogar sein „Geständnis“. Er wurde freilich dazu gebracht, am
folgenden Tag seinen Widerruf zu widerrufen. Nicht kooperierende
Angeklagte wurden in den Gefängnissen des NKWD grausam gequält oder
gleich erschossen. Nur von Sinowjew, Kamenjew und Bucharin heißt es,
sie seien „nicht im engeren Sinne“ gefoltert worden. Wie bei den
Hexenprozessen vergangener Jahrhunderte wurden die Gefangenen
gezwungen, sich das Wahnsystem der Inquisitoren in solchem Maße zu
eigen zu machen, daß sie imstande waren, es durch neue Phantasmen zu
bereichern und zu „bestätigen“. Die Furcht vor Schlägen oder
Verstümmelung und die Hoffnung auf Begnadigung und Verschonung der
Familienangehörigen reichten hin, die alten Revolutionäre zu brechen
und in willenlose Marionetten der Prozeßregie zu verwandeln. (17)
Bei einigen mag auch der Wille eine Rolle gespielt haben, den Despoten
als einen (wie immer unwürdigen) Verteidiger der verstaatlichten
Produktionsmittel noch im Abgehen mit größtmöglicher Legitimation
auszustatten. Nach dem Pjatakow-Radek-Prozeß fand eine Plenartagung des
Zentralkomitees statt, die sich vom 23. Februar bis zum 5. März hinzog.
Es handelte sich dabei sowohl um ein Tribunal als auch um ein Konzil.
Bucharin und Rykow, Stalins vormalige Bundesgenossen und Opponenten,
wurden verdammt und dem NKWD übergeben, Stalin selbst aber wie ein
Pharao des Sowjetstaats gefeiert.
„Das Februar-März-Plenum […] zählt zu den absurdesten Treffen in der
Geschichte der Menschheit. Zwei Drittel der 1.200 Delegierten sollten
im Laufe der nächsten beiden Jahre ums Leben kommen, dennoch riefen
sie, in einem Blutrausch, zum Terror gegen immer mehr imaginäre Feinde
auf.“ (18)
Nach dem zweiten Weltkrieg ließ Stalin in den osteuropäischen
Satellitenstaaten noch eine ganze Reihe von weiteren Schau-Prozesse
nach „Moskauer“ Art inszenieren, um die mit Hilfe von Roter Armee und
GPU an die Macht gelangten „Bruderparteien“ zu disziplinieren. (19)
III
Hitler mobilisierte den aktiven Teil der deutschen Zwischenschichten
und zerschlug die Arbeiterorganisationen. Mit dem Segen des großen
Kapitals und der bürgerlichen Parteien errichtete er, unterstützt von
Armee und Verwaltung, einen „totalitären“ Führerstaat. Stalin schaltete
zunächst die marxistisch orientierten Oppositionsgruppen in der
bolschewistischen Partei aus – der nach dem Bürgerkrieg einzig
verbliebenen politischen Organisation des Landes –, brach dann den
Widerstand der bäuerlichen Mehrheit gegen die Verstaatlichung des
Bodens und organisierte – mit Unterstützung der selbst vom Terror
gebeutelten Bürokratie, die die verstaatlichten Produktionsmittel
kontrollierte – ebenfalls ein „totalitäres“ Regime. Beide Diktaturen
strebten nach wirtschaftlicher Autarkie (und erweiterten das von ihnen
kontrollierte Territorium erst im zweiten Weltkrieg). Die beiden
Diktatoren versuchten zuerst, miteinander zu paktieren, und begannen
dann einen Kampf auf Leben und Tod. (20)
Beide Staaten waren höchst unterschiedlichen Versionen einer Utopie
verpflichtet, der des „nationalen Sozialismus“. Und beide opferten
diesem zum Scheitern verurteilten Projekt Millionen von Menschenleben.
Hitler und die Seinen glaubten, daß nur „das internationale Judentum“
(mit seinen beiden „Hauptquartieren“ im Kreml und in der Wallstreet)
die Herstellung einer arischen „Volksgemeinschaft“ und die Einigung
Europas unter deutscher Oberherrschaft verhindere, und faßten den Plan,
die europäischen Juden auszurotten. Stalin war überzeugt, daß der
Aufbau des „Sozialismus in einem Lande“ von Abweichlern, Verrätern und
Terroristen, die im Solde der deutschen und japanischen Faschisten
standen – kurz: von der „Fünften Kolonne“ der „Trotzkisten“ – sabotiert
werde. Er beschloß, alle Ungläubigen, Nonkonformisten und Dissidenten
„liquidieren“ zu lassen. In Hitlers „Weltanschauung“ repräsentierten
die „Juden“ (und, hinter ihnen, die „Plutokraten“) das schlechthin
„Böse“; in Stalins Phantasmagorie waren Kulaken und („trotzkistische“)
„Volksfeinde“ Teufel in Menschengestalt. Der „nationale“ Sozialismus
und die klassenlose „Volksgemeinschaft“ waren die verhängnisvollsten
Utopien des 20. Jahrhunderts. Als der deutsche kapitalistische
Industriestaat und die sowjetische Entwicklungsdiktatur in den Dienst
dieser reaktionären Projekte gestellt wurden, zog jene Barbarei herauf,
vor der die internationalistischen Sozialisten die Menschheit hatten
bewahren wollen.
Literatur
Hedeler, Wadislaw (2003): Chronik der Moskauer Schauprozesse 1936, 1937 und 1938. Planung, Inszenierung und Wirkung. Berlin.
Sedow, Leo (1937): Rotbuch über den Moskauer Prozeß. Hamburg 1972.
Schrader, Fred E. (1995): Der Moskauer Prozeß 1936. Zur
Sozialgeschichte eines politischen Feindbildes. Frankfurt a. M., New
York.
Trotzki, Leo (1988): Sowjetgesellschaft und stalinistische Diktatur
(1936-1940). Schriften, Bd. 1.2, Hamburg. – „The Comintern and the GPU.
The attempted assassination of May 24 and the Communist Party.” (17. 8.
1940) In: Writings of Leon Trotsky (1939-40). New York 1973, S. 348-391.
Volkskommissariat für Justizwesen der UdSSR (Hg.) (1937): Prozeßbericht
über die Strafsache des sowjetfeindlichen trotzkistischen Zentrums,
verhandelt vor dem Militärkollegium des Obersten Gerichtshofes der
UdSSR vom 23. – 30. Januar 1937. Moskau.
Waksberg, Arkadi (1990): Gnadenlos. Andrei Wyschinski – der Handlanger
Stalins. [The Prosecutor and the prey. Vyshinsky and the 1930s’ Moscow
Show Trials.] Bergisch Gladbach.
Weber, Hermann, und Ulrich Mählert (Hg. (1998): Terror. Stalinistische Parteisäuberungen 1936-1953. Paderborn.
16-01-2007, 19:37:00 |Helmut Dahmer
Anmerkungen:
(1) Stalin „geriet in eine wahre
Raserei, wenn man ihm sagte, dieser oder jener unter seinen Gefangenen
würde aushalten und die Unterschrift unter das verlangte Geständnis
verweigern. […] >Sage ihnen<, – diese Worte bezogen sich auf
Sinowjew und Kamenew – >was sie auch immer tun, sie werden den Lauf
der Geschichte nicht aufhalten können. Es bleibt ihnen allein noch
übrig, entweder zu sterben oder ihre Haut zu retten. Geht so mit ihnen
um, bis sie auf ihrem Bauch mit den Geständnissen auf den Lippen auf
Euch zukriechen!“ Orlow, Alexander (1953): Kreml-Geheimnisse. [The
secret history of Stalin’s crimes.] Würzburg 1953, S. 149.
[Der GPU-Agent Orlow, in die Ermordung des POUM-Führers Andreu Nin
verwickelt, war im Juli 1938 von Jeschow, dem Nachfolger Jagodas an der
Spitze des NKWD, aus Spanien nach Moskau zurückbeordert worden, hatte
sich aber in die Vereinigten Staaten abgesetzt. Im Dezember 1938 warnte
er Trotzki (mit einem anonymen Brief) vor dem (Pariser) GPU-Spitzel
Sborowski und vor einem geplanten Mordanschlag. Vgl. dazu Zarew, Oleg,
und John Costello (1992): Der Superagent. Der Mann, der Stalin
erpreßte. (Deadly Illusions – Alexander Orlov and the Looking Glass
War.) Wien 1993.]
(2) Nach Unterlagen des NKWD, des organisatorischen
Zentrums des Stalinschen Terrors, wurden in den Jahren 1937 und 1938
etwa zweieinhalb Millionen Menschen verhaftet und etwa 680.000
hingerichtet; ein großer Teil der in Verbanntenkolonien und
Zwangsarbeitslagern internierten dreieinhalb Millionen Häftlinge kam
ebenfalls ums Leben. Vgl. dazu Hildermeier, Manfred (2001): Die
Sowjetunion 1917-1991. München, S. 131.
(3) Vgl. dazu Tosstorff, Reiner (2006): Die POUM in der spanischen Revolution. Köln.
(4) Auch Trotzki hatte am 1. März 1932 in einem
„Offenen Brief an das ZEK der UdSSR“, mit dem er auf seine Ausbürgerung
reagierte, gefordert, den in Lenins „Testament“ vom 4. 1. 1922
enthaltenen Rat, Stalin seines Amtes (als Generalsekretär) zu entheben,
endlich zu befolgen.
(5) Ob dieses Attentat ein privater Racheakt oder eine
GPU-Machination war, steht dahin. Für Stalin bot es jedenfalls den
Anlaß zur Auslösung des Terrors – so wie im Jahr zuvor Hitler den
Reichstagsbrand genutzt hatte, um mit seinen Gegnern (vor allem
Kommunisten und Sozialdemokraten) abzurechnen (Massenverhaftungen,
„Schutzhaft“, „wilde“ Konzentrationslager, „Säuberung“ des
Verwaltungsapparats).
(6) Stalin persönlich billigte durch seine Unterschrift
unter entsprechenden Namenslisten des NKWD allein in den Jahren 1937/38
nicht weniger als 340.000 Verhaftungen und Hinrichtungen.
(7) Unter den 21 Angeklagten des dritten Schauprozesses
befanden sich drei Mitglieder des Leninschen Politbüros (Bucharin,
Rykow, Krestinski), ferner Rakowski, der Führer der trotzkistischen
Linksoppositionellen bis zum Jahre 1934. Hinzu kamen der vormalige Chef
der GPU, Jagoda, fünf Volkskommissare des Jahres 1937, zwei usbekische
Kommunisten, drei Ärzte und sechs andere Opfer. Alle bekannten sich
schuldig; 18 wurden sogleich erschossen, die übrigen drei Jahre später
im Gefängnis.
(8) Freilich konnte die Anklage keinen einzigen noch
aktiven Trotzkisten präsentieren. An die 3.000 von ihnen (darunter
Trotzkis jüngerer Sohn Sergej) wurden im Laufe des Jahres 1936 im
Arbeitslager Workuta konzentriert und im März/April 1938 – ein Jahr
nach ihrem Hunger-Streik gegen die Arbeits- und Haftbedingungen, der
vom Oktober 1936 bis zum März 1937 gedauert hatte – samt Frauen und
Kindern gruppenweise mit Maschinengewehren erschossen. Vgl. dazu
Rogowin, Wladim S. (1997): Die Partei der Hingerichteten. Essen 1999,
Kap. 34.
(9) Andrei J. Wyschinski stammte aus polnischem Adel
und war zur Zeit der Oktoberrevolution Menschewik. Nachdem Paschukanis
im Januar 1937 als „Schädling“ erschossen worden war, rückte
Wyschinski, der Ankläger in den großen Schauprozessen, zum führenden
sowjetischen Rechtstheoretiker auf. Er vertrat die Auffassung,
„Geständnisse“ von Angeklagten seien in Strafverfahren als hinreichende
Schuldbeweise zu werten. 1940-49 amtierte er als Stellvertretender
Außenminister, 1949-53 als Außenminister; 1953-54 war er Vertreter der
Sowjetunion bei den Vereinten Nationen.
(10) Am 11. 6. 1937 wurden Tuchatschewski, Jakir und
andere Armeeführer in einem Geheimprozeß nach schwerer Folter zum Tode
verurteilt. Die nachfolgende „Säuberung“ der Armee erfaßte viele
Tausende von Offizieren. Trotzkis Kommentar: „Die Interessen der
Landesverteidigung sind den Interessen der Selbsterhaltung der
regierenden Clique geopfert worden.“ Trotzki (1937): Stalins
Verbrechen. Zürich, S. 347.
(11) Chruschtschow wiederholte vor der tobenden Menge
den Schlußsatz aus dem Plädoyer des Staatsanwalts Wyschinski: „Ich
verlange, daß die tollwütigen Hunde erschossen werden – alle, ohne
Ausnahme!“
(12) Conquest, Robert (1990): Der große Terror. Sowjetunion 1934-1938. München 1992, S. 195.
(13) Solschenizyn, Alexander (1973-75): Der Archipel GULag. Bd. I-III. Bern, München, 1974-1976.
(14) Courtois, Stéphane, Nicolas Werth u. a. (1997):
Das Schwarzbuch des Kommunismus. Unterdrückung, Verbrechen und Terror.
München 1998.
(15) Renommierte Literaten (wie Lion Feuchtwanger, der
Augenzeuge des Prozesses von 1937 war, oder Heinrich Mann) verteidigten
die Moskauer Prozesse ebenso wie der Philosoph Ernst Bloch. Dessen
französischer Kollege Maurice Merleau-Ponty veröffentlichte noch zehn
Jahre später eine gewundene Apologie der antitrotzkistischen
Schwindelprozesse. In den siebziger Jahren wurden Wyschinskis
Prozeß-„Protokolle“ dann von maoistischen Gruppen nachgedruckt und
andächtig studiert. – Erst am Vorabend des Untergangs der KPdSU und der
Sowjetunion wurden 1988 die Urteile der Moskauer Prozesse aufgehoben
und die meisten Angeklagten rehabilitiert.
(16) Rayfield, Donald (2004): Stalin und seine Henker. München, S. 378.
(17) In Untersuchungshaft bot Pjatakow – um seine
Loyalität unter Beweis zu stellen – seinen Peinigern an, die
rechtskräftig Verurteilten (auch seine eigene Frau) eigenhändig zu
erschießen. Bucharin wiederum schlug Stalin vor, ihn zur Bewährung nach
Amerika zu schicken, um Trotzki „in die Fresse zu hauen“…
(18) Rayfield (2004), a. a. O. (Anm. 16), S. 382.
(19) Vgl. dazu Hodos, George Hermann (2001): Schauprozesse. Stalinistische Säuberungen in Osteuropa 1948-1954. Berlin.
(20) Vgl. dazu Trotzki (1939): „Das Zwillingsgestirn
Hitler-Stalin.“ (4. 12. 1939) In: Trotzki (2005): Sozialismus oder
Barbarei! Eine Auswahl aus seinen Schriften. (Hg. von H. Dahmer.) Wien,
S. 129-134.