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Über Amnesie und Amnestie. Die Hintergründe des Khmer Rouge-Tribunals in Kambodscha

Warum ein Prozess gegen die Roten Khmer, warum erst jetzt? Was sind die Hintergründe des Prozesses? Wer ist angeklagt, wer nicht? Um welche Verbrechen geht es überhaupt, und wie waren sie möglich? Was sollen westliche Linke heute vom Tribunal und dessen Inhalt, von der Geschichte der Roten Khmer also, überhaupt halten?

01.02.2007

Die Geschichte des Versuchs, den Khmer Rouge, zu deutsch Roten Khmer, den Prozess zu machen, ist beinahe so alt wie deren Geschichte selbst. Die Absurdität ist offensichtlich: für ihre Verbrechen brauchten die Roten Khmer, zynisch formuliert, nur 3 ½ Jahre – für den Versuch, sie vor Gericht zu stellen, braucht es mittlerweile beinahe 30 Jahre. Heute, Anfang 2007, scheint es wieder einmal soweit zu sein: der Beginn des Khmer Rouge-Tribunals wird mittlerweile mit April oder Juni 2007 angenommen.
    Dass sich ein Prozess, der die Worte „Genozid“ und „Holocaust“ im Munde führt, über Jahrzehnte hinziehen kann, sollte gerade in Österreich niemanden verwundern. Die Taktik gewisser Kreise ist universell anwendbar: „Aussitzen“ und „Gras über die Sache wachsen lassen“ lautet die erste Devise des Bürokraten. Man schmiede nationale Schulterschlüsse, rede vom berühmten Salz, das nicht in die Wunden gestreut werden solle, vom Öl, das man nicht ins Feuer gießen dürfe, reihe also beliebig viele altbackene Stehsätze aneinander, und warte ganz einfach ab, bis die Mehrheit der Opfer und TäterInnen physisch verschwindet. Dem Rest der TäterInnengruppe bleibt genug Zeit, ihre Vergangenheit zu vergessen. Die Generalamnesie dieser Menschen fällt zeitlich mit ihrer Generalamnestie zusammen.
Fanden sich – lässt man kurz die bedeutsamen Unterschiede der Regime beiseite – in Österreich und Deutschland Sozialdemokratische, Konservative und gar „Kommunistische“ Parteien, die den kleinen und vergesslichen MitläuferInnen netterweise ein Platzerl an der politischen Sonne anzubieten hatten, so finden sich in anderen Ländern eben prinzipienlose Monarchen und „KommunistInnen“ anderer Länder, die diese historische Aufgabe erledigen. Was in Deutschland und Österreich so gut funktioniert hat, klappt eben auch in Chile und Kambodscha. Heute, knapp 30 Jahre nach dem Ende der Khmer Rouge-Herrschaft, sind die meisten der damals führenden Persönlichkeiten entweder tot – oder eben ein wenig vergesslich.

Die Umstände des Prozesses

Doch die Stimmen gegen einen Prozess sind viele – und sie sind laut: Nicht nur Regierungen scheinen gewisse Probleme mit „Wahrheitsfindungen“ und „Vergangenheitsbewältigungen“ zu haben, sondern auch – allerdings aus durchaus anderen Motiven –große Teile der Bevölkerung Kambodschas. Der Grund dafür ist nicht schwer auszumachen: Wer aufmerksam aktuelle Zeitungen Kambodschas studiert, stößt unweigerlich auf die ganze Palette an sozialer Misere eines „normalen“ so genannten Entwicklungslandes… In den boomenden Textilfabriken sind mit 48$ im Monat Hungerlöhne und durchschnittlich 4 unbezahlte Überstunden pro Tag Gang und Gäbe – bei einer Normalarbeitszeit von 48 Stunden in der Woche (1). In den Ziegelfabriken Kinderarbeit die Regel [2]. 75% der arbeitenden Kinder arbeiten 7 Tage in der Woche, bei Unfällen wird im Normalfall nicht ein Cent Entschädigung bezahlt. Nur 26% der Kinder zwischen 13 und 15 Jahren gehen in die Schule, die LehrerInnen werden – bei einem staatlichen Einkommen von 40 US-Dollar im Monat – von den SchülerInnen bezahlt. Wer nicht bezahlen kann, fliegt durch [3]. Gleichzeitig ist das ländliche Kambodscha von bewaffneten Jugendbanden übersät. Zu ihrer Ausstattung gehören laut Polizei „Samuraischwerte, Steine, Macheten, automatische Waffen und kleine Waffen“[4]. Nur eineR von 9 AbsolventInnen – von derzeit insgesamt 8.000 SchülerInnen in der höheren Bildung – findet Arbeit. Die Arbeitslosigkeit wird auf bis zu 50% geschätzt [5] Das AIDS-Problem ist enorm; Pädophilie breitet sich aus: 2005 wurden – laut kambodschanischem Innenministerium – 665 sexuelle Übergriffe gegen Kinder gemeldet. [6]
Die Schaffung neuer Fabriken in den Städten bedingt die Schaffung eines Proletariats, also vogelfreier Menschen, die bekanntlich nichts mehr zu verkaufen haben, als ihre Arbeitskraft. Der zugehörige soziale Prozess liest sich wie die Marxsche Beschreibung der so genannten „Landflucht“, d.h. Landvertreibung, in England oder Irland: der Staat erklärt einfach ein Stück Land, auf dem z.B. 100 Familien leben, zu „public state land“, das nicht privat genutzt werden darf. [7] Der Grund: es ist wertvoll, da in guter Lage. Danach wird es an private Unternehmen verkauft. Frau Pech Phy steht beispielsweise eines Morgens vor Bulldozern und Polizei, die sie ohne vorherige Warnung zwingen, das Haus zu räumen, und wird in ein Umsiedlungslager gebracht, wo sie knöcheltief im dreckigen Wasser lebt. „Die Polizei behandelte mich wie unter Pol Pot“[8]. Manchmal macht sich der Staat gar keine Mühe und verkauft das Land einfach mitsamt seinen BewohnerInnen an private Unternehmen, die dann die Vertreibung selbst vornehmen. „Die letzten Vertreibungen in Phnom Penh waren keine Fälle, in denen die Regierung Leute von Staatsland vertrieb – es sind Unternehmen, die Besetzer [squatters] von privatem Land vertreiben“. Deren Vorgehen verursacht Ärger in der Bevölkerung. Der 44-jährige Bewohner eines kleinen Dorfes, Tan Phally: „Letztes Monat gossen sie [das Unternehmen nebenan – AK] Sand auf das Grundstück eines Dorfbewohners – der Dorfbewohner beschwerte sich und das Privatunternehmen rief die Polizei (…). Aber wir gingen alle in einer großen Gruppe hinaus, sodass sich die Polizei und das Unternehmen schnell zurückzogen. Wir leben gerne hier – wir werden protestieren, wenn sie versuchen, unser Land zu nehmen“[9]. Derartige Beschreibungen könnte man seitenlang fortsetzen: und es ist wohl kaum eine Übertreibung zu sagen, dass sich weite Teile Kambodschas im Bürgerkrieg befinden – im Bürgerkrieg von oben.
Für Viele steht daher die Frage im Raum, was ein Prozess gegen die Khmer Rouge an ihrem täglichen Leben im Hier und Jetzt ändern sollte. Wem nutzt der Prozess, wer will ihn überhaupt? Diese komplizierte Frage lohnt schon aufgrund der diversen verwunderlichen Verwicklungen allein einen genaueren Blick auf das Tribunal…

„Don’t blame me, it was my prime-minister“

Um sich ein erstes Bild von den ProtagonistInnen des kambodschanischen Dramas machen zu können, die in den 70er-Jahern in schwarzen Pyjamas und Flip-Flops so manche Gazette zierten, sei im Folgenden ein kurzer Überblick über deren Biografien gegeben [10].
Pol Pot selbst, Generalsekretär der Kommunistischen Partei Kampucheas, muss 1998 ins Gras beißen, und das nicht ganz freiwillig. Der selbst ernannte Bruder Nummer 1, der sich bezeichnenderweise auch gern „Big Brother“ nennt, ist mit der Zeit immer mehr allein geblieben. Seine Jünger wenden sich mehr und mehr von ihm ab. Im September 1996 ergibt sich eine der Schlüsselfiguren der Khmer Rouge: Ieng Sary, Außenminister und Bruder Nummer 3 in der Khmer Rouge-Hierarchie, nimmt das Amnestie-Angebot des kambodschanischen Staates an. „Ich bedaure nichts, weil das nicht meine Verantwortung war“, meint er in seinem „Austrittsschreiben“ [11]. „In seiner dreijährigen (…) Diktatur traf Pol Pot alle Entscheidungen in allen Fragen selbst, tötete Menschen, ohne reiflicher Abwägung“[12]. Fazit: Don’t blame me, it was my prime minister… Auch die anderen „Brüder“ des Clans drohen nach und nach wegzubrechen: der ehemalige Präsident des Demokratischen Kampuchea, Khieu Samphan, ebenso wie Bruder Nummer 2, Nuon Chea. Alle drei leben heute unbescholten in ihren Villen. Pol Pot will diese vorhersehbare Entwicklung 1997 noch verhindern, und greift einmal mehr zum Terror. Als Son Sen, Verteidigungsminister und Geheimdienstchef in der Khmer Rouge-Periode, und seine Frau Yun Yat 1997 öffentlich über die Kapitulation nachdenken, lässt Pol Pot sie kurzerhand ermorden. Doch dies ist zugleich sein eigenes Todesurteil: Ta Mok, dazumals Oberster Militärführer des Südwestens und Oberster Pol Pot-Unterstützer, und in Kambodscha heute unter dem Beinamen „Der Schlächter“ bekannt [13], setzt der Figur Pol Pot endgültig ein Ende – offiziell stirbt er am 15.4.1998 an einem „Herzinfarkt“. Das Spiel ist aus: Ta Mok wird von der kambodschanischen Armee verhaftet (er stirbt im Sommer 2006), die Khmer Rouge sind politisch tot. Diejenigen, die nicht physisch tot sind oder amnesierte Amnestierte wurden, blieben Jahre lang unbemerkt im Verborgenen. So zum Beispiel „Genosse Deuch“, Chef des Geheimdienstes Santebal und Leiter des Foltergefängnisses Toul Sleng: Der britische Fotograf Nic Dunlop entdeckt ihn, bekleidet mit einem T-Shirt des American Refugee Committees [14], als Mr. Hang Pin offen im Nordwesten des Landes herumspazierend. Später auf seine Vergangenheit angesprochen, wird er erklären, dass ihm die Vergangenheit zwar leid tue, er allerdings nun als Christ wiedergeboren worden und daher nicht für die Morde verantwortlich sei [15].
Soweit also das Ende der Geschichte der Hauptpersonen. Wem von den noch Lebenden überhaupt der Prozess gemacht wird, steht derzeit nicht fest. Gemunkelt wird, dass der Kreis derer, die an irgendwelchen handfesten Verbrechen beteiligt waren, bis in die höchsten Reihen der noch heute regierenden Schicht von Ex-KommunistInnen und Post-KommunistInnen hineinreicht [16]. Aus diesem Grund verblüfft es auch kaum, dass sich der Prozess nun schon länger hinzieht. Immer wieder und urplötzlich werden beispielsweise die Finanzmittel für den Prozess knapp – und dies nicht nur von Seiten der kambodschanischen, sondern auch von Seiten der US-Regierung, deren Interesse an einem Prozess trotz der Umbrüche von 1989 stets gedämpft blieb. Für unfähige RichterInnen, so der US-Botschafter in Kambodscha, Joseph Mussomeli, wolle er kein amerikanisches Steuergeld verschwenden: „Ich glaube fest, dass kein Prozess besser ist als eine Farce“[17]. Dass der Prozess zur Farce wird, ist eine durchaus reale Möglichkeit. Aus dem Munde des US-Botschafters klingt es allerdings fast so, als würde es vielmehr darum gehen, den Prozess an sich zu blockieren. Findet der Prozess also gegen den Druck einflussreicher Kräfte, der Regierungen der USA und Kambodschas, statt? Wie ist das möglich? Warum blockierten die USA den Prozess gegen vermeintliche „KommunistInnen“ jahrzehntelang? Wie erklärt sich dieses Paradoxon?

Die Anklage: Genozid

In der heutigen Debatte wenig beachtet und scheinbar wenig bekannt ist allerdings, dass ein Tribunal zur Aufdeckung der Verbrechen in der Khmer Rouge-Periode bereits stattgefunden hat: Im August 1979 wurden Pol Pot und Ieng Sary, nachdem das Khmer Rouge-Regime im Jänner 1979 von vietnamesischen Truppen an die thailändische Grenze verbannt wurde, in ihrer Abwesenheit zum Tode verurteilt. Das Tribunal trug den offiziellen Titel:
People’s Republic of Kampuchea
Independence – Peace – Happiness
Revolutionary People’s Tribunal at Phnom Penh
to try the Pol Pot-Ieng Sary Clique
for the Crime of Genocide [18]

Der Prozess ging im Hinblick auf gesammeltes Material beträchtlich in die Breite, aber auch in die Tiefe [19]. Der Zweck der Übung dürfte allerdings klar sein: es ging hier nicht wirklich um die juristische Überführung nach Artikel 2 der „Genocide Convention“. Diesem Artikel zufolge dürfte es juristisch nicht schwer sein, die Khmer Rouge des Völkermords zu überführen. Der Wortlaut im Detail:

„In dieser Konvention Bedeutet Völkermord eine der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz teilweise zu zerstören:
(a) Tötung von Mitgliedern der Gruppe;
(b) Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe;
(c) vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen;
(d) Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind;
(e) gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe.“[20]

Breit ausgelegt dürfte dieser Gummiparagraf auf so ziemlich jede 0815-Militärdiktatur dieser Welt zutreffen. Vietnam wollte aber nicht oder nicht nur die juristische, sondern natürlich politische Verurteilung Democratic Kampucheas: es ging darum, sich vom „Kommunismus“ der Roten Khmer zu distanzieren, indem man das Regime als faschistisch zu diffamiert versuchte – das Pol Pot-Regime wurde beschrieben als „diktatorisches, militärisches und faschistisches Regime, das in seiner Grausamkeit in der Geschichte unübertroffen“ ist (Deklaration der Kampuchea National United Front For National Salvation [21]). Im Prozess passierte der Vergleich mit dem Faschismus über den Begriff Genozid.
Interessanterweise griffen Vietnam bzw. die von Vietnam gestützte People’s Republic of Kampuchea in der Folge auf Argumentationsmuster der amerikanischen und internationalen Rechten zurück, die seit 1975 jeden Flüchtlingsbericht aus Kampuchea als Beweis der Blutrünstigkeit des Kommunismus an sich ansahen. Noch während sich breite Teile der westlichen, natürlich vor allem maoistischen, Linken und westlicher VietnamkriegsgegnerInnen wie Noam Chomsky in der Entlarvung „bürgerlicher Propaganda“ übten und Berichte über Khmer Rouge-Massaker in Grund und Boden leugneten, stürzte sich die neuen kommunistische Regierung Kambodscha also ins heitere Zahlenproduzieren und veröffentlichte Opferzahlen des Khmer Rouge-Regimes, die weit über der kühnsten Behauptung westlicher Anti-KommunistInnen lag: 3,3 Millionen Menschen seien der Blutrünstigkeit der „faschistischen Pol Pot/Ieng-Sary-Clique“ zum Opfer gefallen. Im Faschismusvergleich trafen sich also eifrige ostblöckische Schreiberlinge mit wütenden westlichen AntikommunistInnen. „Faschismus“, vor allem aber Konzentrationslager [22] oder Holocaust [23] sind noch heute feste Bestandteile jenes seit damals bestehenden diskursiven Einheitsbreis, in dem sich rechts und links überschnitten.
Die USA und die UNO konnten sich aber mit der neuen vietnamesischen Wende nicht anfreunden. Der Prozess von 1979 wurde international ebenso wenig anerkannt wie der zugehörige Staat: die UNO hatte ein gewisses Problem mit der „Peoples Republic of Kampuchea“, die nach dem Einmarsch vietnamesischer Truppen in Kambodscha 1979 auf den Thron gehievt wurde, und verblieb lieber dabei, „Democratic Kampuchea“ – sprich: Pol Pot – als legitimen Vertreter des „kambodschanischen Volkes“ anzuerkennen. Man sieht bereits: die Geschichte ist verzwickt, voller Verwinklungen, Ecken und Kanten, die das Ausmessen des Raumes und das Abzählen seiner Quadratmeter wie immer so kompliziert machen. Dieser kleinen diplomatischen Peinlichkeit dürfte es geschuldet sein, dass die USA ein gewisses Problem mit Tribunalen über die Khmer Rouge behielten – denn deren Geschichte endete eben nicht mit dem vietnamesischen Einmarsch 1979. Die Roten Khmer existierten vielmehr fort: in Maßanzügen in New York ebenso wie in Tarnanzügen im thailändisch-kambodschanischen Grenzgebiet; beide wurden aus UNO-Mitteln finanziert. Die Verpflegung wurde aus internationalen Geldern für „Flüchtlingshilfe“ bereit gestellt. Schließlich hatten die Roten Khmer doch noch ihre Berufung gefunden: die Dominosteine der freien Welt vor den Roten Gelben zu beschützen…
Der Begriff Genozid blieb jedenfalls bis heute vor allem im wissenschaftlichen Diskurs das Fazit zu Diskussionen über den Charakter des Khmer Rouge-Regimes [24]. Die Frage drängt sich nun geradezu auf, was der politische oder auch nur wissenschaftliche Nutzen eines derartigen Begriffes sein kann. War es wirklich Genozid im ursprünglichen und nicht-juristischen Sinne des Wortes – sprich: Völkermord, der hier passierte? Was sagt das über den Charakter des Regimes; die Motive, die Dynamik, die gesellschaftlichen Ursachen? Meines Erachtens nicht viel: es ging nicht – zumindest nicht anfangs – darum, andere „Volksgruppen“ auszuschalten. Das war schlicht und ergreifend nicht der „Masterplan“. In Frankreich gestand man sich diesen Umstand auch ein, und schrieb – auf Basis der Tatsache, dass nicht nur Minderheiten in Kambodscha dahinstarben, sondern auch die ethnische Mehrheit der Khmer – von „Auto-Genozid“ (Jean Lacouture). Hier wird die Sache nur mehr absurd: was bitteschön sind die Ursachen eines „Selbst-Völkermords“? Kurz: Das Phänomen Khmer Rouge müsste anders erklärt werden denn mit alten oder unpassenden Labels wie Genozid oder Holocaust.

Pols Plot: Einmal Revolution und zurück … [25]

Wer sich mit der Geschichte Kambodschas oder des Vietnamkriegs generell beschäftigt, kann gar nicht anders, als den „Massencharakter“ der Ereignisse festzustellen. Was in Vietnam, Laos und Kambodscha in den späten 60er- und 70er-Jahren stattfand, war mit einem Wort: eine Revolution. Kambodscha wird dabei oft als Sideshow behandelt [26], als Anhängsel, das nur im Zuge des Vietnamkrieges radikalisiert wurde. Hätten die Viet Minh, dieser Sicht zufolge, in Kambodscha nicht militärisch operiert, wäre das Land jener Mythos geblieben, den konservative JournalistInnen so gerne konstruierten: Phnom Penh als „Stadt der Beschaulichkeit und Ordentlichkeit, eine Stadt von sanftmütigen, lachenden Leuten, eine Stadt von eindrucksvollen Frauen und guter Küche, eine Stadt von leichten Tagen und reizenden Nächten“[27]. Doch diese Version hat einen kleinen Schönheitsfehler: sie klammert gerne aus, dass sich der Viet Minh nicht unbedingt freiwillig bis tief nach Kambodscha zurückzog, sondern von der US-Luftwaffe dorthin getrieben wurde: Insgesamt wurden knapp 3 Millionen Tonnen Bomben auf ein Land abgeworfen, das offiziell gar nicht am „Vietnamkrieg“ teilnahm. „Um 2.756.941 Tonnen ins rechte Licht zu rücken: die Alliierten warfen im ganzen Zweiten Weltkrieg knapp über 2 Millionen Tonnen Bomben ab. Kambodscha könnte insofern das am stärksten bombardierte Land in der Geschichte sein“[28]. Die psychologischen Schäden derartiger Aktionen dürften offensichtlich sein. Truong Nhu Tang, Funktionär der „Nationalen Befreiungsfront“ in Vietnam, über die B-52-Angriffe: „Man verlor die Kontrolle über die Körperfunktionen, während das Gehirn unbegreifliche Befehle schrie, abzuhauen“[29]. Und es ist nicht nur dieser Kriegszusammenhang, der in Kambodscha für soziale „Unruhe“ sorgte: Der Anteil der landbesitzenden BäuerInnen sank binnen weniger Jahre rapide ab, die Verschuldung nahm gleichzeitig enorm zu. Die kambodschanische Bevölkerung lebte also mit unbezahlbaren Schulden auf einem kleinen Stück Land, das bald nicht mehr ihres zu sein drohte, und wurde von einer unsichtbaren Supermacht in Grund und Boden bombardiert.
Aus Gründen wie diesen, und nicht aus einem ominösen blinden Gehorsam gegenüber vietnamesischen Guerilleros – und das in einem Land, dem so oft und so gerne die „historische Feindseligkeit“ zu Vietnam zugeschrieben wird – kam es in Kambodscha zum Aufstand. Und: es kam zu spontanen Revolten, die selbst die kambodschanischen KommunistInnen am falschen Fuß erwischten, sprich keineswegs von diesen organisiert wurden [30]. Dass so etwas wie Sozialismus in Kambodscha in den 70ern allgemein in der Luft lag, ist schon allein dadurch ersichtlich, dass sich nicht nur die Roten Khmer, sondern auch der regierende Monarch Sihanouk gezwungen sah, seine politische Gruppierung als buddhistischen Sozialismus zu bezeichnen [31]
Der Bürgerkrieg zwischen der kommunistischen Guerilla, die der regierende Monarch Sihanouk als „Khmer Rouge“ bezeichnete, und der kambodschanischen Regierung begann 1968, erreichte aber erst ab 1970 eine Ausdehnung, die die gesamte Ökonomie des Landes zu vernichten drohte. Die Khmer Rouge hatten zu dieser Zeit bereits weite Landstriche unter ihre Kontrolle gebracht [32]. Als am 17. April 1975 Phnom Penh fällt, liegt das Land buchstäblich in Schutt und Asche. Die Khmer Rouge hatten den Krieg gewonnen, doch der Preis war hoch. Ohne irgend eine Form von internationaler Zusammenarbeit oder Hilfe konnte von ökonomischer Konsolidierung, geschweige denn „Sozialismus“, keine Rede sein. Doch die Führung der Roten Khmer schlug einen anderen Weg ein: man verkündete die Politik der Autarkie („self-reliance“ bzw. „self-sufficiency“) und lehnte jede internationale Hilfe ab. Thailändische Hilfe wurde zurückgewiesen, auf japanischen Versuche, diplomatische Beziehungen herzustellen, geantwortet, man werde erst in 200 Jahren an Japan herantreten, für chinesische Hilfe (die bald nicht mehr in Form von Reis, sondern in Form von Waffen ankommen sollte), wurde teuer bezahlt; Vietnam wurde politische Schwäche vorgeworfen, weil man dort international „um Almosen bettle“. Die Reaktion mag verständlich erscheinen, doch sie ist vor allem eines: falscher Stolz. Eine Form von Stolz, den sich Kambodscha 1975 ganz einfach nicht leisten konnte. Autarkie, sprich: die alte „Theorie“ vom Sozialismus in einem Lande, im Falle Kambodschas – und letztlich nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts nicht nur im Falle Kambodschas – schlicht absurd.
Die Khmer Rouge-Führung ahnte das bis zu einem gewissen Grad sogar selbst. Die politischen Maßnahmen, die nach 1975 getroffen wurden, waren grausam und verkehrt – doch sie waren nicht von langer Hand geplant. Sie entsprangen nicht einfach irgendwelchen Theorien oder irgendeiner ominösen Ideologie – schon gar nicht Marxens und Engels Schriften – sondern waren Reaktionen auf die politische und ökonomische Krise des Landes. Eine der bekanntesten und drastischsten Maßnahmen war die vollständige „Evakuierung“ mehrere Städte, auf deutsch die Zwangsumsiedlung der StädterInnen aufs Land. Millionen Menschen egal welchen Berufs (darunter eben auch Hunderttausende FabrikarbeiterInnen) wurden auf das ganze Land verteilt, in Kooperativen organisiert und in der Reisproduktion eingesetzt. Die seit Stalin bekannte Etappentheorie lautete: erst die Landwirtschaft reorganisieren, dann die Industrie aufbauen. Das Regime hatte insofern auch nichts mit dem oft und fälschlicherweise zugeschriebenen Etikett „Steinzeitkommunismus“ zu tun: Ziel war keineswegs das Zurückkatapultieren der Gesellschaft in die Steinzeit (auch wenn es so ungefähr das Ergebnis war). Wie auch immer: Das Ergebnis in einer Überschlagsbilanz: die Opferzahlen schwanken zwischen 700.000 (in der konservativsten Schätzung) und 3,3 Millionen Toten – bei 7-8 Millionen EinwohnerInnen. Die meisten sterben an Hunger oder Seuchen; Hinrichtungen und innerparteiliche Säuberungen forderten den Rest. Massaker und Überfälle auf Dörfer in Thailand, Laos und Vietnam, Abschaffung des Schulwesens, medizinische Unterversorgung in den meisten Teilen des Landes, ein Arbeitspensum von üblicherweise 12 Stunden, teilweise sogar bis zu 16 Stunden pro Tag, keine Möglichkeit, sich frei in andere Städte zu begeben, keine Telekommunikation (kein Postwesen, kein Telefon, kein Fernsehen), mit der abrupten Abschaffung von Markt und Geld die Abschaffung jedes „Luxusartikels“ wie Schminke und Sonnenbrillen usw. usf.
Kein Regime der Welt kann sich durch Terror allein an der Macht halten. Die Herrschaft der Khmer Rouge dauerte insofern keine 4 Jahre. Am 17. April 1975 waren sie, den allermeisten Berichten zufolge, in allen Städten des Landes von jubelnden Mengen empfangen worden. Als die vietnamesischen Truppen im Dezember 1978 in Kambodscha einmarschieren, werden auch sie als Befreier wahrgenommen. Der Einmarsch selbst dauert keine drei Wochen. Die vietnamesischen Truppen knacken das Kambodscha der Khmer Rouge wie eine hohle Nuss: „die Zerstörung war so groß, dass die Schale/Muschel [shell] leer war, als die Vietnamesen kamen, um sie zu knacken“[33].

Der Tumor und sein Doktor:

Zusammenfassend könnte man folgendes festhalten: Das Regime des Demokratischen Kampuchea war eine einzige Katastrophe. Eine „Aufarbeitung“ dieser Geschichte, gerade auch von Seiten der Linken, ist absolut notwendig. In Abwandlung des berühmten Che Guevara-Satzes – „Wenn der Sozialismus keinen neuen Menschen schafft, dann hat er keinen Sinn“ – müsste man in Bezug auf das „Demokratische Kampuchea“ der Khmer Rouge sagen: Wenn der Sozialismus diesen neuen Menschen schafft, dann hört sich alles auf... Aus heutiger Perspektive lässt sich an der Brutalität und Grausamkeit dieses Regimes unter der roten Fahne nichts mehr schön reden – oder sollte sich zumindest nichts mehr schön reden lassen. Heute kann es einzig und allein um die Frage gehen: wie kann es überhaupt sein, dass ein derart großer Scheißdreck herauskommt. Wenn nun sozusagen am Anfang eine Massenbewegung gegen Krieg und soziale Misere steht, und am Ende nur Scheiße dabei herauskommt, dann steht dazwischen auf jeden Fall – Degeneration. Der Blick in den großen Brockhaus zeigt, dass der Begriff der Medizin entstammt, und hier „Umwandlung des gutartigen Gewebes in einen Tumor“ bedeutet. Bei aller Vorsicht bei der Umlegung medizinischer Begriffen auf die Lehre von der Gesellschaft: Wir dürfen und können nicht warten, bis uns der gute Onkel Doktor den Tumor wegschneidet. Nein: Wir müssen uns das Geschwür schon selbst behandeln…
Eine Aufarbeitung ist also in jeder Hinsicht notwendig. Doch genau das ist der Punkt: ein Tribunal wird diese Aufarbeitung nicht versuchen wollen oder können. Hier wird die Frage, wie und warum das alles passiert ist, auf juristische Klassifikationen überführt; hier werden einzelne Verantwortliche vor Gericht gestellt, das gesellschaftliche Phänomen Khmer Rouge also personifiziert. Und vor allem: Es werden nie und nimmer alle vor Gericht stehen, die an der ganzen Sache Schuld sind. Und damit sind nicht nur „alle Khmer Rouge-Offiziere“ gemeint. Was, bitteschön, ist mit der Vor- und Nachgeschichte der Khmer Rouge? Warum stehen die VerbrecherInnen des Vorgängerregimes der Khmer Rouge nicht vor Gericht; warum nicht deren Verbündete – die USA? Warum bleiben Prinzen deren Sprösslinge unbehelligt, und warum stiehlt sich China aus jeder Verantwortung? Warum macht die UNO keine Selbstkritikseminare? Denn dass die gesamte internationale „Community“ gehörigen Dreck am Stecken hat, kann nicht geleugnet werden: Kambodscha war, und ist noch heute, ein Schlachtfeld internationaler und multinationaler Interessen, auf dem Kämpfe ausgetragen werden, die noch niemals vor irgendeinem Tribunal dieser Welt verantwortet werden mussten.
Abschließend noch ein Beispiel dieses Umstands, der keiner weiteren Erklärung bedarf: Ein Auszug aus einer Unterhaltung zwischen Nixon und Kissinger vom 9.12.1970 [34]:
P: There are other methods of getting intelligence than simply flying.
They’ve got the methods of the Cambodians to talk to and a hell of a lot of
other people and I don’t think they have done enough there. The second
thing is as I have put on here now I want you to get ahold of Moorer tonight
and I want a plan where every goddamn thing that can fly goes into Cambodia
and hits every target that i s open.
K: Right
P: That's to be done tomorrow. Tomorrow. 1s that clear?
K: That is right.
P: I want this done. Now that is one thing that can turn this around some.
They are running these goddamn milk runs in order to get the air medal. You
know what they are doing Henry. It’s horrible what the Air Force is doing.
They aren’t doing anything at all worth a damn.
K: They are not imaginative.
>P: Well, their not only not imaginative but they are just running these things -
bombing jungles. You know that. They have got to go in there and I mean
really go in. I don’t want the gunships, I want the helicopter ships. I want
everything that can fly to go in there and crack the hell out of them. There is
no limitation on mileage and there is no limitation on budget. 1s that clear?

Kissinger gibt den Befehl 5 Minuten später an General Haig weiter. Das Protokoll dieser Unterhaltung [35]:
K: Two, he wants a massive bombing campaign in Cambodia. He doesn’t
want to hear anything. It’s an order, it’s to be done. Anything that flys on
anything that moves. You got that?
H: (Couldn’t hear but sounded like Haig laughing.)