Tunesien, Ägypten, Libyen: Abgang der Potentaten
Helmut Dahmer
Um die Zukunft Tunesiens, Ägyptens oder Libyens braucht niemand zu bangen. Auf den Freiheitsplätzen, den neuen Foren der großen Städte, haben Hunderttausende Zwanzig- bis Vierzigjährige einen Schnellkurs in Selbstverwaltung und Selbstverteidigung durchlaufen, und unter ihnen befinden sich Hunderte und Tausende, die weitaus besser imstande sind, ihr Land zu regieren, als die aschgrauen Mumien und Sybariten, Schreckensmänner und Exzentriker von gestern.
02.03.2011
Im Abgehen erscheinen sie ein letztes Mal auf dem Fernsehschirm vor dem nationalen und internationalen Publikum, monologisierend, wie sie es seit Jahrzehnten gewohnt sind. Diese letzten Auftritte ähneln einander, ob es sich um Ben Ali, den tunesischen Autokraten, um Mubarak, den behäbigen Möchtegern-Pharao, oder um Gaddafi, den Phantasten aus Libyen handelt. Noch einmal scheinen sie alle sich selbst zu doubeln, verwechseln sich mit der Nation und deren Schicksal, beschwören ihr System von „Ruhe und Ordnung“ und warnen vor dem „Chaos“, das sie selbst herbeigeführt haben – nämlich vor der Volksbewegung, die sie beiseite fegt. Eingesponnen in einen Kokon der Macht, erhalten sie Informationen aus der Gesellschaft seit langem nur durch den selektiven, verzerrenden Filter ihrer Geheimdienste und verkehren mit der Bevölkerung des Landes über Lautsprecher und TV-Stationen. Ihre Verlautbarungen in letzter Stunde sind bizarr, als lebten sie schon seit Wochen eingeschlossen in einem unterirdischen Bunker. Sie verstehen die Welt nicht mehr, nämlich das Versiegen jener Ressource, die für Herrscher aller Couleur unverzichtbar ist. Deren Macht resultiert ja in letzter Instanz nicht aus der Verfügung über Goldbarren und Fernsehsender, Raketenbatterien und Tiefflieger, sondern aus der (wie immer erworbenen und aufrechterhaltenen) Loyalität der Bevölkerungsmehrheit – aus der auch „ihre“ Armee sich rekrutiert. Auf den großen Plätzen der Städte, den Foren der neuartigen republikanischen Volksbewegung, ertönt wieder und wieder der Ruf „Haut ab!“ Das ist der kleinste gemeinsame Nenner, die Forderung, die die Demonstranten der von Unruhe erfaßten arabischen Länder eint – tief verschleierte und „westlich“ gekleidete Frauen, Fromme und Säkulare, Analphabeten und Akademiker, Soldaten und Zivilisten… Die „unten“ wollen nicht mehr, und darum können die „oben“ nicht mehr weiter wie bisher. Freilich versuchen sie alle zu filibustern, Zeit zu schinden, Reformen zu versprechen, notfalls ihre Vertrauten oder ihre Söhne vorzuschieben. Und sie verfügen über Hilfstruppen, über die Geheimpolizisten, die nichts anderes gelernt haben als zu überwachen, zu verhaften, zu foltern und zu liquidieren, und über Söldnertruppen, die für ein gutes Salär über Leichen gehen. Darum reißen die Mächtigen so viele Menschen mit in ihren Untergang, wie sie können. Der blutige Abschied der arabischen Langzeitherrscher ruft in vielen Ländern die Erinnerung an ähnliche Bilder aus ihrer Vergangenheit wach. In Deutschland sind es die lange zurückliegenden letzten Auftritte Wilhelms II. (oder Hitlers), und in Perú wird man sich vielleicht der Bilder des Flüchtlingsduos Montesinos-Fujimori aus dem September 2000 erinnern.
Um die Zukunft Tunesiens, Ägyptens oder Libyens braucht niemand zu bangen. Auf den Freiheitsplätzen, den neuen Foren der großen Städte, haben Hunderttausende Zwanzig- bis Vierzigjährige einen Schnellkurs in Selbstverwaltung und Selbstverteidigung durchlaufen, und unter ihnen befinden sich Hunderte und Tausende, die weitaus besser imstande sind, ihr Land zu regieren, als die aschgrauen Mumien und Sybariten, Schreckensmänner und Exzentriker von gestern. Von einer neuen „Führung“ und einer neuen „Verfassung“ erwarten die in Bewegung geratenen Volksmassen freilich vor allem eine Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse, nicht nur Versammlungs- und Redefreiheit, sondern Arbeit und Brot. Und die Kontrolle über die nationalen Reichtümer wird für sie schwerer zu erringen sein als die Befreiung von ihren Tyrannen.