Tschernobyl: 20 Jahre danach
Karl Lindt
Am 26. April 1986 ereignete sich in Tschernobyl der bisher schwerste atomare Unfall in der Geschichte der „zivilen“ Nutzung der Atomkraft. 20 Jahre danach, scheint die Atomindustrie wieder in die Offensive zu gehen.
24.04.2007
Im ukrainischen Reaktor Tschernobyl passierte 1986 das, was nach den
Verlautbarungen der Atomwirtschaft und großer Kreise der herrschenden
Politik in Ost und West eigentlich nie passieren konnte. Der Super-GAU
(GAU = größter anzunehmender Unfall) verseuchte binnen weniger Tage
halb Europa.
Was war passiert?
Als Ursache des Super-GAUs in Tschernobyl werden im Allgemeinen
die bauartbedingten Eigenheiten des Reaktors angesehen. Der
Tschernobyl-Reaktor gehört zu der sog. RBMK-Baulinie (russische
Abkürzung für reaktor bolshoi moshnosty kanalny, in etwa
Hochleistungs-Reaktor mit Kanälen). Diese bauartbedingten Eigenheiten
führten im Zusammenspiel mit schweren Bedienungsfehlern der
Verantwortlichen im Reaktor zu der Katastrophe. Sie schalteten zu
Versuchszwecken einen Großteil der Sicherungssysteme ab und
missachteten die Prozeduren, die eigentlich für den sicheren Betrieb
der Anlage unabdingbar waren.
Da das Notkühlsystem eines jeden Reaktors von externer Stromzufuhr
abhängig ist, sollte durch den Versuch festgestellt werden, ob bei
einem totalen Stromausfall bis zum Anspringen der Notstromaggregate
(ca. 40–60 Sekunden) der Reaktor noch unter Kontrolle gehalten und
anschließend heruntergefahren werden kann. Durch vorangegangene Fehler
im Versuch wurde die Leistung des Reaktors nicht wie geplant abgesengt,
sondern um das hundertfache des Nennwertes gesteigert. Durch die
Überhitzung des Reaktors verformten sich die Kanäle der Regelstäbe im
Reaktorkern. Der Reaktorkern war somit nicht mehr zu kontrollieren.
Durch chemische Reaktion bildete sich eine große Menge Knallgas was zur
Explosion des Reaktors führte. Zwei Wochen nach Unfallbeginn war der
havarierte Reaktor so weit unter Kontrolle gebracht worden, dass
weitere Explosionen bzw. ein Durchschmelzen des heißen Kerns in den
Erdboden auszuschließen waren. Der Reaktor wurde, um ihn von der
Atmosphäre so gut wie möglich abzuschirmen in einen Betonsarg gehüllt.
Nach dem offiziellen Unfallbericht wurden „nur“ ca. 3% des
hochradioaktiven Inventars bei der Katastrophe freigesetzt. Die
Katastrophe hätte also leicht noch größere Ausmaße annehmen können.
Die Folgen der Reaktorkatastrophe
Im Umkreis von etwa 250 km um den Reaktor wurden eine akute radioaktive
Verseuchung beobachtet. Über 120.000 Menschen mussten evakuiert werden.
In den ersten Monaten nach dem Unfall starben über 30 Menschen an
akuten Strahlenschäden. Etwa eine Million junger, oft
zwangsrekrutierter SoldatInnen und ArbeiterInnen haben sich bei den
Entseuchungs- und Aufräumarbeiten am Sarkophag und in der
30-km-Sperrzone, die sich bis 1987 hinzogen, hohen Strahlenbelastungen
ausgesetzt. 150.000 von ihnen, die direkt am Unfallreaktor arbeiteten,
haben besonders hohe Strahlung abbekommen.
Insgesamt gingen von der Ausgestoßenen Menge radioaktiven Materials
zwei Drittel über der Ukraine nieder. Noch heute gelten 21% des
zweitgrößten Flächenstaates Europas als atomar verseuchtes Gebiet. Nach
offiziellen Angaben des Ukrainischen Gesundheitsministeriums haben
heute 2,4 Millionen UkrainerInnen an der radioaktiven Verstrahlung zu
leiden, darunter 428.000 Kinder. Um die Folgen der Katastrophe zu
lindern, bringt der Ukrainische Staat jährlich fünf bis sechs Prozent
seines Staatshaushaltes auf. Dass dies nur ein Tropfen auf dem heißen
Stein ist, zeigen u.a. die durch die Reaktorkatastrophe enorm
gestiegene Anzahl von missgebildeten Kindern, die hohe Fehlgeburtenrate
und der enorme Anstieg von Krebsfällen in der Ukraine und in
benachbarten Regionen.
Sowjetsystem schuld am Super-Gau?
Für die westdeutsche Atomindustrie und die damalige Regierung der BRD
war es sofort nach der Katastrophe klar, wer der Schuldige ist. Die
schlechte Sicherheitstechnik der „Russen” und das Sowjetsystem im
allgemeinen hätten zu dem Unfall geführt. In westdeutschen AKWs wäre so
etwas nie möglich. Interessant dabei ist nur, dass die Atomwirtschaft
in der BRD vor Tschernobyl noch ganz anders über die Sicherheit
russischer AKWs redete. So hatte sich noch 1983 das Atomfachblatt
„atomwirtschaft“ positiv über die „sehr hohe Verlässlichkeit” des
Reaktors in Tschernobyl geäußert. Zu dieser Zeit wurde die Sowjetunion
in Bereichen der Sicherheitstechnik als weltweit führend anerkannt.
Sowjetische Sicherheitstechniken wurden oft auch im „Westen“ übernommen
(vgl. „Tscherno-Wyhl ist überall“ isp-Verlag). Die Atom-LobbyistInnen
reden auch bis heute immer noch gerne davon, dass der Unfall von
Tschernobyl sich in deutschen AKWs nicht wiederholen kann, da sie ganz
anderer Bauart sind und dementsprechend die oben erwähnten Eigenheiten
dieser Reaktorlinie gar nicht besitzen. Das ist zwar richtig, aber den
Opfern eines Reaktorunfalls dürfte es relativ egal sein, ob die
radioaktive Wolke, die sie umbringt, durch eine wild gewordene
Kettenreaktion sowjetischen Ursprunges verursacht wurde, oder durch
eine andere Ursache, wie sie in Deutschland möglich ist. Denn auch die
Reaktoren „westlicher“ Bauart haben ihre ganz besonderen Eigenheiten.
Reaktorkatastrophe auch in Deutschland möglich!
So entstünden z.B. heftige Explosionen von Wasserstoffgas, wenn es in
deutschen Leichtwasserreaktoren zu einer Kernschmelze kommen sollte.
Auch Dampfexplosionen oder das Durchschmelzen des Reaktorkessels bei
hohem Innendruck können zu schlagartigen, gewaltigen Freisetzungen in
deutschen Leichtwasserreaktoren führen. Das von der Atomindustrie viel
gepriesene Containment (= Schutzhülle um AKWs) hilft in diesen Fällen
nichts. Es würde gleich mit zerstört. Da dieses sog. Containment von
unzähligen Rohrleitungen durchlöchert ist, jede dieser Leitungen
wiederum eine Schwachstelle ist, können große Mengen Radioaktivität
innerhalb weniger Stunden freigesetzt werden, ohne dass größere
Explosionen stattfinden müssen. Bei den anderen in Deutschland
verwendeten Reaktorbaulinien sieht es dabei nicht besser aus. Schäden
an den Heizrohren der Dampferzeuger, es handelt sich um Tausende dünner
Rohre, können bei Druckwasserreaktoren das Containment ebenfalls
wirkungslos machen. Bei einigen deutschen Siedewasserreaktoren würde es
ohnehin innerhalb von Stunden durchschmelzen. Und einmal abgesehen von
der Sicherheit der in Deutschland verwendeten Reaktoren: Gerade
Tschernobyl hat gezeigt, dass die Radioaktivität sich nicht um
nationale Grenzen kümmert.
Hat die Atomkraft noch eine Zukunft nach Tschernobyl?
Der Unfall in Tschernobyl zeigte vielen Menschen, die bisher noch an
die Propaganda der Atom-Lobby von der Sicherheit der Atomkraft
glaubten, wie schnell es zu einer atomaren Katastrophe kommen kann.
Plötzlich waren selbst die Menschen im tausende Kilometer von
Tschernobyl entfernten Westeuropa von der atomaren Verseuchung der
Umwelt betroffen. Wochenlang konnten Produkte des alltäglichen Konsums
wie Milch und Blattgemüse wegen radioaktiver Verseuchung nicht
konsumiert werden. In manchen Bundesländern waren Kindergärten,
Spielplätze, Sport- und Freizeitanlagen über Wochen gesperrt. Viele
dachten in dieser Zeit auch daran, wie es wohl gerade denjenigen geht,
die in der direkten Nähe zum Unfallreaktor leben. Durch Tschernobyl
bekam die in den 70ern entstandene Anti-Atomkraftbewegung in der BRD
einen großen Zulauf. Der Schrecken, dass wirklich eintreten kann, wovor
kritische WissenschaftlerInnen und die Anti-AKW-Bewegung immer wieder
gewarnt hatten, saß tief. Unzählige gingen damals wie z.B. in
Wackersdorf auf die Strasse und forderten die sofortige Stilllegung
aller Atomanlagen. Die Atomindustrie war plötzlich in der Defensive und
beschränkte sich darauf, die bestehenden AKWs weiter zu betreiben und
die kurz vor Inbetriebnahme stehenden Reaktoren in Neckarwestheim und
Brokdorf ans Netz zu bringen. Ein Neubau von AKWs war politisch
gegenüber der Anti-AKW-Bewegung nicht durchsetzbar. Und so verharrte
die Atomindustrie in ihrem status quo bis für sie bessere Zeiten kommen
sollten. Heute, 20 Jahre nach Tschernobyl, scheint wieder
Aufbruchstimmung in den Kreisen der Atomindustrie zu herrschen. Der
Super-GAU scheint von vielen Menschen fast vergessen worden zu sein und
die Anti-Atom-Bewegung hatte auch schon bessere Tage. In Flamanville,
in der Normandie (Frankreich), soll demnächst ein neuer Reaktor gebaut
werden. Im finnischen Olkiluoto wird momentan schon am ersten neuen
Atomkraftwerk in der EU seit Tschernobyl gebaut. Die Atomindustrie
scheint 20 Jahre nach Tschernobyl wieder eine Zukunft zu haben - außer
wir tun was dagegen!
14-04-2006, 16:38:00 |Karl Lindt