Technische Anmerkungen zum Tschernobyl-Unfall
BoPe
Über die technische Seite des Unfalls streiten sich die Fachleute bis heute, Konstrukteure (=Russland) und Betreiber (=Ukraine) liegen sich darüber in den Haaren. "Root cause", wie das so schön heisst, ist aber abgesehen davon die Sicherheitskultur der ehemaligen Sowjetunion im allgemeinen, auf der die brisante Mischung von Schlamperei, technischen und logistischen Fehlern entstehen konnte.
24.04.2007
Bis heute ist nicht geklärt, ob die für diesen Unfall Verantwortlichen
(oder Beteiligten) die technischen Dokumente gekannt haben müssen oder
auch nur können, die die speziellen Eigenschaften des Reaktors
beschreiben, die den Unfall ermöglicht haben, weil es kein
Betriebshandbuch im westlichen Sinn gegeben hat. Das ist sehr wohl eine
Besonderheit des SU-Systems.
Die SU-Sicherheitskultur wurde im Westen nie ernsthaft gepriesen und
auch nicht imitiert. Das Lob für die Verlässlichkeit der RBMK bezieht
sich auf die Verfügbarkeit, also die wirtschaftliche Verlässlichkeit,
die tatsächlich sehr hoch ist, weil ohne Betriebsunterbrechung der
Brennstoff getauscht werden kann.
Die Sicherheitssysteme im Westen, insbes. der BRD, sind generell
besser, das lässt sich in vielen Details nachweisen, die hier zu
diskutieren der Platz nicht reicht. Klar können trotzdem schwere
Unfälle passieren, nur ist die Wahrscheinlichkeit dafür kleiner. Die
bessere Sicherheitskultur ist nicht zuletzt Folge der öffentlichen
Debatte darüber.
Nur ein Detail: Ein Containment schützt nicht vor allen möglichen
Unfällen, aber vor vielen schon, deshalb wird es heute auch weltweit
verwendet. Der Unfall von TMI/Harrisburg (1979) ist nur deshalb
glimpflich verlaufen, weil das Containment standgehalten hat (obwohl es
für so einen Unfall gar nicht ausgelegt war und der Planung gemäß
versagen hätte sollen).
Generell: Es gibt keine Technik ohne Risiko. Die zu diskutierende Frage
ist: welches Risiko ist akzeptabel, also eine Kosten-Nutzen-Rechnung.
Zu den Folgen: Es gibt in der Folge des Unfalls von Chernobyl keine
nachweisbare Erhöhung der Rate an Missbildungen, der Leukämie und
anderer Krebsformen, mit Ausnahme des Schilddrüsenkrebses, auch wenn
ständig anderes behauptet wird. Nicht nachweisbar heisst nicht, dass es
solche Effekte nicht gibt, sondern dass sie, wenn vorhanden, so gering
sind, dass sie im "statistischen Rauschen" nicht erkennbar sind, nicht
nachweisbar eben. Wegen der Wichtigkeit des Themas sind Studien darüber
weiter im Gang.
Was die Erhöhung der Rate des Schilddrüsenkrebses betrifft, sind
bisher, statistisch zuordenbar, etwas über 100 Menschen daran
gestorben. Wieviele Opfer der Chernobyl-Unfall letztlich gefordert
haben wird, weiss niemand. Zahlenangaben dazu sind einfach unseriös,
gleich ob "nur" ein paar 100 oder 100.000e, wie auch gelegentlich zu
hören ist. Grund dafür ist, dass trotz jahrzehntelanger Forschungen die
Wirkung "niedriger" Strahlendosen nicht bekannt ist (alle bis auf
wenige Personen, auch im Umkreis von Chernobyl, haben im dosimetrischen
Sinn niedrige Dosen erhalten). Jede Schätzung ist daher
Kaffeesatzleserei, meistens ideologisch motiviert.
Um die Begriffe niedrig und hoch in diesem Zusammenhang zu
illustrieren: mit enormem Aufwand (riesige epidemiologische Studien,
Millionen von Messungen) glaubt man heute sicher festgestellt zu haben,
das die Exposition durch Innenraum-Radon bis hinunter zu "normalen"
Werten (entsprechend Konzentration 50 Bq/m"; österreichisches Mittel:
ca. 70) im Sinne einer linearen Dosis-Wirkungsbeziehung schädlich ist,
dh. doppelte Exposition = doppeltes Lungenkrebs-Risiko. Nur: die Dosen,
die aus solcher niedrigen Rn-Exposition entstehen, sind immer noch viel
höher als die Chernobyl-Folgedosen (mit Ausnahme relativ weniger, höher
exponierter Personen). 1986 hat die Jahresdosis aus den
Chernobyl-Folgen in Österreich (das abgesehen von Ukraine und
Weissrussland am stärksten betroffene Land) im Mittel 1/3 der Rn-Dosis
ausgemacht, heute ist es ca. 1/1000. Nach Rn die im Mittel wichtigste
Expositionsquelle sind strahlenmedizinische Untersuchungen und
Behandlungen, v.a. CT-Untersuchungen, und Flugreisen (Ich habe öfters
in der Chernobyl-Zone gearbeitet, auch in stark kontaminierten
Gebieten. Dabei wird man dosimetrisch überwacht: Der höchste Anteil der
Dosis ist dabei immer aus dem Flug nach Kiev entstanden.)
pb
30-04-2006, 13:00:00 |BoPe