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Simone de Beauvoir: Über den Existenzialismus hinaus

Die Schriften der französischen Philosophin, die vor 100 Jahren geboren wurde, haben — neben denen US-amerikanischer Feministinnen — die Neue Frauenbewegung maßgeblich geprägt. Ganze Generationen junger Frauen haben sich politisiert an der Frage des Rechts, über Empfängnisverhütung und Schwangerschaftsabbruch selber entscheiden zu können. Heute scheint es eine Selbstverständlichkeit — was kann sie uns da noch sagen?

15.04.2008

Die Frage nach dem Erbe von Simone de Beauvoir ist komplex. Zahlreiche Feministinnen beziehen sich auf sie. Wie jedoch an der Kopftuchdebatte zu sehen war, bilden Feministinnen keine Einheit, mitunter vertreten sie sehr unterschiedliche Meinungen. Welchen Beitrag leistet das Denken von Simone de Beauvoir für die heutigen Kämpfe — gegen Einkommensunterschiede, prekäre Arbeits- und Lebensverhältnisse, für Geschlechtergleichheit, für das Verhältnis von Rassismus und Frauenunterdrückung?

Das andere Geschlecht

Simone de Beauvoir ist zweifellos eine zentrale Figur der Neuen Frauenbewegung — und mehr als das. Ihr theoretisches, autobiografisches und belletristisches Werk der 50er, 60er und 70er Jahre hat Tausende von Frauen berührt und ihnen ermöglicht, den Formen ihrer besonderen Unterdrückung einen Namen zu geben. Ihre politische Aktivität — u.a. im Rahmen der Bewegung für die Befreiung der Frau (MLF), für das Recht auf Abtreibung und Empfängnisverhütung, in der Liga für Frauenrechte, wie auch ihr Beitrag zu verschiedenen Zeitschriften wie Questions feministes — zeigt die Bedeutung der Beziehung zwischen Theorie und Praxis. Man kann daran ablesen, wie das theoretische und belletristische Werk Beauvoirs die entstehende feministische Bewegung beeinflusst und wie ihr politisches Engagement ihre theoretischen Positionen befruchtet und verändert hat.
Zunächst muss man den Bekanntheitsgrad von Simone de Beauvoir und Sartre als Intellektuelle im Nachkriegsfrankreich hervorheben. Beide verkörperten den Existentialismus, die damals moderne philosophische Strömung, sowohl in ihren Schriften als auch in ihrer Art zu leben. Sartre veröffentlichte 1943 Das Sein und das Nichts, ein breites Publikum erschloss er sich aber vor allem durch seine Romane und Theaterstücke: Geschlossene Gesellschaft; Die schmutzigen Hände.
Das andere Geschlecht (Le deuxième sexe) von Beauvoir erscheint 1949 und provoziert eine ungeheure intellektuelle Debatte. Führende Intellektuelle der damaligen Zeit wie François Mauriac, Albert Camus und Julien Gracq, um nur einige zu nennen, reagieren pikiert auf ihre Kritik der Ehe und der Fixierung auf die Reproduktionsrolle der Frau und auf ihre Forderung nach einer Sexualität, die mit Lust, nicht mit Mutterschaft verbunden ist. Dass eine Frau es wagt und fertig bringt, über Sexualität zu sprechen und Lust einzufordern! Die Tradition wollte, dass nur Männer, die wirklichen Kenner, über „die Frau” sprechen können. Die Linke, insbesondere die Französische Kommunistische Partei (PCF), zeigte sich nicht aufgeschlossener. Man darf nicht vergessen, dass die PCF in den 50er Jahren in Bezug auf Familie, Sexualität und Empfängnisverhütung sehr konservative Positionen vertrat. Tausende Frauen ließen sich von den Schriften Beauvoirs — die „Memoiren” und die Romane — anregen. Ihre Berühmtheit wurde durch das politische Engagement der beiden Autoren noch verstärkt.

"Man wird nicht als Frau geboren, man wird dazu gemacht"

Im Unterschied zu Philosophen wie Jankelewitsch haben sich Sartre und Beauvoir im Zweiten Weltkrieg so gut wie nicht engagiert, erst im antikolonialen Befreiungskampf der 60er Jahre, in der Opposition gegen den Algerienkrieg und gegen den Vietnamkrieg. Ab Mai 68 wurde ihr Engagement kollektiver und aktivistischer. Simone de Beauvoir ist diesem Engagement geblieben und hat es bis zu ihrem Tod im Jahr 1986 fortgesetzt.
Mit einigem zeitlichen Abstand ist es leichter, die bekannte Persönlichkeit des öffentlichen Lebens von der aktiven Theoretikerin zu trennen. Dadurch sieht man besser, wie ihr Werk der Zeit trotzt. Man muss dazu sagen, dass der Existentialismus schon lange kein Bezugspunkt mehr ist, und dass die beiden großen philosophischen Werke Sartres, Das Sein und das Nichts und die Kritik der dialektischen Vernunft — ein unvollendetes Werk, weil er darauf verzichtet hat, den zweiten Band zu schreiben — nicht wirklich Schule gemacht haben. Es ist auch wenig wahrscheinlich, dass eine Feministin heute mit den sexistischen und machistischen Metaphern in Das Sein und das Nichts in Verbindung gebracht werden wollte. Im Gegensatz dazu ist Das andere Geschlecht, das in der Vergangenheit oftmals als Essay (also eher ein minderwertiges Genre) abgetan wurde, mittlerweile endlich als wichtiges philosophisches Werk anerkannt.
In ihrer bemerkenswerten Studie L‘Etude et le rouet (1989) will die französische Philosophin Michèle Le Doueff wissen, wie es kommt, dass Sartre und Beauvoir ausgehend vom gemeinsamen Bezugspunkt des Existentialismus zu so unterschiedlichen, ja sogar widersprüchlichen Ergebnissen kommen. Ausgehend vom selben philosophischen Bezugsrahmen stellt sich Simone de Beauvoir auf den Standpunkt der existentialistischen Moral und privilegiert Werte wie Authentizität und Freiheit. Sie lehnt jede Wesenslehre mit ihren Varianten vom „ewig Weiblichen”, dem „Schwarzen”, der „menschlichen Natur” ab. So wie die Männer nicht alle gleich denken, denken auch nicht alle Frauen gleich.
Aus diesem Grund hätte Simone de Beauvoir niemals die Differenztheorie unterstützen können, die von der Mehrzahl der französischen Feministinnen der folgenden Generation vertreten wurde, weil sie wieder eine Art Wesenslehre einführte. Dort, wo Sartre vom Anderen als Teil eines Herrschaftsverhältnisses spricht, betont Beauvoir die Notwendigkeit des gegenseitigen Bewusstseins. Den „Anderen in einem selbst” gibt es nicht. Die Wahrnehmung des anderen variiert und hängt von jedem Einzelnen ab.

Das Wesen und der äußere Zwang

De Beauvoir unterstreicht die Vielfältigkeit des menschlichen Daseins. Auf die Frage nach dem Ursprung der besonderen Unterdrückung der Frau gibt sie keine definitive Antwort — gleichwohl schließt sie biologische, psychoanalytische und historisch-materialistische Antworten aus. Simone de Beauvoir analysiert die Formen, die diese Unterdrückung und ihre Folge, das Leiden, angenommen haben. Sie fordert ein Ende dieser Unterdrückung und die Befreiung der Frau, aber bietet sie keine Aussicht auf eine glückliche Zukunft. Die Überwindung des Existentialismus erfolgt ausgehend von den materiellen Zwängen — auf diese Frage stieß auch Sartre in seiner Kritik der dialektischen Vernunft.
Der frühe Existentialismus kennt keine äußeren Zwänge — seien es ökonomische oder soziale Bedingungen; es gibt nur „Situationen”, die transzendiert werden müssen; wenn nicht, handelt man böswillig. Im Gegensatz dazu schreibt Simone de Beauvoir in Das andere Geschlecht, dass „die Zwänge, die Erziehung und Sitte der Frau auferlegen, ihrem Griff nach dem Universum Grenzen setzen” Oder, in anderen Worten: „Die Frau kann sich nicht als Subjekt behaupten, weil ihr dafür die konkreten Mittel fehlen.” Der Umstand, sich nicht als Subjekt denken zu können, impliziert, dass man sich nicht als planendes Subjekt denken kann.
Michèle Le Doeuff macht in Das andere Geschlecht jedoch zwei erkenntnistheoretische Hindernisse aus. Das erste bezieht sich auf den intellektuellen Horizont des Werks, den des klassischen Liberalismus. Aus dieser Perspektive gibt es nur individuelle Lösungen für die menschlichen Probleme — das freie Spiel der Kräfte auf dem Markt darf nicht durch Gesetze oder Regelwerke beeinträchtigt werden. Eine einzelne Frau, eine Simone de Beauvoir z.B., kann die „Zwänge” von Erziehung und Sitte durchbrechen, aber wie sieht es bei den anderen aus? Das zweite Hindernis betrifft den Optimismus, der am Ende des Buchs verkündet wird. Da schreibt Simone de Beauvoir: „Im großen und Ganzen haben wir gewonnen.” Nun, man kann sich mit Recht fragen: Wer ist „Wir” und wurde die Schlacht tatsächlich gewonnen?

Engagement und kollektiver Kampf

Zwischen 1949, dem Erscheinungsjahr von Das andere Geschlecht, und den 70er Jahren wandelt sich der Begriffsrahmen Simone de Beauvoirs im Kontakt mit den jungen kämpferischen Feministinnen, unter anderem in der Bewegung für die Befreiung der Frau (MLF). Diesen Feministinnen und Tausenden anderen Frauen hat die Lektüre von Das andere Geschlecht, trotz seines individualistischen Bezugsrahmens, die Möglichkeit verschafft, sich einer ihnen allen gemeinsamen Situation bewusst zu werden und der Notwendigkeit, für eine kollektive Lösung zu kämpfen.
Wenn Simone de Beauvoir zuvor der Ansicht war, Empfängnisverhütung und Abtreibung stellten kein so großes Problem mehr dar, weil es inzwischen technische Lösungen dafür gab, widmet sie ab dem Ende der 60er Jahre einen Großteil ihrer Zeit dem aktiven Engagement, um kollektive Lösungen für die Probleme der Unterdrückung der Frau zu finden. Sie erkennt auch die Bedeutung der Institutionen, durch die die Unterdrückung wirkt, und die Notwendigkeit, gegen sie zu kämpfen. Gegen Ende ihres Lebens ist sich Simone de Beauvoir bewusst, dass der Ansatz in Das andere Geschlecht individualistisch und idealistisch war. Doch es gibt nicht den geringsten Zweifel, dass ihr Werk stichhaltig und unumgänglich bleibt.
Auf der theoretischen Ebene ist ihre Ablehnung der Wesenslehre in jedweder Form von herausragender Bedeutung, weil dieses Problem unter verschiedenen Formen immer wiederkehrt (heute werden „die Moslems” stigmatisiert). Eine andere Botschaft ist die, dass Frauen sich als Subjekt erkennen können und die Möglichkeit haben, andere Pläne zu verfolgen als jene, die ihnen von der patriachalischen Ideologie aufgezwungen werden. Das Wichtigste aber ist die Dialektik zwischen der Theoriearbeit und der politischen Arbeit. Diese Dialektik hat es Simone de Beauvoir möglich gemacht, ihren theoretischen Rahmen zu öffnen und zu erweitern und von einem liberalen Individualismus zu einem kollektiven Bewusstsein von der Notwendigkeit des kollektiven Kampfs gegen die Institutionen zu kommen.
Die kämpferischen Feministinnen haben von diesem immensen theoretischen Beitrag profitiert. Ohne die gegenseitige Durchdringung von Theoriearbeit und kämpferischer Praxis ist das Risiko abzudriften groß, denn die Fragen, die die besondere Unterdrückung der Frau aufwirft, sind komplex. Wie kann man eine Reflexion in Gang setzen, die zugleich diese besondere Unterdrückung, die Entfremdung in den kapitalistischen Gesellschaften und die Frage von Sexismus und Rassismus bedenkt?

Mary Honderich
Aus: SolidaritéS (Genf), Übersetzung: Angela Huemer