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NATO-Strategie neu: "Ein kohärentes Besatzungs- und Aufstandsbekämpfungskonzept"

Die NATO wird auf der Sicherheitskonferenz in Bukarest im April ein neues Strategiekonzept diskutieren. Was ist daran neu? Und welche Veränderungen in den Kriegskonzepten sind zu erwarten, falls Barack Obama US-Präsident wird? Angela Klein (SOZ) sprach darüber mit dem Politikwissenschafter Jürgen Wagner.

11.03.2008

Frage: Auf der NATO-Konferenz in Bukarest im April soll über eine Neufassung des Strategiekonzepts beraten werden. Gibt es dazu unterschiedliche Ansätze?


Jürgen Wagner: Dass die NATO das militärische Instrument der westlichen Interessendurchsetzung ist und auch bleiben soll, in dieser grundsätzlichen Frage ist man sich innerhalb des Bündnisses durchaus einig.
Wer allerdings wann und inwieweit über künftige NATO-Kriege bestimmen darf, darüber gibt es ziemliche Meinungsunterschiede. In diesem Kontext sind die im Januar 2008 veröffentlichten Vorschläge fünf hochrangiger NATO-Strategen — unter ihnen der frühere Oberkommandierende der Allianz, John Shalikashvili, und der ehemalige Vorsitzende des NATO-Militärkomitees, Klaus Naumann — von Bedeutung. Sie fordern u.a. die Abschaffung sämtlicher "caveats". Hierbei handelt es sich um Sonderregeln, bei denen jedes NATO-Mitglied gesondert festlegt, wie weit sich seine Truppen in die Kriegführung am Hindukusch und anderswo verstricken dürfen. Darüber hinaus wollen sie, dass die NATO "das Konsensprinzip auf allen Ebenen unterhalb des NATO-Rats aufgibt und auf Komitee- und Arbeitsgruppenebene Mehrheitsentscheidungen einführt". Schließlich solle zwar weiterhin kein Mitgliedstaat dazu gezwungen werden können, sich an einem Krieg zu beteiligen. Sollte er sich jedoch weigern, sollte er "auch kein Mitspracherecht hinsichtlich militärischer Operationen erhalten. Aus diesem Grund schlagen wir ... vor, dass nur die Staaten, die zu einer Mission beitragen — das bedeutet militärische Kräfte in einer Militäroperation — ein Mitspracherecht bezüglich dieser Operation erhalten."
Sollte sich diese Position durchsetzen, würden Länder, die sich nicht oder nur bedingt an einem NATO-Krieg beteiligen wollen, effektiv jeglicher Mitsprache- und Einspruchsrechte beraubt.

Warum bedarf es überhaupt einer Neufassung? Die NATO-Richtlinien aus den 90er Jahren sehen doch die ganze Welt als Interventionsfeld vor, um Rohstoffe und strategische Interessen auch in entfernten Ländern zu verteidigen?

Zum einen hat das Thema Energie weiter an Bedeutung gewonnen. Insbesondere mit Hinblick auf die russischen Pläne zur Gründung einer Gas-OPEC wird derzeit als Gegenmaßnahme die Bildung einer Energie-NATO ins Auge gefasst, die eine Unterbrechung der Energieversorgung als bewaffneten Angriff behandelt.
Vor allem aber hat sich der Charakter der NATO-Einsätze von reinen Kampfmissionen deutlich in Richtung quasikolonialer Besatzungsregime wie in Afghanistan und im Kosovo verschoben. Schon die Comprehensive Political Guidance (CPG), ein Ende 2006 verabschiedetes Planungsdokument, das die Richtlinien für die Neufassung des Strategischen Konzeptes vorgibt, betonte die "wachsende Bedeutung von Stabilisierungsoperationen und die militärische Unterstützung von Wiederaufbaubemühungen im Anschluss an einen Konflikt".
Insbesondere in diesem Bereich soll eine Neufassung des Strategischen Konzepts erfolgen, das die diesbezüglichen Kapazitäten des Bündnisses verbessert. Hierfür soll im NATO-Jargon ein "comprehensive approach" — in Deutschland als "Vernetzte Sicherheit" bezeichnet — entwickelt werden. Ziel ist es, über eine zivil-militärische Zusammenarbeit zu gewährleisten, dass sämtliche Kapazitäten dem Militär untergeordnet und für die Erfordernisse eines Besatzungsregimes instrumentalisiert werden. Im Kern geht es also darum, ein in sich koheräntes Besatzungs- und Aufstandsbekämpfungskonzept zu entwickeln, das bis zum NATO-Gipfel in Bukarest vorgelegt und anschließend in die Neufassung des Strategischen Konzepts eingearbeitet werden soll.

55% der Bevölkerung in Deutschland sind gegen den Militäreinsatz. Generäle sprechen davon, dass die Sicherheitslage sich im vergangenen Jahr dramatisch verschlechtert hat. Ein militärischer Sieg ist in Afghanistan eher in weite Ferne gerückt. Trotzdem gibt es hierzulande kaum Proteste. Wie erklärt sich das?

Die Tatsache, dass sich die skeptische Einstellung in der Bevölkerung nicht in Massenproteste übersetzt, scheint mir elementar damit zusammenzuhängen, dass hierzulande die Meinung vorherrscht, der Krieg am Hindukusch sei von den eigenen Problemen — Jobunsicherheit, Sozialabbau und Hartz IV — weit weg.
Hier ist es m.E. die Aufgabe der antimilitaristischen Bewegung aufzuzeigen, dass sich diese beiden Prozesse gegenseitig bedingen. Dies betrifft nicht nur die Tatsache, dass das Militär immer häufiger zur Aufrechterhaltung der herrschenden Hierarchie- und Ausbeutungsstrukturen (zunehmend auch nach innen) eingesetzt wird. Auch der Zusammenhang zwischen Rüstung und Sozialabbau muss wieder stärker ins Blickfeld genommen werden.
Dies betrifft nicht nur die Tatsache, dass der Rüstungshaushalt weiter aufgestockt wird, während Sozialausgaben gekürzt werden. Hinzu kommt, dass die Bundeswehr aufgrund wachsender Rekrutierungsprobleme — die Zahl Jugendlicher, die sich in Afghanistan oder sonstwo verheizen lassen wollen, ist begrenzt — massiv mit den Arbeitsämtern kooperiert, um so an jugendliche Hartz IV-Empfänger zu gelangen. Die IMI hat dazu bereits mehrere Studien veröffentlicht, die versuchen, diesen Zusammenhang zu thematisieren (www.imi-online.de). Denn u.E. ist es wichtig, die Frage deutscher Kriegseinsätze mit der Lebenswirklichkeit hierzulande in Verbindung zu bringen.

Kann man Hoffnungen auf Barack Obama setzen?

Bezüglich der US-Besatzung im Irak dürfte es ihm tatsächlich schwer fallen, seine Forderung nach einem Truppenabzug aufzugeben. Darüber hinaus sollte man aber vorsichtig sein, allzu viele positive Entwicklungen zu erwarten. Gerade im Hinblick auf den Krieg in Afghanistan fordert Obama sogar eine massive Ausweitung des US-Engagements, u.a. auch Militäreinsätze in Pakistan.
Gerade wenn man sich die Liste der außenpolitischen Berater Obamas näher betrachtet, wird deutlich, dass bei seiner Wahl alles andere als ein grundsätzlicher Kurswechsel stattfände. Unter ihnen finden sich so illustre Gestalten wie Samantha Power, eine der führenden Propagandistinnen "humanitärer" Interventionen, Anthony Lake, der die (militärische) Ausweitung der neoliberalen Globalisierung in seiner Zeit als Sicherheitsberater zum Kernprojekt der Regierung Bill Clintons machte, und nicht zuletzt der Hardliner Zbigniew Brzezinski, einer der einflussreichsten Vordenker amerikanischer Geostrategie. Alles in allem keine Zusammensetzung, die allzu hoffnungsvoll stimmen kann.

Danke für das Gespräch.

Jürgen Wagner ist Politikwissenschaftler und leitet das "Informationsbüro Militarisierung" in Tübingen. Er hat bereits mehrere Publikationen veröffentlicht, u.a. "Welt-Macht EUropa": Auf dem Weg in weltweite Kriege, gemeinsam mit Tobias Pflüger.

Das Interview erschien zuerst ungekürzt in: SOZ, März 2008