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Marx und der neue Imperialismus

Gilbert Achcar

Kann der Marxismus noch die neue Weltordnung und ihre Kriege erklären? Der Kapitalismus kehrt zu Ausbeutungsformen zurück, die es in der Epoche der freien Konkurrenz, also zu Marx‘ Zeiten, schon einmal gab; sie sind dem, was Marx kennengelernt hat, viel ähnlicher als die Herrschafts- und Ausbeutungsformen, die wir in den Jahren des Aufschwungs nach dem Zweiten Weltkrieg erlebt haben. Das "Kommunistische Manifest" nimmt das, was man heutzutage Globalisierung nennt, fast visionär vorweg.

24.04.2007

Marx hat den Kapitalismus als globales Phänomen analysiert, er hat keine Handlungsanleitung für den Weg zur Revolution in einem einzelnen Land ausgearbeitet. Er hatte auch einen weiten Begriff von Proletariat, nicht einen auf die Industriearbeiterschaft verengten. Die kapitalistische Durchdringung auch noch des letzten Winkels der Welt hat heute Ausmaße angenommen, die Marx sich nicht hätte träumen lassen, und die Klasse der Lohnabhängigen ist heute so zahlreich wie noch nie. Insofern müssen wir an seiner Analyse keine Abstriche machen. Das bedeutet natürlich nicht, dass überall auch die subjektiven Bedingungen für die Abschaffung des privaten Eigentums an Produktionsmitteln gegeben wären.
Auch im Nahen Osten zeigt sich die fundamentale Aktualität der marxistischen Kategorien. Man braucht nur zu sehen wie schwer hier die "harten Interessen" wiegen, wie sehr der Kampf um das Öl und andere natürliche Ressourcen die Politik unmittelbar bestimmen und das treibende Moment der imperialistischen Intervention bildet.
Andererseits ist dies auch eine Region der Welt, in der es zahlreiche gesellschaftliche Phänomene fortleben, die aus früheren geschichtlichen Perioden überkommen sind — die Bedeutung der Religion, das Fortleben von Stammesgemeinschaften, usw. Diese passen nicht unmittelbar in das Schema der marxschen Analyse. Marx war sich dessen durchaus bewusst, er erhob nicht den Anspruch, alles auf der Welt in sein Schema pressen zu können, er hat ein Instrumentarium entwickelt, um die bürgerliche Gesellschaft zu beschreiben.
Mit der marxschen Analyse können wir die Haupttriebkräfte der imperialistischen Intervention begreifen, die Interessen der einheimischen herrschenden Klassen, wir verstehen, dass die materiellen Interessen eine Triebkraft gesellschaftlichen und politischen Handelns sind, erkennen Klassenkonflikte, selbst wenn diese völlig verzerrte Formen annehmen. Im Nahen Osten werden soziale Konflikte noch in Formen gelebt, die den Bauernkriegen der Reformation näher kommen als dem, was Marx im 19.Jahrhundert in Europa erlebt hat. Es gibt in diesen Gesellschaften spezifische Sozialstrukturen, Clans, Stämme u.a., für deren Verständnis die Lektüre des arabischen Gelehrten Ibn Khaldun aus dem 14.Jahrhundert aufschlussreicher ist als die von Marx. Der hat die Dynamik von Stammesgesellschaften, den Korpsgeist, der Massen in Bewegung setzen kann, weil er sich auf Verwandtschaftsverhältnisse stützt, und den sich daraus ergebenden ideologischen Zusammenhalt so brillant analysiert, dass sich heute noch alle Politikwissenschaftler und Soziologen aus dieser Region auf ihn stützen.
Marx wird also nicht überholt von dem, was heute passiert. Eher muss man es umgekehrt sehen. Es gibt im Nahen Osten immer noch gesellschaftliche Mechanismen, die ihre Wurzeln in einer Epoche haben, die weit vor Marx lag. Bei allem, was nichtkapitalistische Gesellschaften betraf, hat sich Marx aber sehr aufmerksam auf die wissenschaftlichen Erkenntnisse anderer gestützt.
Im Nahen Osten erleben wir heute eine lokale Version des Diktums "Sozialismus/Internationalismus oder Barbarei". Die Region wird von ethnischen, nationalen, religiösen und Sekten-Konflikten buchstäblich zugrunde gerichtet. Diese Kräfte sind in den letzten Jahrzehnten immer stärker geworden, weil die ökonomische und soziale Entwicklung in der Region blockiert ist, weil sie durch Kolonialismus und Imperialismus in einem Zustand gesellschaftlicher Rückständigkeit gehalten wird, weil vor allem der US-Imperialismus aus Eigeninteresse hier die rückständigsten und reaktionärsten autokratischen Regime am Leben hält — man schaue nur nach Saudi-Arabien, dem wichtigsten Verbündeten der USA in der Region.
Ende der 60er Jahre wurde meiner Generation bewusst, dass der arabische Nationalismus diktatorische Regime hervorgebracht hatte, es fehlte jede Demokratie. Jeder Machtkonflikt drehte sich um die Interessen von Cliquen und Klassen. Dieser Nationalismus hat aber keinen gesellschaftlichen Fortschritt, sondern eine gesellschaftliche Regression in Gang gesetzt, die die ältesten und rückständigsten Konfliktformen wieder aufleben lässt und zu barbarischen Verhältnissen führt. Heute würde man sich in die 60er Jahre zurücksehnen.
Diesen Zustand werden wir nicht überwinden können, indem wir zu diesem Typus von Nationalismus zurückkehren. Denkbar sind höchstens Formen des Caudillismus wie in Lateinamerika. Die soziale Dimension träte dann aber viel stärker hervor. Die einzige Alternative scheint mir die Wiedergeburt einer sozialen Bewegung, die quer durch die Gesellschaften geht, oben und unten scheidet und nicht entlang ethnischer, religiöser oder nationaler Linien verläuft: eine Bewegung der Arbeiter, der Erwerbslosen und der in dieser Region besonders unterdrückten Frauen, die den Bleideckel der lokalen Despotenregime sprengt.


09-04-2007, 22:21:00 |Gilbert Achcar