Lara Deep
Lara Deep
Ihre Geschichte und ihre Wandlungen. In dem verkürzten Diskurs, der die öffentliche Meinung auf die Rechtfertigung der israelischen Angriffe gegen den Libanon festlegen will, erscheint die Hisbollah als reine Terrororganisation, die mit Al Qaeda auf eine Stufe zu stellen sei. Eine nähere Betrachtung widerlegt diese Sicht.
24.04.2007
In den USA wird die Hisbollah im Allgemeinen mit den Bombenangriffen
1983 auf die US-Botschaft, die Marinekasernen und das Hauptquartier der
von Frankreich geführten multinationalen Streitkräfte in Beirut in
Verbindung gebracht. Der zweite Bombenangriff führte unmittelbar zum
Rückzug des US-Militärs aus dem Libanon. Das US- Außenministerium macht
die Hisbollah auch für die Entführung von Ausländern im Libanon und für
das Geiseldrama verantwortlich, das zur Iran-Contra-Affäre führte,
sowie für die Entführung eines TWA-Flugzeugs im Jahr 1985 und Angriffe
auf die Botschaft und das Kulturzentrum Israels in Buenos Aires in den
frühen 90er Jahren.
Das sind die Gründe, die angeführt werden, warum das
US-Außenministerium die Hisbollah auf der Liste der terroristischen
Organisationen führt. Die Beteiligung der Hisbollah an diesen Angriffen
ist umstritten, doch selbst wenn man von einer Beteiligung ausgeht, ist
es falsch und auch unklug, die Hisbollah als "terroristisch" abzutun.
Zum Vorwurf des Terrorismus
Die militärische Aktivität der Hisbollah verfolgte zu Anfang das Ziel,
die Besetzung des Südlibanon durch Israel zu beenden. Nach dem Rückzug
Israels vom Mai 2000 operierte sie weitgehend im Rahmen
unausgesprochener, aber von beiden Seiten verstandener "Spielregeln" –
mit fortgesetzten Geplänkeln niedriger Intensität entlang der Grenze
unter Vermeidung ziviler Opfer.
Seit ihrer Gründung ist die Hisbollah zudem bedeutend gewachsen und hat
sich entscheidend verändert. Sie ist zu einer rechtmäßigen politischen
Partei im Libanon und zu einer Dachorganisation für eine Unzahl von
sozialen Organisationen geworden.
Ein anderer Grund, warum die USA die Hisbollah auf der Terroristenliste
führen, hängt mit ihrem Ruf als Anstifterin zu einer Vielzahl von
"Selbstmordattentaten" oder "Märtyreroperationen" zusammen. Tatsächlich
führten von den Hunderten von militärischen Operationen, die die Gruppe
während der israelischen Invasion und Besatzung des Libanon
durchführte, nur zwölf zum beabsichtigten Tod eines Hisbollahkämpfers.
Mindestens die Hälfte der "Selbstmordattentate" gegen israelische
Besatzungstruppen im Libanon geht auf das Konto von Mitgliedern
laizistischer oder linker Parteien.
Ein drittes Element, warum die USA darauf bestehen, die Hisbollah als
terroristische Gruppe zu bezeichnen, hängt mit der Vorstellung
zusammen, die Hisbollah sehe ihre Existenzberechtigung in der
Zerstörung Israels. Diese Sicht wird von einem Offenen Brief aus dem
Jahr 1985 unterstützt, der Erklärungen enthält wie: "Israels
endgültiger Rückzug aus dem Libanon ist der Auftakt zur endgültigen
Vernichtung seiner Existenz und der Befreiung Jerusalems aus den Klauen
der Besatzung." Man kann an der Durchführbarkeit eines solchen Projekts
Zweifel anmelden, insbesondere wenn man sieht, wie ungleichgewichtig
Militärmacht und Zerstörungskraft sind, die jetzt zur Schau gestellt
werden.
Die umfassenden Raketenangriffe der Hisbollah im Juli 2006 setzen ein,
nachdem das israelische Bombardement begonnen hatte (einen kleineren
Raketenangriff gab es zur Ablenkung in Galiläa am Morgen des 12.Juli,
kurz vor der Entführung der israelischen Soldaten).
Es gibt aber auch Gründe, daran zu zweifeln, dass die Rhetorik des
Offenen Briefs die Absichten der Hisbollah korrekt wiedergibt. Bis zum
Mai 2000 waren fast alle ihre militärischen Aktivitäten darauf
gerichtet gewesen, das libanesische Territorium von der israelischen
Besatzung zu befreien. Die Scharmützel an der Grenze zwischen Mai 2000
und Juli 2006 waren kleine Operationen mit taktischen Zielen (viele von
ihnen wurden von Israel nicht einmal militärisch beantwortet).
Das Gründungsdokument der Hisbollah sagt auch: "Wir erkennen keinen
Vertrag mit [Israel] an, keinen Waffenstillstand und keine
Friedensvereinbarungen, weder separat noch umfassend." Diese Sprache
stammt aus der Zeit der israelischen Invasion und des Aufstiegs der
Hisbollahmiliz. Die indirekten Gespräche der Hisbollah mit Israel in
den Jahren 1996 und 2004 und ihre bekundete Bereitschaft, jetzt einen
Gefangenenaustausch vorzunehmen, weisen alle auf Realismus in der
Parteiführung hin.
Widerstand und Politik
Bei den ersten Wahlen nach dem Krieg im Jahr 1992 kehrten viele
Milizen, die oftmals aus politischen Parteien hervorgegangen waren,
wieder zu ihrem Status als politische Parteien zurück. Auch die
Hisbollah entschied sich, an den Wahlen teilzunehmen, womit sie ihre
Bereitschaft erklärte, im Rahmen des existierenden politischen Systems
zu arbeiten. Zugleich behielt sie ihre Waffen, um den Guerillakrieg
gegen die israelische Besatzung im Süden fortzuführen. Bei diesen
ersten Wahlen gewann die Partei acht Sitze, womit sie den größten Block
in einem Parlament von 128 Mitgliedern stellte. Von diesem Zeitpunkt an
erlangte die Hisbollah – auch bei denjenigen, die ihrer Ideologie
vehement widersprachen – den Ruf, eine "saubere" und auf nationaler wie
auch auf lokaler Ebene fähige politische Partei zu sein.
Die Besetzung des Südlibanon war kostspielig für Israel. Der
israelische Premierminister Ehud Barak versprach bei den Wahlen 1999
den Rückzug und kündigte ihn für den Juli 2000 an. Eineinhalb Monate
vor diesem Datum, nach Desertierungen in der [mit Israel verbündeten]
Südlibanesischen Armee (SLA) und dem Zusammenbruch möglicher Gespräche
mit Syrien, ordnete Barak einen chaotischen Rückzug aus dem Libanon an.
Am 24.Mai 2000 verließ der letzte israelische Soldat libanesischen
Boden. Viele sagten voraus, nun würden Gesetzlosigkeit, religiöse
Gewalt und Chaos das Vakuum füllen, das die israelischen
Besatzungstruppen hinterlassen hatten. Diese Voraussagen erwiesen sich
als falsch, die Hisbollah bewahrte die Ordnung in der Grenzregion.
Die stillschweigend akzeptierte "Spielregel", keine zivilen Ziele
anzugreifen, hat den israelisch-libanesischen Grenzstreit seit dem Jahr
2000 bestimmt. Beide Seiten haben diese "Spielregel" bei Gelegenheit
verletzt, dabei besagen Berichte von UN-Beobachtern über
Grenzverletzungen, dass Israel die Blaue Linie zwischen den Ländern
zehnmal häufiger verletzt hat als die Hisbollah. Israelische
Streitkräfte haben libanesische Schafhirten und Fischer entführt, die
Hisbollah kidnappte im Oktober 2000 einen israelischen Geschäftsmann,
von dem sie behauptete, er sei ein Spion.
Im Januar 2004 trafen die Hisbollah und Israel eine Vereinbarung, nach
der Israel mehrere hundert libanesische und palästinensische Häftlinge
im Austausch gegen den Geschäftsmann und die Leichen von drei
israelischen Soldaten freilassen sollte. In der letzten Minute
widersetzten sich einige Beamte der Entscheidung des Obersten
Gerichtshofs und weigerten sich, die letzten drei libanesischen
Häftlinge freizulassen. Damals versprach die Hisbollah, zu einem
späteren Zeitpunkt erneut Verhandlungen aufzunehmen.
Nationalismus
Die Hisbollah hat während der 80er Jahre gute Beziehungen zum Iran
unterhalten, dieser half ihr, die Miliz auszubilden und zu bewaffnen.
Die Hisbollah berät sich mit iranischen Führern und erhält ökonomische
Unterstützung in unbekannter Höhe. Der Iran leistet auch Militärhilfe
an den Islamischen Widerstand [den militärischen Arm der Hisbollah].
Diese Beziehung bedeutet jedoch nicht, dass der Iran die Politik oder
die Entscheidungen der Hisbollah diktiert oder die Aktionen der Partei
kontrollieren kann. Mittlerweile sind iranische Versuche, die
libanesischen Schiiten auf eine panschiitische, auf den Iran zentrierte
Identität festzulegen, mit der arabischen Identität in Konflikt geraten
und haben den libanesischen Nationalismus der Hisbollah gestärkt.
Ähnliches gilt für Syrien. Auch wenn die Partei gute Beziehungen zur
syrischen Regierung pflegt, so kann Syrien die Entscheidungen und
Aktionen der Partei doch nicht kontrollieren oder diktieren.
Entscheidungen werden unabhängig getroffen, in Übereinstimmung mit der
Sicht der Hisbollah auf libanesische Interessen und ihr Eigeninteresse
als Partei im Rahmen der libanesischen Politik.
Die nationalistischen Züge der Partei haben sich in der Zeit ihrer
Wandlung von einer militärischen Widerstandsgruppe zu einer politischen
Partei verstärkt. Nach dem syrischen Rückzug wurde deutlich, dass die
Partei eine bedeutendere Rolle in der libanesischen Regierung spielen
würde. Tatsächlich erhöhte die Hisbollah in den Wahlen 2005 die Zahl
ihrer Parlamentssitze auf 14 und befindet sich in einem Block mit
anderen Parteien, die auf 35 Sitze kommen. 2005 beschloss die Partei
zum ersten Mal, einen Kabinettsposten anzunehmen, sie besetzt derzeit
das Ministerium für Energie.
Sozialpolitik
Zu den Folgen des libanesischen Bürgerkriegs gehörten wirtschaftliche
Stagnation, Regierungskorruption und eine sich vergrößernde Kluft
zwischen der immer stärker schrumpfenden Mittelschicht und der immer
stärker wachsenden Zahl der Armen. Die schiitischen Wohnbezirke Beiruts
mussten außerdem mit der Zuwanderung von Vertriebenen aus dem Süden und
von der Bekaa-Ebene fertig werden. In diesem Klima wurde religiöser
Klientelismus zu einem notwendigen Instrument des Überlebens.
In den 70er und 80er Jahren hatten die Schiiten ein soziales Netzwerk
gebildet. Heute funktioniert die Hisbollah als Organisation, unter
deren Dach viele Wohlfahrtsinstitutionen betrieben werden. Manche
dieser Organisationen leisten monatliche Unterstützungszahlungen und
ergänzende Hilfe für die Armen bei Nahrung, Erziehung, Wohnung und
Gesundheit. Andere konzentrieren sich auf die Unterstützung von Waisen
oder auf den Wiederaufbau der vom Krieg zerstörten Gebiete. Die
Hisbollah betreibt auch Schulen, Kliniken und preiswerte Krankenhäuser.
Diese Wohlfahrtsinstitutionen verteilen sich über den gesamten Libanon
und können von der lokalen Bevölkerung unabhängig von ihrer
Religionszugehörigkeit in Anspruch genommen werden. Betrieben werden
diese Institutionen fast ausschließlich von Freiwilligen, zumeist
Frauen. Die Finanzmittel kommen aus Spenden, Stiftungen für elternlose
Kinder und Steuern der Religionsgemeinschaft.
Eines der erklärten Ziele Israels im gegenwärtigen Krieg ist die
"Beseitigung" der Hisbollah im Süden. Dabei ist zu beachten, dass die
Partei im Süden und im ganzen Land eine breite Unterstützerbasis hat,
die nicht notwendigerweise mit der Religionszugehörigkeit
zusammenhängt. Die Popularität der Hisbollah basiert auf einer
Kombination von Ideologie, Widerstand und ihrem Herangehen an die
politisch- ökonomische Entwicklung. Die Ideologie der Hisbollah wird
als eine gangbare Alternative zu der von den USA unterstützten
Regierung und ihrem neoliberalen ökonomischen Projekt im Libanon und
als aktive Opposition zur Rolle der USA im Nahen Osten betrachtet.
Viele Hisbollah-Anhänger sind Schiiten, aber es unterstützen auch viele
Libanesen mit einem anderen religiösen Hintergrund die Partei und/oder
den Islamischen Widerstand.
Im gegenwärtigen Konflikt scheint die libanesische Öffentlichkeit
geteilter Meinung zu sein, ob man für die Verwüstung des Landes die
Hisbollah oder Israel verantwortlich machen soll. Viele Libanesen, die
nicht mit der islamistischen Ideologie oder der politischen Plattform
der Hisbollah übereinstimmen, unterstützen den Islamischen Widerstand
und sehen Israel als ihren Feind. Diese Positionen schließen einander
nicht aus. Eine der Folgen der israelischen Angriffe auf ausgewählte
Gebiete von Beirut ist, dass der Widerspruch zwischen den sozialen
Klassen sich verschärft. Das wird die Popularität der Hisbollah unter
denen stärken, die die Wiederaufbau- und Entwicklungspolitik in der
Form, wie sie die jetzige libanesische Regierung betreibt, ablehnen.
(Lara Deep ist Kulturanthropologin
und lehrt an der University of California. Stark gekürzt aus Middle
East Report Online; Übersetzung: Harald Etzbach)
16-09-2006, 15:04:00 |Lara Deep