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Krise und Neuformierung der Linken in Brasilien

François Sabado

Durch ihre Identifikation mit der Regierungspolitik von Präsident Lula, der seit über zweieinhalb Jahren den von seinem Vorgänger Fernando Henrique Cardoso (FHC) eingeleiteten neoliberalen Kurs fortsetzt, ist die brasilianische Arbeiterpartei (PT) in eine tiefe Krise geraten. Der im Juni 2005 aufgedeckte Skandal des Kaufs von Abgeordnetenstimmen durch führende Politiker goss zusätzliches Öl ins Feuer, doch die Wurzeln dieser Krise liegen im tief greifenden Identitätswandel der Partei.

24.04.2007

Die Arbeiterpartei ist aus einer Phase intensiver Auseinandersetzungen hervorgegangen, die Ende der 70er-Jahre schließlich zum Sturz der unbarmherzigen Militärdiktatur führte. Die Partei war ein Sammelbecken für kämpferische GewerkschafterInnen, die ein politisches Instrument suchten, AktivistInnen der christlichen Basisgemeinden, die von der Befreiungstheologie beeinflusst waren, und AktivistInnen der revolutionären Linken.

Erstmals in der Geschichte Brasiliens gaben sich die ArbeiterInnen eine von der Bourgeoisie unabhängige Klassenpartei, die in der Lage war, ihren Bedürfnissen und Forderungen auf politischer Ebene und in Wahlen Ausdruck zu verleihen. Die Partei berief sich ganz selbstverständlich auf einen demokratischen Sozialismus, auch wenn das von ihr ausgearbeitete Sozialismuskonzept unbestimmt blieb. Ebenso selbstverständlich stützte sie sich in ihrem internen Funktionieren auf die besten demokratischen Traditionen, die viele ihrer führenden Mitglieder in Arbeitskämpfen kennen gelernt hatten.

Obwohl die PT aufgrund ihrer Wahlerfolge schon bald zahlreiche Abgeordnete hatte – eine in Brasilien privilegierte soziale Stellung – konnte sie dank ihrer demokratischen, pluralistischen Tradition über Jahre das Auseinanderdriften von Leitung und Mitgliedern und damit die Bürokratisierung der Partei verhindern. Erst in den 90er-Jahren fand insbesondere nach der neo-liberalen Wende in der Regierungspolitik und einer Serie von Niederlagen in Abwehrkämpfen der ArbeiterInnen eine zunehmende Bürokratisierung der Partei bei gleichzeitigem Rückfluten der Basisaktivitäten statt. Nach seiner Wahl im Januar 2003 gab Präsident Lu-la von Anfang an zu verstehen, die Regierung werde die Politik seines Vorgängers Cardoso fortsetzen. Sie werde allen Verpflichtungen des brasilianischen Staates gegenüber den Finanzmärkten und internationalen kapitalistischen Institutionen nachkommen.

Unmittelbar nach der Regierungsübernahme durch die PT traten viele neue Mitglieder in die Partei ein. Während bei einigen damit ein politischer Bewusstseinsprozess verbunden war, spekulierten viele andere mit Posten in der von Abgeordneten und Ministern der PT kontrollierten Verwaltung. Gleichzeitig zeigte die Partei immer weniger eigenes Engagement und konzentrierte sich vor allem auf die institutionelle Arbeit ihrer Mitglieder bzw. nahm eine abwartende Haltung ein. Die sozialen Bewegungen, in denen PT-AktivistInnen oft eine führende Rolle spielten, verhielten sich gegenüber der Regierung ebenfalls abwartend.

Schon bald wurde offenkundig, dass die Budgetpolitik und die von der Regierung durchgeführten „Reformen“ auf der Linie der neoliberalen Politik des vorangehenden Jahrzehnts standen und sich die Angriffe gegen die Errungenschaften der ArbeiterInnen verschärften. Insbesondere mit der Rentenreform 2003 wurde die internationale Orientierung des Kapitals übernommen, die indirekten Lohnanteile zu senken.

Senatorin Heloísa Helena, Mitglied der Tendenz Sozialistische Demokratie (DS), sowie die Abgeordneten Luciana Genro von der Bewegung der sozialistischen Linken (MES) und João Batista Oliveira de Araujo, genannt Babá, von der Sozialistischen Arbeiterströmung (CST) verweigerten der Reform ihre Zustimmung und wurden daraufhin im Dezember 2003 aus der Partei ausgeschlossen. Mit diesem Schritt ließ die PT-Bürokratie keinen Zweifel daran, dass sie bereit war, auch mit der demokratischen, pluralistischen Tradition zu brechen. In der Folge nahmen die ausgeschlossenen PT-Mitglieder, denen sich weitere Personen anschlossen – darunter João Machado, einer der Begründer der PT und der DS – den Aufbau einer neuen Linkspartei in Angriff, der Partei des Sozialismus und der Freiheit (PSOL), um möglichst viel von den Errungenschaften der Klassenunabhängigkeit zu bewahren, für welche die PT gestanden war, die sie aber aufgegeben hat. Die bis dorthin mehrheitlich in der PT vereinte brasilianische Linke (1) war damit gespalten in AufbauerInnen der PSOL und AnhängerInnen einer Erneuerung der PT.

Denn die überwiegende Mehrheit der PT-Linken setzte den Kampf in der illusorischen Erwartung eines möglichen Kurswechsels in der Partei fort und grenzte sich vom extrem neoliberalen Regierungsflügel um Finanzminister Antônio Palocci ab, ohne allerdings der Regierung die Unterstützung zu versagen. Die „regierungstreue“ Linke gab vor, sie könne den Lauf der Regierungspolitik beeinflussen.

Als sich die PT-Mehrheit einschließlich Präsident Lulas mit Korruptionsvorwürfen gegen einen ihrer Nutznießer konfrontiert sah, blieb der heilsame Schock jedoch aus. Nachdem ein Versuch gescheitert war, den Skandal durch Verhinderung einer parlamentarischen Untersuchung herunter zu spielen, wurde versucht, die Verantwortung den am stärksten kompromittierten PolitikerInnen zuzuschieben, während eine Diskussion über die Ursachen dieser Degeneration weiter verhindert wurde.

Bei den parteiinternen Leitungswahlen konnte die Krise ebenfalls nicht eingedämmt werden. Zwar konnten die Lula-AnhängerInnen insbesondere in der nationalen Leitung mit 60 Prozent der Sitze die Mehrheit sichern. Ebenso gelang es ihnen, wenn auch nur knapp, den Parteivorsitz zu behalten. Dabei scheiterte der Kandidat des Mehrheitslagers, Ricardo Berzoini, im ersten Anlauf. Während sich im ersten Durchgang rund 300.000 PT-Mitglieder an der Wahl beteiligten, waren es im zweiten nur noch 230.000. Wie für eine vom Apparat wieder fest in den Griff genommene Partei zu erwarten war, konnte sich Ricardo Berzoini am Ende durchsetzen. (2)

Im zweiten Wahlgang stellten sich 48 Prozent der Stimmenden hinter die Kandidatur des PT- und DS-Begründers und ehemaligen Bürgermeisters von Porto Alegre, Raul Pont und bekundeten damit den Willen Tausender Parteimitglieder, sich dem gegenwärtigen PT-Kurs zu widersetzen. Raul Pont, der sich für die Erneuerung der PT und eine Neuausrichtung der Regierungspolitik ausspricht, sich aber weiter hinter Lula und dessen Regierung stellt, wurde von allen anderen Minderheitsströmungen der Partei unterstützt. Damit nutzten Zehntausende PT-Mitglieder unabhängig von Raul Ponts politischen Ansichten dessen Kandidatur, um sich gegen den politischen Kurs Lulas auszusprechen. Der politische Werdegang von Raul Pont, seine linke Position in der Partei, sein Mut und seine Aufrichtigkeit ermöglichten ihnen, ihm die Stimme zu geben und dadurch ihrer Unzufriedenheit Ausdruck zu verleihen. Mit ihrer Regierungsunterstützung ließen die DS-Führung und Raul Pont diese Kandidatur aber auch als gemäßigte Opposition erscheinen, womit sie einem wichtigen Teil des PT-Apparats Auftrieb gaben …

Trotzdem sind die in der PT verbliebenen Teile der Linken der Ansicht, die parteiinternen Wahlen hätten eine gewisse Vitalität der Partei unter Beweis gestellt, da sich über 30 Prozent der Mitglieder an der Abstimmung beteiligt hätten. „Diese hohe Beteiligung zeigt einmal mehr, dass die PT die wichtigste brasilianische Linkspartei ist, und bestärkt uns in der Überzeugung, dass für unsere AktivistInnen ein Ausweg aus der Krise in greifbare Nähe rückt“, meinte dazu Raul Pont am 11. Oktober. Diese regierungskritischen Kräfte innerhalb der Partei wollen für den nächsten Kongress, der im Dezember [2005] stattfindet, ihre Basis mobilisieren und sich 2006 aktiv am Wahlkampf der PT beteiligen. Unter den gegebenen Umständen ist für den Verbleib in der PT jedoch ein hoher Preis zu zahlen: die Unterstützung der Regierung, die Mitgliedschaft in einer Partei, deren Führung der Korruption beschuldigt wird, und eine solidarische Haltung gegenüber einer neoliberalen Politik, die so konsequent durchgezogen wird wie in kaum einem anderen lateinamerikanischen Land. Das wird sich zwangsläufig auf die kommenden politischen und gesellschaftlichen Entscheidungen niederschlagen. Wenn die regierungstreue Opposition ihren gegenwärtigen Kurs beibehält, wird sie bei den nächsten Abstimmungen zur Wahl Lulas oder einer anderen Person aus seinem Umfeld aufrufen. Wie ist es aber möglich, sich auf eine antikapitalistische Haltung zu berufen und gleichzeitig Lula zu unterstützen, wenn daneben Heloísa Helena kandidiert, die eine Reihe von radikalen Positionen gegen den liberalen Kapitalismus vertritt? Wie können Hunderte DS-Mitglieder Lula gegen Heloísa unterstützen? Diese Entscheidung wird für die nächsten Monate und Jahre maßgebend sein!

Während sich in der PT die Krise verschärfte, konnten jene Kräfte punkten, die sich für den Aufbau der PSOL entschieden hatten. Um sich als Partei anerkennen zu lassen und bei Wahlen antreten zu können, muss man in Brasilien nahezu 450.000 Unterschriften sammeln. Die PSOL führte daher eine Massenkampagne durch, engagierte sich gleichzeitig in allen Diskussionen und kritisierte unermüdlich die Haltung der Regierung, deren Bilanz in den Augen der ArbeiterInnen immer negativer ausfiel. So gelang es der neu gegründeten Partei, die notwendigen Unterschriften zu hinterlegen, sie beglaubigen zu lassen und schließlich am

16. September von der obersten Wahlbehörde anerkannt zu werden.

Die PSOL konnte sich damit als eine Kraft etablieren, die den Anspruch hat, die Linke auf der Suche nach einem politischen Instrument des gesellschaftlichen Wandels zu sammeln. Ende September beschleunigte sich der Umschichtungsprozess in der Linken.

Am 24. September [2005] kündigte João Alfredo, ein Parlamentsabgeordneter der DS, auf einer öffentlichen Versammlung in Fortaleza, der Hauptstadt des Staates Ceara, an, er werde mit zwei Drittel der lokalen Mitglieder der DS-Strömung zur PSOL übertreten. Der Staat Ceara war nach Rio Grande do Sul die zweitstärkste Bastion der DS. Die Bürgermeisterin von Fortaleza, Luzianne Lins, sowie andere lokale DS-Kader bleiben allerdings in der PT, und die zur PSOL übergetretenen Mitglieder kündigten an, ihre Stadtverwaltung weiterhin zu unterstützen.

In den folgenden Tagen berichtete die Presse über weitere Übertritte linker PT-AktivistInnen und Führungs-mitglieder in São Paulo, Rio de Janeiro, Campinas etc. zur PSOL. In São Paulo kündigte der Parlamentsabgeordnete Orlando Fantazzini an, gemeinsam mit mehreren hundert Mitgliedern zur PSOL überzuwechseln. In Rio vollzog der Parlamentsabgeordnete Chico Alenca, eine historische Persönlichkeit der PT-Linken, denselben Schritt.

Gleichzeitig gaben auch die beiden Parlamentarier Ivan Valente und Maninha von der APS (Aktion für den Sozialismus, früher als Sozialistische Kraft bekannte dritte große Strömung der PT-Linken) ihren Wechsel zur PSOL bekannt. Offenbar hat inzwischen die gesamte APS-Strömung einen Übertritt beschlossen. Diese Strömung hatte in der Wahl zum Parteivorsitzenden die Kandidatur von Plinio de Arruda Sampaio, einer weiteren historischen Persönlichkeit in der PT, unterstützt, der der linken christlichen Strömung zugerechnet wird. Plinio, der sich im ersten Durchgang am 18. September am deutlichsten links profilierte und 13,4 Prozent der Stimmen erhielt, gab ebenfalls seinen Übertritt zur PSOL bekannt.

Zahlreiche andere führende linke PT-Mitglieder auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene sowie andere kleine linke Strömungen kündigten ebenfalls ihren Austritt aus der PT an, um sich der PSOL anzuschließen. Zu erwähnen sind insbesondere die Sozialistische Einheitsbewegung, eine Strömung, die sich 2004 von der gleichnamigen MUS von Luciana Genro trennte, weil sie der Ansicht war, der Kampf müsse innerhalb der PT weitergeführt werden, sowie bekannte linke Gewerkschaftsführer des gewerkschaftlichen Dachverbands CUT wie Jordinho.

Die PSOL erfuhr daher gleichzeitig mit ihrer Anerkennung als legale Partei einen bedeutenden Mitgliederzuwachs, was ihr im Wahlkampf 2006 eine starke Präsenz ermöglichen wird. Zur Partei zählt heute eine aus sieben Abgeordneten und zwei SenatorInnen bestehende Parlamentsfraktion (3), was auch eine entsprechende Medienpräsenz gewährleistet. Der bekanntesten PSOL-Politikerin Heloísa Helena wird in Umfragen für die Präsidentschaftswahlen, für die sie kandidiert, ein beachtliches Ergebnis vorausgesagt. Die PSOL erweist sich damit als ein politisches Instrument, das in der Lage ist, die besten Errungenschaften der PT und eines nicht unerheblichen Teils ihres Kapitals an AktivistInnen zu bewahren.

Die Krise dieses ersten Versuchs der brasilianischen ArbeiterInnenklasse, sich politisch aus der Abhängigkeit zu lösen, dürfte damit nicht so schnell überwunden sein. Und die Spaltung der brasilianischen Linken zwischen jenen, die trotz ihrer Unterlegenheit weiterhin auf die Möglichkeit hoffen, die PT von innen heraus zu erneuern, und jenen, die sich an den Aufbau einer neuen klassenunabhängigen Partei gemacht haben und die Lehren aus der Degeneration ihrer ursprünglichen Partei ziehen, wird noch lange andauern. Obwohl der demnächst beginnende Wahlkampf die Suche nach Möglichkeiten zur Einheitsaktion der beiden Teilen der brasilianischen Linken nicht begünstigen wird, haben die in den sozialen Bewegungen aktiven PSOL-AktivistInnen bereits Initiativen ergriffen, um den Rahmen für eine Aktionseinheit zu bewahren und Diskussionsforen aufzubauen, die einen Zusammengehen erleichtern sollen.


Paris, 12. Oktober 2005 François Sabado, führendes Mitglied der Ligue communiste révolutionnaire (LCR, französische Sektion der IV. Internationale), ist Mitglied des Exekutivbüros der IV. Internationale.

Aus: Inprekorr Februar 2006; Übersetzung aus dem Französischen: TigribAnmekrungen

(1) Obwohl die Mehrheit des „morenistischen“ trotzkistischen Flügels die PT 1992 verlassen hatte und die ehemals maoistische PCdoB (KPB) nie beigetreten war.

(2) Zum Zeitpunkt des Abfassens des Artikels lagen dem Autor nur die Ergebnisse von 11. Oktober nach Auszählung von 95,6 Prozent der Stimmen vor [das definitive Endergebnis ist auch Anfang Dezember im Netz nicht festzustellen, d. Übers.]. Berzoini kam demnach auf 51,6 und Raul Pont auf 48,4 Prozent der Stimmen. Die Wahlkommission sah es nicht einmal als notwendig an, das Ende der Stimmenauszählung abzuwarten, bevor sie den Sieg von Berzoini verkündete, der auf der Website der PT unmittelbar zum PT-Vorsitzenden gekürt wurde.

(3) Die beiden SenatorInnen sind Heloísa Helena und Geraldo Mesquita, die sieben Bundesabgeordneten Babá, Luciana Genro, Ivan Valente, Chico Alencar, Orlando Fantazzini, Maninha und João Alfredo. Mindestens 2 500 PT-Mitglieder sind in der letzten Septemberwoche zur PSOL übergetreten, darunter die fünf genannten Bundesabgeordneten, vier Parlamentsabgeordnete aus Bundesstaaten, Dutzende Stadträte und vier Mitglieder der nationalen Leitung des Gewerkschaftsdachverbandes CUT.



04-03-2006, 20:05:00 |François Sabado