Isaac Deutscher – ein skeptischer Trotzkist
Helmut Dahmer
Isaac Deutscher wurde vor hundert Jahren als Sohn eines Druckers und Verlegers in Chrzanów (bei Krakau) geboren. Seine Vorfahren waren im 16. Jahrhundert vom bayrischen Fürth nach Galizien ausgewandert. Beide Eltern und zwei seiner Geschwister wurden im zweiten Weltkrieg von den Nazis nach Auschwitz deportiert und kamen dort um. Er selbst starb im Alter von sechzig Jahren 1967 in Rom. Seine Lebensgefährtin und Mitarbeiterin Tamara überlebte ihn um dreizehn Jahre.
24.04.2007
Der hoch begabte Junge sollte Rabbiner werden, wandte sich aber – auf
den Spuren von Spinoza – schon in jungen Jahren vom religiösen Judentum
ab. Seine literarische Karriere begann er mit Gedichten und
Literaturkritiken in polnischer und jiddischer Sprache; bald kamen
politische Artikel und Flugblätter hinzu. Sein Brot verdiente er (bis
1939) vor allem als Korrektor. An den Universitäten Krakau und Warschau
(1925) hörte er Vorlesungen, erwarb sich aber seine enormen
historischen und theoretischen Kenntnisse vor allem im Selbststudium.
1926 schloß er sich der (unter Pilsudskis Militärdiktatur in den
Untergrund gedrängten) polnischen Kommunistischen Partei an , für die
er auch während seiner Wehrpflicht in den Jahren 1929/30 agitierte.
Bald kam er aber mit der (für Polen wie für Deutschland gleichermaßen
verhängnisvollen) ultralinken Komintern-Politik in Konflikt und wurde
im November 1932 wegen „Überschätzung der faschistischen Gefahr“
ausgeschlossen. Seine (um Deutschers Zeitschrift „Horizont“ gescharte)
Gruppe bildete den Kern der polnischen „Linken Opposition“, die sich
(mit etwa 350 Mitgliedern) als Sektion der (trotzkistischen)
„Internationalen Linken Opposition“ anschloß. 1935-1937 beteiligte sich
Deutscher am Experiment des „Entrismus“ in der polnischen
Sozialdemokratie (PPS). 1936 schrieb er eine Broschüre, in der er den
ersten Moskauer Schauprozeß (gegen Sinowjew, Kamenjew und andere) als
Propagandaschwindel entlarvte. Der Formierung einer
(antireformistischen und antistalinistischen) neuen internationalen
Organisation stand er skeptisch gegenüber, und als Anfang September die
IV. Internationale aus der Taufe gehoben wurde, stimmten die beiden
polnischen Delegierten dementsprechend gegen diese Neugründung.
Deutscher verließ bald darauf die polnische trotzkistische Gruppe und
schloß sich fortan keiner politischen Organisation mehr an. Im April
1939 reiste er über Paris nach London, lernte in kürzester Zeit
Englisch und begann, auch für englische Zeitungen zu schreiben. Nach
einem Intermezzo als Freiwilliger bei der polnischen Exilarmee in
Schottland arbeitete er in den Jahren 1942-1949 in der Redaktion des
„Economist“, galt bald als Osteuropa-Experte und schrieb regelmäßig für
den „Observer“ (zu dessen Mitarbeitern auch Sebastian Haffner zählte).
Die Frucht dieser Jahre waren mehr als tausend Artikel, von denen viele
(oft unter Pseudonymen) auch in anderen Zeitungen erschienen. 1949,
also noch zu Lebzeiten des Kreml-Despoten, veröffentlichte Deutscher
seine Stalin-Biographie , die sogleich heftig attackiert wurde,
keineswegs nur von Stalinisten, die in dem Häretiker einen „Renegaten“
sahen, sondern auch von westlichen Ex- und Antikommunisten und sogar
von Trotzkisten, die das Buch für eine Art „Rechtfertigung“ Stalins und
seines Herrschaftssystems hielten. Die Stalin-Biographie wurde in 12
Sprachen übersetzt. In den folgenden 15 Jahren bildeten Isaac und
Tamara Deutscher so etwas wie ein privates Institut für Zeitgeschichte.
Neben der großen Trotzki-Biographie, Deutschers Hauptwerk, erschienen
eine ganze Reihe von Aufsatzsammlungen, deren zentrales Thema die
Entwicklung der Sowjetunion und der anderen „sozialistischen“ Staaten
sowie der internationalen kommunistischen Bewegung nach Stalins Tod
war. Mitte der sechziger Jahre engagierte sich Deutscher (ähnlich wie
Herbert Marcuse oder Günther Anders) auf seiten der „Neuen Linken“
gegen den Vietnamkrieg, beteiligte sich an der Arbeit des
„Russel-Tribunals“ (das die US-Kriegsverbrechen anprangerte) und trat
als Redner bei Anti-Kriegs-Veranstaltungen auf. So schlug er eine
Brücke zwischen dem revolutionären Marxismus der Zwischenkriegszeit und
dem gegen Faschismus und Stalinismus gleichermaßen gerichteten
„Antiautoritarismus“ der Studenten- und Jugend-Protestbewegung der
sechziger Jahre.
Im Hinblick auf Trotzkis Geschichte der russischen Revolution (die in
den Jahren 1931 und 1932 erschienen war) schrieb Deutscher (1963): „Er
ist in der Tat der einzige geniale Historiker, den die marxistische
Schule bis jetzt hervorgebracht […] hat.“ Seine eigene
Trotzki-Biographie, deren drei Bände 1954, 1959 und 1963 veröffentlicht
wurden, gilt als ein Musterbeispiel marxistischer Historiographie, als
ein grandioser Versuch, die Rolle des Vordenkers, Organisators und
Verteidigers der Oktoberrevolution in der Geschichte des 20.
Jahrhunderts zu bestimmen. Deutscher war ein brillanter Soziologe und
ein bedeutender Erzähler. In seiner Trotzki-Trilogie schilderte er
nicht nur das Leben und Denken des großen Revolutionärs, sondern
beschwor die ganze Epoche der internationalistisch orientierten,
revolutionären europäischen Arbeiterbewegung herauf, der Trotzki
angehört hatte und die mit dem zweiten Weltkrieg zu Ende ging. Die
stalinistische Propaganda hatte versucht, die Erinnerung an diese
Epoche und ihre großen Gestalten auszulöschen. Deutschers
Rekonstruktionsarbeit glich der Arbeit der Archäologen, die das vom
Vesuv unter Asche und Lavagestein begrabene antike Pompeji nach vielen
Jahrhunderten wieder ausgruben. Er hat den Fälschern der Stalin-Schule
das Handwerk gelegt und die Oktoberrevolution samt ihren Protagonisten
den Rebellen und Revolutionären der nachstalinschen Generationen
nahegebracht. Erst 1991 wurde der dritte Band der Trotzki-Biographie
in einer russischen Übersetzung veröffentlicht; eine komplette
chinesische Ausgabe erschien 1999 in Peking.
1960, während des „Interregnums Chruschtschow“, versuchte Deutscher,
den Ausgang des „großen Wettkampfs“ zwischen „Rußland und dem Westen“
abzuschätzen: „Im fünften Jahrzehnt der Revolution erntet die
Sowjetunion die ersten Früchte des Sozialismus, nachdem sie die
zwangsweise Industrialisierung auf sich genommen hat. Damit rückt die
marxistische Kritik der bürgerlichen Gesellschaft aus der Sphäre der
Theorie in die der Praxis.“ Wie die damalige Führung der KPdSU, deren
Außenpolitik er kritisierte, weil sie revolutionäre Bewegungen in aller
Welt den eigenen Sicherheitsinteressen unterzuordnen suchte, und deren
Innenpolitik er kritisierte, weil sie sich weigerte, die
stalinistischen Verbrechen vollständig aufzudecken, war Deutscher davon
überzeugt, die sowjetische Planwirtschaft sei per se der
kapitalistischen Wirtschaft überlegen und könne – in der Ära der
(dritten) technischen Revolution – die Pro-Kopf-Produktion der USA
einholen und vielleicht überholen. Daß es zu einer Stagnation oder gar
zum Zusammenbruch der bürokratischen Staatswirtschaft kommen, daß die
„bürokratische Kaste“ zu einer neuen kapitalistischen Klasse mutieren
könne, lag jenseits seines Vorstellungsvermögens. Er wähnte, der
reformbereite Flügel der Bürokratie könne das Wirtschaftswachstum
solange steigern, bis die zahlenmäßig starke und gut ausgebildete neue
sowjetische Arbeiterklasse selbst imstande sei, die Kontrolle von Staat
und Wirtschaft zu übernehmen. Rückblickend auf die Jahre 1953 bis 1960
schrieb er: „Da keine bedeutende anti-stalinistische Bewegung von unten
her bestand, […] konnte eine Änderung nur von oben, von der
herrschenden stalinistischen Gruppe, kommen.“ Deren Ziel sei es
freilich, „die Regierungsmethoden zu rationalisieren, nicht, die
Regierung der sozialen und politischen Kontrolle von unten zu
unterwerfen.“
Die von Deutscher konstatierte politische Apathie der sowjetischen
Arbeiter, Bauern und Intellektuellen war das Resultat des Terrors, mit
dessen Hilfe die Stalin-Führung in Krieg und Frieden ihre Kontrolle
über die verstaatlichten Produktionsmittel verteidigt und die
Industrialisierung des Landes erzwungen hatte. Deutscher sprach im
Hinblick auf Stalins Kurswechsel Ende der zwanziger Jahre von einer
„zweiten Revolution“, einer „Revolution von oben“ , und schien
vergessen zu haben, daß diese „Revolution“ eine politische
Konterrevolution (mit Trotzki zu reden, ein „Thermidor“) war. 1929 war
die aus der Partei ausgeschlossene und deportierte russische „Linke
Opposition“ über dieser Frage zerbrochen. Mit Stalins unvermittelter
Wendung gegen die „Rechten“ (um Bucharin) und seinem Übergang zur
Zwangskollektivierung und zu einer forcierten, planmäßigen
Industrialisierung schien für einen großen Teil der Oppositionellen der
wichtigste Teil ihres eigenen Programms – der Plattform der Vereinigten
Opposition vom September 1927 – erfüllt; sie widerriefen ihre Kritik
an der Stalin-Gruppe und baten um Wiederaufnahme in die Partei. Aus
Internationalisten wurden Nationalkommunisten, aus Verteidigern der
Rätedemokratie Substitutionisten.
Lenin hatte im Dezember 1920 vor dem VIII. Gesamtrussischen
Sowjetkongreß einen Zehn-Jahres-Plan zur Wiederherstellung und
Weiterentwicklung der sowjetischen Wirtschaft auf der Grundlage der
Elektrifizierung des Landes propagiert. „Kommunismus“, sagte er, „das
ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes.“ Die
Oppositionellen um Radek und Preobraschenski, die sich 1928/29 auf die
Seite Stalins schlugen, wähnten, man könne eine sozialistische
Gesellschaft in Rußland auch ohne Partei- und Rätedemokratie (und ohne
internationale Revolution) aufbauen, mit Hilfe einer militarisierten
und gewaltsam homogenisierten Partei, die sich der enormen Machtmittel
der verstaatlichten Wirtschaft bediente und Arbeiter und Bauern einer
„totalitären“ Kontrolle unterwarf. 1929 sah nur die „trotzkistische“
Minderheit der Oppositionellen, die nicht vor der Stalin-Fraktion
kapitulierte, daß die gewaltsame Modernisierung der sowjetischen
Wirtschaft, die viele Millionen Opfer kosten sollte, nicht zum
„Sozialismus“, sondern allenfalls zu einer Entwicklungsdiktatur führen
werde, die die selbstgesetzten Ziele verfehlen müsse. Und nur diese
Minderheit fürchtete, daß die bürokratische Planwirtschaft ohne
Arbeiterselbstverwaltung zusammenbrechen werde. Hören wir Christian
Rakowski , den Führer der russischen Opposition:
„Preobraschenski schrieb [im April 1928] etwa Folgendes: >Die
zentristische [Stalin-]Führung beginnt einen Teil [unserer] Plattform
zu verwirklichen, nämlich den wirtschaftlichen; den politischen Teil
wird das Leben selbst realisieren. Die Opposition hat ihre
geschichtliche Aufgabe erfüllt; sie ist jetzt überflüssig. Sie muß in
die Partei zurückkehren und den Ereignissen ihren Lauf lassen.< Die
Interpretation der Plattform hat auf diese Weise zur Bildung zweier
Lager geführt: Das revolutionäre, leninistische Lager, das für die
Verwirklichung seiner Plattform in ihrer Gesamtheit kämpft (so wie
früher die [bolschewistische] Partei für ihr ganzes Programm kämpfte),
und das Lager der Opportunisten und Kapitulanten, die, als sie sich mit
der >Industrialisierung< und der Einrichtung von Kolchosen
zufrieden gaben, von der Möglichkeit absahen, daß ohne die
Verwirklichung des politischen Teils unserer Plattform der ganze
sozialistische Aufbau zusammenbrechen könnte.“
Von all’ den Prognosen über das Schicksal des nachrevolutionären (und
nach-stalinistischen) Rußland hat sich zuletzt diese als die
treffendste erwiesen. Auf das „Interregnum“ Chruschtschows und seiner
Nachfolger folgte nicht eine Renaissance der Arbeiterdemokratie,
sondern das autoritäre, staatskapitalistische Regime Putins.
09-04-2007, 21:40:00 |Helmut Dahmer
Literaturhinweis
Deutscher, I. (1967): Die unvollendete Revolution, 1917-1967. Frankfurt (Europäische Verlagsanstalt);
(1980): Reportagen aus Nachkriegsdeutschland. Hamburg (Junius).
Jones, Mike, und Mitchell, Alistair (2000): „Isaac Deutscher. Ketzer
des Kommunismus und Trotzkismus.” In: Bergmann, Theodor, und Mario
Keßler (Hg.) (2000): Ketzer im Kommunismus. 23 biographische Essays.
Hamburg (VSA), S. 361-381.
Syré, Ludger (1984): Isaac Deutscher, Marxist, Publizist, Historiker. Sein Leben und Werk
1907-1967. Hamburg (Junius).
The Lubitz TrotskyanaNet (2006): „Isaac Deutscher – Part 1.“
Weber, Hermann (Hg.) (1981): Unabhängige Kommunisten. Der Briefwechsel
zwischen Heinrich Brandler und Isaac Deutscher 1949 bis 1967. Berlin
(Colloquium Verlag).