Götzendämmerung in Moskau und Budapest
Helmut Dahmer
1956 begann der Niedergang des Stalinismus.
24.04.2007
Am 25. Februar 1956 wurden die schon abreisebereiten 1.500 sowjetischen
Delegierten des 20. Parteitags der KPdSU – nicht aber die ausländischen
Gastdelegierten – überraschend noch einmal zu einer Sondersitzung
zusammengerufen. Nikita Chruschtschow, der Generalsekretär, las ihnen
eine mehrstündige Anklagerede gegen Stalin vor: „Über den Personenkult
und seine Folgen“. Chruschtschow stützte sich auf den Bericht einer im
Herbst 1955 (gegen den Wider-stand Molotows) eingesetzten Kommission,
die den gegen die Kommunistische Partei gerich-teten Terror der Jahre
1936-1938 näher untersucht hatte. Chruschtschow prangerte weder
Sta-lins Herrschaftsinstrument, die GPU, noch den „Archipel GULag“ der
Zwangsarbeits- und Vernichtungslager an, weder Stalins internationale
Politik noch die Zwangskollektivierung oder den „politischen Genozid“
(Isaac Deutscher) – die Vernichtung aller oppositionellen Gruppen
innerhalb und außerhalb der Partei. Seine Anklage beschränkte sich auf
die „Zerstö-rung“ der (längst schon stalinisierten) Partei in den
Jahren nach 1934, auf das militärische Desaster von 1941 und auf die
strafweise Deportation ganzer Ethnien. Stalins Despotie be-zeichnete er
(wie vor ihm schon Malenkow) verharmlosend als „Personenkult“, den
Massen-terror umschrieb er mit „Verletzung der sozialistischen
Gesetzlichkeit“. Die Delegierten traf es wie ein Schock. Alexander
Jakowlew, der unter ihnen war, berichtete später, sie seien so
überrascht und beschämt gewesen, dass sie nicht gewagt hätten, einander
auch nur in die Au-gen zu sehen. Einigen der noch anwesenden
kommunistischen Parteiführer wurden in der Nacht zum 26. 2.
Übersetzungen der Chruschtschow-Rede vorgelesen. Das
SED-Politbüromitglied Karl Schirdewan sagte nach seiner Rückkehr aus
Moskau zu seiner Frau: „Stalin ist für die Geschichte gestorben!“ Im
„Westen“ wurde die Chruschtschow-Rede schon im Juni 1956
veröffentlicht. Die 7.2 Millionen Mitglieder der KPdSU (etwa 3.6
Prozent der Bevölkerung) wurden durch Verlesung des Dokuments mit dem
Inhalt vertraut gemacht; ge-druckt erschien der Text in der Sowjetunion
aber erst drei Jahrzehnte später. Hatte Chruscht-schow im Februar 1956
mit seinen geheimen „Enthüllungen“ Stalin aus den Reihen der
kommunistischen Halbgötter verstoßen, so holten Budapester
Demonstranten nur acht Monate später, am 23. Oktober, die sieben Meter
hohe, bronzene Statue des Tyrannen von ihrem So-ckel und zerschlugen
sie in tausend Stücke.
Stalin, der „Totengräber der Revolution“, wie Trotzki ihn schon 1926
genannt hatte, war am 5. März 1953 im Alter von 73 Jahren gestorben,
mitten in Vorbereitungen zu einer neuen Welle des Massenterrors, die
wohl auch seine Paladine im „Parteipräsidium“ (wie das Polit-büro
damals hieß) den Kopf gekostet hätte. Der Tod des Zentraldespoten
führte im Sommer 1953 zu Aufständen in den sowjetischen Lagern und zur
Erhebung gegen das SED-Regime in der DDR. Diese Emeuten wurden zwar
niedergeschlagen, signalisierten aber den Stalin-Erben, dass es hohe
Zeit war, den innenpolitischen Druck in der Sowjetunion und in den
Sa-tellitenstaaten zu mäßigen. Die politischen Repräsentanten der
sowjetischen Partei-, Staats- und Wirtschaftsbürokratie waren vor allem
an der Sicherung ihres eigenen Lebens und der ökonomisch-politischen
Grundlagen ihrer Macht interessiert. Eine Reduktion des Terrors und
eine allmähliche Besserung des Lebensstandards sollten die Massen ruhig
stellen. Chruscht-schow hatte den Nimbus des „Vaters der Völker“
zerstört; er glaubte, die Stalin-Clique könne sich auch ohne Stalin an
der Macht halten. Doch der „Sowjet-Mythos“, dem so viele Millio-nen
Menschen in den dreißiger und vierziger Jahren angehangen hatten,
taugte, nachdem der Oberhirt der proletarischen Weltherde posthum als
ein paranoider Massenmörder entlarvt worden war, kaum mehr zur
Massenbindung:
Eine erste Initiative zur Ent-Stalinisierung (nämlich zur Freilassung
eines Großteils der Skla-ven des „Archipels GULag“ und zu einer
Neutralisierung Deutschlands) ging absurderweise von Berija aus, dem
Chef der Geheimpolizei, den Stalin 1945 seinem Verbündeten Roosevelt
kurzerhand als „unseren Himmler“ vorgestellt hatte. Chruschtschow, der
fürchtete, Berijas Reformen würden das Regime destabilisieren und
Stalins langjähriger Günstling strebe nach der Alleinherrschaft,
brachte in den Führungsgremien eine Mehrheit gegen ihn zustande und
sicherte sich die Unterstützung einflussreicher Militärs. Im Juli 1953
wurde Berija verhaftet, wegen wirklicher und fiktiver Verbrechen
angeklagt und gegen Jahresende erschossen. Sta-lins Komplizen, jenes
gute Dutzend von Parteiführern seiner Fraktion, die die Jahre des
Mas-senterrors überlebt hatten und an der Macht wie an den Verbrechen
des Despoten beteiligt waren, hatten sich auf diese Weise von der
finstersten Gestalt in ihrer Mitte befreit, vom Herrn des GULag, der
selbst beim Foltern und Morden Hand angelegt hatte. Von nun an wur-den
„Reformen“ nur mehr zögerlich in Gang gebracht; die Parteiführer gingen
einen Schritt vorwärts und hielten dann erschrocken inne oder nahmen
die Neuerung auch wieder zurück. Sie sahen nicht, dass sie selbst einer
wirklichen Änderung des Regimes im Wege standen und dass das von ihnen
nicht reformierbare politisch-ökonomische System am Ende dem
Kapita-lismus wieder zufallen würde. Chruschtschow, der letzte Muschik
und Utopist im Kreml, setzte sich 1957 mit Hilfe der Mehrheit des
Zentralkomitees gegen die stalinistischen Hardli-ner im Parteipräsidium
(Molotow, Kaganowitsch, Woroschilow) durch. Auf dem 22. Parteitag von
1961 versuchte er noch einmal, die Ent-Stalinisierung weiter zu
treiben. Nach Meinung seiner Genossen aber war er längst schon „zu
weit“ gegangen; sie stürzten ihn 1964 und schickten ihn in Pension. Das
in seine nachterroristische Phase eingetretene, im Übrigen
re-formunfähige sowjetische System siechte dann noch ein weiteres
Vierteljahrhundert dahin. Nach der Niederschlagung der ungarischen
Revolution (1956) und des „Prager Frühlings“ (1968), der gescheiterten
Intervention in Afghanistan (1979-1988) und dem schließlichen Sieg der
(1980 gegründeten und 1981 wieder verbotenen) polnischen
„Solidaritäts“-Bewegung (1989) unternahm Gorbatschow (in den Jahren
1985-1991) einen letzten Reform-versuch. Doch die durch Jahrzehnte von
der millionenstarken KPdSU gegängelte und von der Geheimpolizei
terrorisierte, durch Krieg und Mangelwirtschaft zermürbte Bevölkerung
blieb passiv. Nach dem Scheitern eines Putschversuchs der
stalinistischen Fraktion wurden (1991) sowohl die Kommunistische Partei
als auch der Zwangsverband der Sowjetunion aufgelöst. Nun trat das ein,
was die kommunistischen Gegner Stalins seit den zwanziger Jahren
befürch-tet hatten: Staat und Wirtschaft waren zugrundegerichtet,
Partei und Bürokratie suchten ihr Heil in der Flucht, restaurierten den
Kapitalismus und mutierten alsbald zu dessen neuer, füh-render Klasse.
Zu einer Ent-Stalinisierung, die diesen Namen verdiente, ist es in den
Nachfolgestaaten der Sowjetunion (und in den Nachfolge-Organisationen
der stalinistischen Parteien) bis heute nicht gekommen. Die
Auseinandersetzung mit der Stalinzeit, die Konfrontation mit der
wirk-lichen Geschichte des Landes seit 1917 und die Trauer über die
Menschenmassen, die einem zum Scheitern verurteilten Projekt geopfert
wurden, bleiben künftigen Generationen überlas-sen. Die Öffnung aller
geheimen Archive, die Identifizierung der Mörder und die Exhumie-rung
der Opfer der Massenmorde sind vertagt. Keiner von Stalins
Schreckensmännern, die das Jahr 1953 überlebt haben, musste sich je vor
Gericht verantworten. Noch immer gibt es auf dem Roten Platz kein
Denkmal für Stalins Opfer, noch immer residieren Berijas Nachfol-ger in
der Lubjanka. Die Geheimpolizei, der stalinistische Staat im Staat, hat
die Partei und die Sowjetunion überdauert. Einer aus ihren Reihen,
Putin, ist derzeit Präsident der GUS. Und erst vor wenigen Tagen, im
Februar 2006, hat er nicht etwa die Schließung der Sondergefäng-nisse
des FSB (wie der „Inlandsgeheimdienst“ inzwischen heißt) verfügt – des
berüchtigten Folter-Gefängnisses Lefortowo und anderer Zentren des
Schreckens –, sondern nur „gebil-ligt“, dass sie künftig formell
(wieder) dem Justizministerium unterstellt werden sollen…
Die antikapitalistisch und radikaldemokratisch orientierten
Minderheiten von heute müssen den Ausgang aus dem Labyrinth der
kapitalistischen Weltwirtschaft erst noch finden. Die Vergegenwärtigung
der Verfallsgeschichte der russischen Revolution wird ihnen die Sinne
schärfen.
16-03-2006, 18:21:00 |Helmut Dahmer