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Frankreich: Soziale Kämpfe ohne politische Orientierung

Der Gewerkschaftsaktivist und Aktivist der radikalen Linken in Frankreich, Michel Rousseau, analysiert nach dem Wahldämpfer für die Rechte und Sarkozy bei den Kommunalwahlen, die sozialen Kämpfe und die zersplitterte Linke.

22.04.2008

Frage: Die Beteiligung an den Demonstrationen am Samstag, den 29. März 2008, gegen die Rentenreformen war relativ schwach. Es scheint, dass Sarkozy die Auseinandersetzung um die Anhebung des Rentenalters gewonnen hat. Das ist jedoch nur die erste Etappe einer ganzen Reihe von „Reformen“ im Sozialbereich. Was droht als nächstes und besteht die Chance, dass sich ein breiter Widerstand dagegen entwickelt, ja vielleicht sogar eine neue soziale Bewegung entsteht?

Michel Rousseau: Für die Rechte bedeutet ‚Reform’ die Infragestellung sozialer Errungenschaften und die Umverteilung des produzierten Reichtums zugunsten der Kapitalprofite. Das hat lange vor Sarkozy begonnen. Neu ist, dass sie jetzt in kleinen Schritten vorgehen. Mit Sarkozy hat eine Art Generaloffensive begonnen. Er greift an allen Fronten an, um das Arbeitsrecht umzukrempeln. Es vergeht keine Woche, ohne dass ein neuer Vorstoß in diese Richtung erfolgt. Dabei werden Gewerkschaften und Unternehmerverbände aufgefordert, auf der Grundlage seiner Vorschläge eine Einigung zu erzielen. Andernfalls droht Sarkozy mit dem Parlament, wo er über die Mehrheit verfügt. Leider ziehen es die so genannten ‚repräsentativen’ französischen Gewerkschaften mit Ausnahme der CGT (die linke Gewerkschaftsunion SUD-Solidaires ist auf nationaler Ebene nicht als ‚repräsentativ’ anerkannt) vor, unter dem Vorwand, Tarifabkommen der übelsten Art abzuschließen. Begründung: im Parlament würde es noch schlimmer.

Es gibt durchaus eine Menge Kämpfe im ganzen Land, auch in Bereichen, in denen bislang kaum eine Mobilisierung stattfand, wie bei den Beschäftigten der großen Supermarktketten, für das Recht auf Wohnung oder zur Verteidigung der Sans Papiers (Einwanderer ohne gültige Papiere; Anm.d.Ü.). Angesichts des Fehlens einer glaubwürdigen linken Politik haben es die Kämpfe allerdings schwer, sich einander anzunähern. Aber Achtung: Eine ähnliche Situation hatten wir auch vor 1968. Damals schrieben die Journalisten, dass Frankreich langweilig geworden sei. Hoffen wir, dass 2008 ähnlich angenehme Überraschungen bereithält!

Eine Gemeinsamkeit aller Schichten der Bevölkerung ist derzeit die Forderung nach höheren Löhnen und Einkommen. Die Finanzkrise und die Abschwächung des ‚Wachstums’ werden jedoch zu neuen Sparmassnahmen führen. Hier steht Sarkozy vor einem Problem, denn sein wichtigstes Versprechen war, das Wirtschaftswachstum anzukurbeln. Die kommenden Monate werden zeigen, ob ihm das gelingt…

Gleichzeitig sollte man nicht vergessen, dass seine Freunde vom Unternehmerdachverband MEDEF derzeit eine interne Krise ohne Gleichen erleben. Auch hier sind ‚Reformer’ am Werk. Der ehemals tonangebende Industriellenverband UIMM steht wegen der ‚DGS-Affäre’ (schwarze Kassen) unter massivem Beschuss der neuen Patrons aus dem Finanz- und Dienstleistungssektor, der Bauindustrie etc.  Renommierte bürgerliche Zeitungen sprechen sogar von einem ‚internen Krieg’. Ganz so geschlossen ist das Regierungslager also nicht.

Bei den vergangenen Kommunalwahlen hat die Rechte eine empfindliche Niederlage erlitten. Ist das nur ein Denkzettel oder der Anfang vom Ende des "Modells Sarkozy"?

Von einem ‚Modell Sarkozy’ kann man nicht sprechen. Es handelt sich hier mehr um einen Ausdruck des Bruchs der reaktionären und ultraliberalen Fraktion der französischen Rechten, die mit den Großunternehmern der multinationalen Konzerne liiert ist. Ihre Bezugspunkte sind Bush und Thatcher, die Neokonservativen in den USA und der volkstümliche Stil eines Berlusconi. Sarkozy und seine Equipe haben stark an ihrem Medienimage gearbeitet. Es vergeht kein Tag, ohne dass Sarkozy dort einen Auftritt hat. Dabei verhält er sich ein bisschen wie ein aufgeblasener Schaumschläger. Kernaussage der Propaganda: Der ‚Wille’ reicht aus, um die Probleme zu lösen und: Sarkozy ist ein von der Vorsehung bestimmter Mann, der vor niemandem Angst hat. Doch einige Monate nach seiner Wahl sind die Probleme immer noch da und verschärfen sich sogar. Selbst die Rechte beginnt inzwischen an seinen Fähigkeiten zu zweifeln.

Die Ergebnisse der Kommunalwahlen zeigen, dass Sarkozy die Leute nicht mehr einlullt. Ein Teil seiner Wählerschaft ist nicht zur Wahl gegangen und die Linke hat wieder ihre alten Ergebnisse erzielt. Die Linke und die ‚linke Linke’ sind allerdings nicht in der Lage glaubwürdige politische Alternativen zu liefern. Sarkozy und seine Truppe ziehen daraus den Schluss, dass ihre Wähler enttäuscht sind, weil sie bei diesen so genannten ‚Reformen’ nicht weit genug gegangen sind, das heißt nicht bis zur völligen Zerstörung des ‚Sozialpaktes’. Die Verschlechterung der weltwirtschaftlichen Lage und die Beschleunigung der Finanzkrise veranlassen Sarkozy dazu die Angriffe auf die sozialen Errungenschaften, die Renten, die Verschärfung der Politik der Inneren Sicherheit - insbesondere die Jagd auf illegale Einwanderer - usw. zu verstärken. Kurz: Der Anfang vom Ende Sarkozys ist das noch nicht. Es sei denn es kommt zu einem unvorhersehbaren persönlichen oder politischen Zwischenfall. Sarkozy wird sich und seinen medialen ‚Stil’ ändern. Vor allem während der französischen EU-Präsidentschaft im zweiten Halbjahr 2008. Darüber hinaus wird er seine Politik des Sozialabbaus verstärken und die Sicherheits- und Kriegspolitik auf europäischer Ebene weiterentwickeln.“

Bei den jetzigen Wahlen haben die Sozialisten Terrain zurück gewonnen, während der PCF weiterhin in einer Krise steckt. In der radikalen Linken hat die Ligue Communiste Revolutionnaire (LCR) ein gutes Resultat erzielt, Lutte Ouvrière (LO) aber hat deutlich verloren. Wie ist die Situation der französischen Linken aus Deiner Sicht?

Trotz ihrer Niederlage bei den Präsidentschaftswahlen, trotz ihrer inneren Zerrissenheit über die Frage eines Referendums über den EU-Vertrag von Lissabon und trotz ihres Schweigens über die großen politischen und sozialen Probleme hat die Sozialistische Partei (PS) das beste Ergebnis erzielt. Die Wählerinnen und Wähler wurden vor allem aufgefordert bei dieser Wahl der Rechten eine Absage zu erteilen. Dieser Erfolg beendet die innere Krise der Sozialistischen Partei allerdings nicht. Insbesondere nicht in der Frage eines Bündnisses mit der neuen mitte-rechten Partei MODEM von Bayrou, die übrigens auch zu den Verlierern dieser Wahlen gehört. Es ist nicht immer ganz klar, wer die Sozialistische Partei eigentlich leitet und wer, auf der Grundlage welches Programms, ihr Präsidentschaftskandidat sein wird.

Die Kommunistische Partei (PCF) und die Grünen haben einen Teil ihrer Sitze und Ämter dank eines bereits im ersten Wahlgang eingegangenen Bündnisses mit dem PS ‚gerettet’. Nach und nach schrumpft die KP allerdings in ihren Hochburgen - wie dem Departement Seine-St.Denis - zugunsten der Sozialistischen Partei zusammen. Ihr bevorzugter Bündnispartner schluckt sie Stück für Stück. Auch für die KP geht die Krise weiter. Ende des Jahres ist ein Parteitag vorgesehen.

Die anti-liberalen und antikapitalistischen Listen (LCR - franz. Sektion der 4. Internationale, Alternatifs, Collectifs Unitaires…) haben gute Ergebnisse erzielt – besonders dort, wo sie vereint antraten. Von den mehr als 250 Listen errichten 145 mehr als 5% und rund 30 mehr als 10% der Stimmen. Die Wähler von Lutte Ouvrière (Arbeiterkampf – LO) haben zum Teil für diese Listen gestimmt. In anderen Fällen hat LO im ersten Wahlgang gemeinsame Listen mit PS und PCF gebildet. Die LCR wird wahrscheinlich von diesem Schub im Rahmen ihres eigenen Projekts des Aufbaus einer Neuen Antikapitalistischen Partei bis zum Ende des Jahres profitieren.

Die Frage der Herausbildung einer neuen, breiten und einheitlichen, anti-liberalen und antikapitalistischen politischen Kraft als Alternative zur Rechten und zum Sozialliberalismus bleibt bestehen. Das Nichtzustandekommen einer gemeinsamen Kandidatur bei den Präsidentschaftswahlen 2007 wiegt aber noch schwer. Es gibt im PS, im PCF, in der LCR, den Collectifs, bei den Grünen und in den Gewerkschaften, aber auch unter den Unorganisierten etliche Aktivisten, die für die Einheit sind. Aber in den Organisationen bilden sie die Minderheit und es gelingt ihnen nicht, konkrete Wege zu finden, damit diese neue Kraft entsteht. Es gibt diesbezüglich große Erwartungen, aber es braucht Zeit, um das zu konkretisieren.

In den letzten Monaten haben Sarkozy und die UMP heftig gegen die 68er- Bewegung agitiert und sie für alle Probleme verantwortlich gemacht, die Frankreich heute hat. Warum diese ganze Aufregung nach 40 Jahren?

Sarkozy und die Rechte regen sich über 1968 auf, aber es geht ihnen um sehr viel mehr. Ihr erklärtes Ziel ist es, den 1945 im Rahmen des Nationalen Widerstandsrates (CNR), dem Gaullisten, Kommunisten usw. angehörten, geschlossenen ‚Sozialpakt’ zu beseitigen. Sie wollen die sozialen Errungenschaften der ‚glorreichen 30 Jahre’ in Frage stellen: die Krankenversicherung, Arbeitslosenversicherung, die sozialen Mindeststandards, die 35-Stunden-Woche etc. Es handelt sich um einen allgemeinen Sozialabbau und – auf ideologischem Gebiet - darum jede andere Art von Gesellschaft als die neoliberale und kapitalistische in Frage zu stellen.

Für die Rechte repräsentiert `68 den Willen anders zu leben, anders zu arbeiten, internationale Solidarität, Gleichheit, Schutz der Umwelt etc. Sie wollen zeigen, dass das alles alte Kamellen sind und sie die Zukunft repräsentieren. Mit dem einzigen Ziel, mehr zu arbeiten, um mehr zu verdienen und dann mehr zu konsumieren. Diese Wahlen zeigen jedoch, dass ihnen immer weniger Leute vertrauen, weil sie bereits außer Stande sind Arbeitsplätze, Löhne und Einkommen zu sichern, ganz einfach um zu leben und nicht nur irgendwie zu überleben.

Danke für das Gespräch.


Michel Rousseau ist aktiv in der französischen Basisgewerkschaft SUD, der Arbeitslosenorganisation AC! und den parteiübergreifenden, linken Collectifs Unitaires. International ist er einer der Koordinatoren der Euromärsche gegen Erwerbslosigkeit, Prekarität und Ausgrenzung.Vorbemerkung, Interview  und Einfügung in blau:   Gewerkschaftsforum Hannover