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Die Schuldner vor dem Ausbluten schützen: Lehren aus Argentinien

Im Jahr 2002 erklärte Argentinien mit einem Schuldenberg von 100 Mrd. US-Dollar seine Zahlungsunfähigkeit. Griechenland macht derzeit dasselbe Drama durch. Für die Bewältigung der Schuldenkrise lassen sich aus dem argentinischen Beispiel Lehren ziehen.

11.10.2011

Im Verlauf der 90er Jahre stiegen die argentinischen Staatsschulden von 84 auf 147 Mrd. US-Dollar, die Last des Schuldendiensts erdrückte den Staatshaushalt – sie war dreimal so hoch wie die laufenden Ausgaben und sechsmal so hoch wie der Sozialetat. Periodisch mussten Umschuldungen vorgenommen werden, um eine Bankrotterklärung zu vermeiden. Dafür verlangten die Banken Wucherzinsen.
Griechenlands Verschuldung beläuft sich auf einen ähnlichen hohen Anteil am Bruttoinlandsprodukt (BIP) wie die von Argentinien damals und greift zu denselben Mitteln, um die Gläubiger zufrieden zu stellen. Seit dem vergangenen Jahr greift es immer wieder zu «Rettungsplänen», um eine Zahlungsunfähigkeit zu vermeiden.

Gemeinsamkeiten


Die Entscheidung, vor allem die Gläubiger zufrieden zu stellen, führte Argentinien an den Rand einer sozialen Katastrophe: die Armutsquote stieg auf 54%, die der Erwerbslosen auf 35%, die Ärmsten litten Hunger. Die Löhne wurden gekürzt und die direkten Steuern angehoben, die Ausgaben für Bildung zusammengestrichen und das Rentenalter sukzessive angehoben. Dasselbe passiert in Griechenland: 20% der Stellen im öffentlichen Dienst wurden im Verlauf dieses Jahres gestrichen, die Renten um 10% gekürzt, die Mehrwertsteuer angehoben, das öffentliche Gesundheits- und Bildungssystem ruiniert.

Vor zehn Jahren hatte Argentinien bereits die Mehrheit des öffentlichen Eigentums privatisiert (die Ölgesellschaft, die Strom- und Gasversorgung, die Telefongesellschaft) und bereitete sich darauf vor, auch den Rest noch zu verkaufen: die Nationalbank, Staatsunternehmen in verschiedenen Provinzen, die staatliche Lotterie, die Universitäten. Griechenland ist jetzt dabei, die Post, die Häfen und Wasserbetriebe zu verkaufen. Nur die Akropolis bleibt von den Ramschverkäufen verschont, in die einige deutsche Kapitalisten gerne auch noch die Inseln einbeziehen würden.

Dieselben Beamten des IWF, die heute Memoranden über Griechenland verfassen, tauchten damals periodisch als Inspektoren am Südzipfel Lateinamerikas auf und wählten die Aktiva aus, die den Gläubigern auszuhändigen wären. Das Parlament veranstaltete dieselben Notsitzungen, und der IWF stellte eine ganz ähnliche Task Force wie jetzt die Troika zusammen, um die Steuereinkünfte zu überwachen. Alles soll unter den Hammer, alle Kosten auf die Bevölkerung abgeladen, die entwerteten Staatsanleihen anderen Staaten übereignet werden. Damit können diese dann ihre Bilanzen sanieren.
In Argentinien hat dieser Raubzug mehrere Jahre gedauert; mehrfach wurden die Schuldenzahlungen eingestellt und wieder aufgenommen. Gleichzeitig setzte eine illegale Kapitalflucht ein, die den ausländischen Banken neue Einlagen verschaffte. Die Summen, die damals ins Ausland geschaffen wurde, sind heute noch erheblich höher als die Staatsverschuldung. Die Banken haben bei diesem Geschäft saftige Gewinne eingestrichen, sie haben die entwerteten Staatsanleihen zum Nennwert in ihren Büchern weitergeführt und die notleidendsten unter ihnen nach und nach abgestoßen.
Die Staatsanleihen Griechenlands werden den Banken von der EZB abgekauft, dafür dürfen sie neue ausgeben, für die sie Wucherzinsen kassieren.

Unterschiede


Doch die griechische Krise ist bedeutend explosiver als die argentinische. Nicht nur ist das Haushaltsdefizit viel größer (10,5% statt 3,2% wie in Argentinien), eine Einstellung des Schuldendienstes würde die Banken im Falle Griechenlands auch viel stärker treffen als in Argentinien. Zum Zeitpunkt der Erklärung der Zahlungsunfähigkeit Argentiniens hatten die Banken den Großteil ihrer Vermögenswerte bereits ins Ausland transferiert. Deshalb duldete sie der IWF, während die EZB hat eine ähnliche Lösung für Griechenland bislang verworfen hat.

Es gibt noch einen großen Unterschied: Die Schulden Argentiniens wurden von einem IWF-Team kontrolliert, das unter der unmittelbaren Aufsicht der USA stand. Die Schulden Griechenlands werden von einer Troika überwacht, die nur wenig Autorität besitzt und nicht einem zentralisierten europäischen Staat verantwortlich ist. Meinungsverschiedenheiten, z.B. zwischen Deutschland und Frankreich, kann sie kaum entscheiden. Die beiden Staaten waren sich ursprünglich einig, Zahlungsschwierigkeiten aus ihren jeweiligen Staatskassen auszugleichen. Doch die rasante Beschleunigung der Krise zwingt sie dazu, auch die privaten Gläubiger mit heranzuziehen. Deutschland ist sich bewusst, dass eine Rettungsaktion ausschließlich aus öffentlichen Mitteln katastrophale Folgen für den Haushalt hätte. Frankreich hingegen lehnt eine Beteiligung privater Gläubiger ab, weil es dann einen massiven Kapitalverlust für seine Banken fürchtet. Im Moment hat man sich auf eine «freiwillige» Beteiligung der Privaten und eine nochmalige Ausweitung des Rettungsschirms geeinigt.

Einen so dramatischen Verlauf nahm die argentinische Krise nie. Die griechische Krise hängt an einem europäischen Finanzsystem und an einer Währung, dem Euro, die Griechenland mit 16 anderen Ländern teilt. Anders als in Argentinien hätte ein massiver Abzug von Einlagen Auswirkungen auf den gesamten Kontinent.
Das Problem ist, dass die griechische Krise die Länder der sog. Ersten Welt trifft. Die Staatsschulden Frankreichs, Deutschlands, Japans und der USA – jeweils 81%, 80%, 220% und 91% des BIP – können nicht mit derselben Gelassenheit angegangen werden wie in Argentinien, hinter ihnen steht niemand mehr, der sie auffängt.

Drei Lehren


Die Einstellung des Schuldendienstes in Argentinien hat sich über drei Jahre hingezogen. Sie hat den Anteil der argentinischen Staatsschulden an den Exporten und am BIP deutlich gesenkt; die Hälfte der Schulden konnte in einheimischer Währung zurückgezahlt werden. Für die argentinische Wirtschaft war das eine Sauerstoffspritze. Alle Albträume, die die Banken an die Wand gemalt hatten, um die Schuldner einzuschüchtern und von ihrem Schritt abzuhalten, sind in sich zusammengebrochen: Weder ist das Land «aus der Weltgemeinschaft» gefallen, noch hat es Märkte verloren, noch wurden seine ausländischen Vermögenswerte konfisziert.

Aus Argentinien lassen sich für Griechenland drei wichtige Lehren ziehen:


Die erste sagt: Der Schuldner muss unbedingt vor der Ausblutung geschützt werden – durch eine einseitige Einstellung des Schuldendienstes. Dafür muss ein geeigneter Zeitpunkt gewählt werden. Griechenland sollte dies tun, bevor es all sein Vermögen verliert. Noch ist es handlungsfähig, während seine Gläubiger von vielen faulen Krediten geplagt werden; das Land sollte nicht solange warten, bis die Banken sie alle umtauschen konnten.

Zweitens muss sofort eine Anhörung über die Schulden beginnen. In Argentinien wurde darüber viel diskutiert, doch die Banken haben jeden Vorstoß in diese Richtung, auch von Parlamentariern, vereitelt. Ein Schuldenaudit hat es in Argentinien, anders als in Ecuador, nicht gegeben. In Griechenland könnte es ihn geben. Der illegitime Teil der Schulden könnte dann abgeschrieben, ein Register der Inhaber von Schuldentiteln aufgestellt werden. Das braucht man, um die Berechtigung der Schuldeneintreibung zu prüfen.

Die dritte Lehre ist, dass die Banken verstaatlicht und die Kapital- und Devisenbewegungen vollständig unter öffentliche Kontrolle gestellt werden müssen. Das muss vor der Einstellung der Schuldenzahlung geschehen.

Ausstieg aus dem Euro?


Einige Ökonomen halten es für wichtiger, sofort aus dem Euro auszusteigen. Aber selbst in diesem Fall muss die Regierung sich ihrer Vermögenswerte versichern und die ungehemmte Kapitalflucht verhindern, die mit einem solchen Schritt verbunden wäre. Das geht nur über die Verstaatlichung der Banken und eine strikte Kontrolle der Kapital- und Devisenbewegungen.

In Argentinien wurden diese Maßnahmen nicht ergriffen, mit dem Ergebnis, dass die Währung nicht mehr konvertibel war (Argentinien sich also nicht auf dem Kapitalmarkt refinanzieren konnte) und die Inflation galoppierte. In Griechenland gilt es zu berücksichtigen, wie die Importe weiter bezahlt, Tourismus und Schifffahrtindustrie aufrecht erhalten werden können. Ein Ausstieg aus dem Euro ohne solche Schutzmaßnahmen würde die Lage nur verschlimmern.

Schließlich ist Griechenland viel stärker an Europa gebunden als Argentinien an Lateinamerika. Europa ist ein Wirtschaftsraum mit einer recht ausgeglichenen Leistungsbilanz, während Lateinamerika nach wie vor traditionelle Abhängigkeiten von den Zentren der Weltwirtschaft aufweist.
Griechenland muss ein eventuelles Schuldenmoratorium von gemeinsamen Aktionen mit seinen Nachbarn in der Region bzw. an der Peripherie Europas begleiten: Irland, Portugal, Island usw. In Lateinamerika ist der «Klub der Schuldner» nie zustande gekommen, auf dem alten Kontinent aber gibt es einen hohen Grad an Kooperation, die umso wichtiger wird, je mehr auch größere Länder wie Spanien oder Italien Gefahr laufen, unter das Schuldendiktat zu kommen.
Dafür muss ein Land aufstehen und sagen: Wir zahlen die Schulden nicht, lasst uns ein Netz der Solidarität spannen. Griechenland könnte das tun.

Claudio Katz

(Der Autor ist Wirtschaftsprofessor an der Universität Buenos Aires und Mitinitiator verschiedener Initiativen gegen den Freihandel und die Außenschulden. Quelle: SOZ