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Die Flamme des „Che"

Auch vierzig Jahre nach seinem Tod ist die Anziehungskraft des Che auf viele Jugendliche, die sich gegen die Barbarei der Weltordnung auflehnen, noch immer ungebrochen. Unsere französischen LCR-Genossen (Michael Löwy (Soziologe und Autor) und Olivier Besancenot (zweifacher Präsidentschaftskandidat der LCR) haben seinem politischen Werk und der Aktualität seines Kampfes ein Buch gewidmet, das kürzlich in französischer Sprache erschienen ist(1). Hier einige Auszüge.

09.11.2007

Ernesto Guevara de la Serna, argentinischer Arzt und späterer Industrieminister in Kuba ist am 8. Oktober 1967 im Kampf gegen die bolivianische Militärdiktatur gefallen. Biographien über das Leben des Che gibt es hinreichend. Unser Anliegen war es, uns mit den Ideen, Wertvorstellungen, Analysen, Vorschlägen und Visionen dieses Menschen auseinander zu setzen. Dass er mit der Feder genau so gut wie mit dem Gewehr umzugehen verstand, ist bekannt - aber wofür kämpfte er? Welche Vorstellungen hatte er vom Befreiungskampf der Völker Lateinamerikas und der übrigen Welt? Wie war sein Verständnis des Sozialismus, des „neuen Menschen" und der Gesellschaft nach der Überwindung des kapitalistischen Albtraums? Mit diesen Fragen wollen wir uns in dem vorliegenden Buch auseinandersetzen, ohne gleichwohl den Anspruch auf eine letztgültige Antwort zu erheben.
Ernesto „Che" Guevara war weder Heiliger, noch Übermensch oder unfehlbarer Führer. Er war ein Mensch wie jeder andere, mit Stärken und Schwächen, lichten und bornierten Momenten, Irrtümern und Ungeschicktheiten. Aber er verfügte über eine Eigenschaft, die im politischen Leben nur selten zu finden ist: Übereinstimmung zwischen Wort und Tat, Idee und Praxis, Denken und Handeln. Insofern war er eine Ausnahmeerscheinung und eben diese Einzigartigkeit macht ihn für viele und besonders für junge Menschen überall auf der Welt noch heute attraktiv.
Als unversöhnlicher Gegner des Imperialismus -  eine Völker zermalmende Maschinerie - und des Kapitalismus - ein von Grund auf perverses System - war Guevara ein revolutionärer Marxist. Sein Verständnis von Marxismus, das auf eher unsystematischer Lektüre, persönlichen Begegnungen und Erfahrungen beruhte, passt in keine der herkömmlichen Schubladen. Von den 50er Jahren an bis zu seinem vorzeitigen Tod durch die Henker der bolivianischen Diktatur setzte er sich mit der politischen Materie auseinander, stets bestrebt, sein Verständnis davon zu vertiefen und eine eigene Sichtweise zu entwickeln. Unser Anliegen ist es, den Entwicklungsprozess seines politischen Denkens sichtbar zu machen.
Wir Autoren dieses Buches gehören zwei verschiedenen Generationen an wie sich auch unsere Herangehensweise an das Werk des Che unterscheidet, ebenso die literarische Aufarbeitung und die Interpretation. Trotzdem sind unsere Methoden weit davon entfernt, gegensätzlich zu sein, sondern durchaus mit einander vereinbar, komplementär und konvergent. Als Ergebnis liegt eine Arbeit vor, die weder „Handbuch des Guevarismus" sein will noch vorgibt, die Systematisierung eines Werkes anzustreben, das wenig systematisch und fortlaufenden Änderungen unterworfen war. Unser Buch ist vielmehr in erster Linie ein Versuch, den Beitrag von Ernesto „Che" Guevara zum Sozialismus des 21. Jahrhunderts aufzuzeigen. [...]

Ya Basta(2)
Und genau dort, wo die Kämpfe des Che ihre Spuren hinterlassen haben - im Zentrum des anderen Amerikas - glomm der erste Schimmer einer besseren Zukunft wieder auf - umso eindrucksvoller, als die damaligen Zeiten besonders düster waren. Am 1. Januar 1994 ergriffen in Chiapas im Südosten Mexikos die zapatistischen Bauern ihre Waffen, um der neuen Weltordnung ein Ya basta! entgegen zu schleudern. Im Dezember 1995 läuteten in Frankreich die ersten großen Proteste gegen den Neoliberalismus das Wiederaufflammen der sozialen Kämpfe ein.
Seither hallt die Parole: „Eine andere Welt ist möglich!" unter den Völkern der Erde wider. Man hört diesen drängenden Schrei in den Generalstreiks in Europa und Asien, er bricht aus den aufständischen Bewegungen Lateinamerikas in Venezuela, Argentinien, Bolivien, Ecuador ... hervor und er wird von den Sozialforen der Antiglobalisierungsbewegung aufgenommen.
Gegenwärtig ist der Kapitalismus noch immer obenauf und stellt sich mit umso mehr Arroganz zur Schau als er nicht mit einer glaubwürdigen politischen Alternative konfrontiert wird. Das Erbe des Stalinismus lastet als schwere Hypothek auf der sozialistischen Vorstellung. Er hat nicht nur Millionen von Toten hinterlassen, sondern vielmehr unter einer ganzen Generation die Idee diskreditiert, dass ein anderes Regime als das kapitalistische erfolgreich umgesetzt werden kann. Und doch steigt aus seiner Asche wieder eine Vision hervor und die Phantasie nimmt wieder Gestalt an. In diesem Wiederaufleben von Vorstellungen, die egalitäre, demokratische und antibürokratische Lösungen suchen, wird auch das geistige Vermächtnis des Che zu einer unerschöpflichen Quelle der Inspiration. Ein endgültiges Modell existiert nicht, vielmehr muss die Bilanz der Revolutionen des vergangenen Jahrhunderts neu geschrieben werden. Die Revolutionäre müssen die Episoden von der Pariser Commune von 1871 über die russische Oktoberrevolution von 1917 und die spanische Revolution von 1936 bis hin zu den lateinamerikanischen Revolutionen von 1960 und 1970 kritisch hinterfragen und daraus die geeigneten Antworten für eine demokratische Lösung schöpfen. Und sie müssen auch wieder lernen, dass die große Masse der Ausgebeuteten und Unterdrückten in der Lage ist, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, wenn sie vereint und solidarisch und dazu entschlossen ist.[...]

Internationalismus
Es war kein Zufall, dass sich auf der Trikontinentale, dem großen internationalistischen Ereignis von 1967, die revolutionären Kräfte aus Asien, Afrika und Lateinamerika versammelten. Ohne deswegen auf die Dritte Welt fixiert zu sein, galten auch für Guevara die abhängigen Länder oder Kolonien als lebendiger Mittelpunkt im Kampf gegen den Imperialismus und für eine neue Gesellschaft. Und der neue Internationalismus des 21. Jahrhunderts wurde aus der Taufe gehoben, als die EZLN 1996 in den Bergen von Chiapas eine Versammlung einberiefen: das interkontinentale oder -  in der ironischen Sprache von Subcommandante Marcos - intergalaktische Treffen für Menschlichkeit und gegen den Neoliberalismus. Es war auch kein Zufall, dass dies denkwürdige Treffen, an dem Tausende von Gewerkschaftern, Kämpfern für die Rechte der ländlichen und der Ursprungsbevölkerung, Intellektuellen, Studenten und Aktivisten aus den verschiedensten Strömungen der Linken aus 40 Ländern der Erde, einschließlich USA und Europa, zusammengekommen waren, von einer revolutionären Bewegung aus der guevaristischen Tradition organisiert worden ist. Lediglich die von der Interkontinentale ausgehende Dynamik war eine andere, universellere, als die der Trikontinentale. Ihre Kampfmethoden sind vielfältiger und weniger auf den bewaffneten Kampf ausgerichtet, ohne deswegen „gewaltfrei" zu sein. Die Bewegung der weltweiten Kämpfe gegen die brutale Herrschaft des neoliberalen Kapitalismus ist entstanden in den Dörfern der Eingeborenen von Chiapas und hat seine Feuertaufe bestanden in den Straßenkämpfen in Seattle 1999 gegen den Gipfel der WTO.[...]

Revolutionärer Humanismus
Die Rede ist hier von dem dritten und ebenso wichtigen Aspekt wie die vorangegangenen: der positiven Utopie in der Bewegung. Die Parole „Eine andere Welt ist möglich!" ist nicht weniger radikal und zielt nicht einfach darauf ab, die Exzesse des Kapitalismus und seiner zerstörerischen neoliberalen Politik zu korrigieren. Dahinter stehen vielmehr eine Vision und ein Kampf für eine andere Zivilisation, eine andere soziale und ökonomische Ordnung und eine andere Form des Zusammenlebens auf der Erde. An diesem Anspruch muss der Bezug auf das ethische, revolutionäre und humanistische Vermächtnis von Che Guevara gemessen werden. Die Utopie der Globalisierungsgegner zeigt sich in erster Linie in den gemeinsamen Werten, in denen die Konturen dieser „anderen möglichen (und zutiefst menschlichen) Welt" sichtbar werden.
Der erste dieser Werte ist das menschliche Wesen an sich. Die Utopie der Bewegung zeugt von kompromisslosem Humanismus, wenn sie fordert, dass die Bedürfnisse und Hoffnungen der Menschen im tatsächlichen Mittelpunkt einer Reorganisation von Wirtschaft und Gesellschaft stehen müssen. [...]

Selbstverwaltung
Diese sozialistische Selbstverwaltung ist die demokratischste Gesellschaftsform. Obwohl er sich dessen bewusst war, wandte sich Guevara gegen die Selbstverwaltung ab dem Moment, wo die Dezentralisierung der Unternehmen mit finanzieller Unabhängigkeit der Produktionseinheiten einher gehen sollte, da er darin eine unvermeidliche Einführung des Konkurrenzprinzips sah. Zu Recht bekämpfte er alle Überbleibsel und Nischenexistenzen der Marktwirtschaft. Die Selbstverwaltung wirft die grundsätzliche Frage nach dem Eigentum an den relevanten Produktionsmitteln auf, über das ein System verfügt. Denn auf dieser Ebene bedeutet „Eigentum gleich Macht", Entscheidungshoheit also. In einer wahrhaftigen Demokratie muss es erlaubt sein, über alle Entscheidungen, die die Allgemeinheit oder die Wirtschaft betreffen, im Rahmen demokratisch gewählter Gremien zu befinden. Insofern steht Ches Anliegen einer Planwirtschaft nicht im Widerspruch zur Selbstverwaltung. Wenn der Sozialismus nicht nur auf dem Papier stehen soll, kann er sich nicht damit begnügen, dass bloß die Regierung in andere Hände übergeht. Denn der Staat ist nicht neutral. Und wenn man neue Institutionen schaffen will, die von unten nach oben und nicht umgekehrt funktionieren, muss man die alten staatlichen Strukturen abschaffen und Mechanismen demokratischer Kontrolle einführen. Aus eigener Erfahrung war Guevara zu der Schlussfolgerung gelangt, dass es unmöglich ist, die Gesellschaft zu verändern, ohne zu einem anderen Gesellschaftssystem überzuwechseln. Eine solche Änderung erfordert letztlich die Ersetzung des Staates durch nichtstaatliche Formen der Macht, die auf der direkten Beteiligung der Bevölkerung beruhen - Räte, Versammlungen.
In der Debatte über den Sozialismus des 21. Jahrhunderts, die mit zunehmender Intensität nicht nur in Venezuela, sondern in ganz Lateinamerika und darüber hinaus geführt wird, gilt das Vermächtnis des humanistischen und revolutionären Sozialismus von Che als Richtschnur in moralischen und politischen Fragen. Das Streben nach einem unbelasteten Sozialismus ist kein Hirngespinst einer Handvoll unverbesserlicher Träumer. Er hat insofern etwas Utopisches, als er sich auf etwas Künftiges richtet und versucht, sich vorzustellen, wie eine Gesellschaft von morgen als Alternative zum Kapitalismus aussehen könnte.[...]

Die Zeit drängt
Vierzig Jahre später sind neue Bruchlinien in der Bevölkerung aufgetreten. Der Neoliberalismus hat durch die Prekarisierung der Lohnarbeit und die Privatisierung öffentlicher Aufgabenbereiche das Maß an Solidarität erheblich beeinträchtigt. Unter der einfachen Bevölkerung sind unsichtbare Mauern entstanden, die durch Vorurteile gestärkt werden: zwischen Arbeitslosen und Lohnabhängigen, prekär Beschäftigten und tariflichen Kräften, Männern und Frauen, Jungen und Alten, Staatsangehörigen und Immigranten ... Und dennoch haben diese neuen Schichten unter den Lohnabhängigen gelernt, der kapitalistischen Globalisierung gemeinsam Widerstand zu leisten. Durch das Wiederaufleben weltweiter Kämpfe entstehen neue Erfahrungen, die an die Konzeption einer anderen und glaubwürdigen Gesellschaftsordnung glauben lassen. Der Sozialismus und Kommunismus des 19. Jahrhunderts ist aus der dialektischen Beziehung von Theorie - Fourier, Marx, Engels, Bakunin und vieler anderer - und im Kampf erworbenen praktischen Erfahrungen der Unterdrückten und ihrer Organisationen heraus entstanden. So wie damals die Hoffnung von unten her entstanden ist, wird sie auch wieder von unten kommen.
Neue politische Zeitläufe brechen heran. Die Revolutionäre von heute werden ihnen mit einer Portion berechtigter Zweifel, aber auch mit gewachsenen Überzeugungen gegenübertreten. Die rot-schwarze Fahne von Guevara hat die Zeiten und die laufenden Umwälzungen besser als andere Farben überdauert. Für Che war der Sozialismus kein schlüsselfertiger Gesellschaftsentwurf; der Kampf für den Sturz des Kapitalismus sollte von jedem als dringliches persönliches Anliegen verstanden werden. Eine Dringlichkeit, die aktueller denn je ist.


Übersetzung MiWe
1 Guevara, une braise qui brûle encore  ist 24.9.2007 bei Mille et une nuits erschienen.
2 Span. für: Es reicht!