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Die entgleiste Revolution: Ein Rückblick nach neun Jahrzehnten

Helmut Dahmer

Die Russische Revolution: Im März (Februar) 1917 kam es – nach einer Reihe von Streiks und Brotkrawallen – zu einer Massenmeuterei der russischen Arbeiter- und Bauernsoldaten gegen den Zaren und seine Generäle. Das war der Anfang vom Ende der Massenschlächterei des ersten Weltkriegs. Die gesellschaftlichen Träger der Revolution waren 5 Millionen Industrie- und Transportarbeiter und 100 Millionen landlose Bauern.

09.11.2007

Im Laufe des Jahres radikalisierten sich infolge der Unfähigkeit der einander ablösenden „Provisorischen Regierungen“ die Arbeiterselbstverwaltungs-Organe („Räte“, „Sowjets“) in den großen Städten. Der bolschewistischen Partei, die im Laufe des Revolutionsjahres von 40.000 auf 240.000 Mitglieder anwuchs, gelang es unter der Führung Lenins und Trotzkis mit den Losungen „Nieder mit den kapitalistischen Ministern“, „Alle Macht den Räten“, „Frieden ohne Annexionen“, „Das Land den Bauern“ die Mehrheit in den Sowjets zu erobern, einen Aufstand gegen die (letzte) Regierung Kerenski zu organisieren und eine sozialistische Koalitionsregierung mit den Linken Sozialrevolutionären zu bilden. Die Bolschewiki gingen sogleich daran, die überkommenen Institutionen der „kombiniert“ entwickelten russischen Gesellschaft von Grund auf zu ändern (Parzellierung des Bodens, Arbeiterkontrolle über die industrielle Produktion, Verstaatlichung der Banken, Räteverfassung). Doch im Laufe der folgenden 3 ½ Jahre Interventions- und Bürgerkrieg wurde die minoritäre russische Arbeiterschaft aufgerieben. Die bolschewistische Partei sah sich gezwungen, zu einer „jakobinischen“ Stellvertreter-Politik überzugehen. Sie illegalisierte nicht nur die „bürgerlichen“, sondern auch die mit ihr konkurrierenden sozialistischen Parteien, schuf mit der Tscheka eine Organisation des „roten Terrors“ und militarisierte sich. 1921 wurde das innere Leben der einzig verbliebenen Diktaturpartei durch das Fraktionsverbot gelähmt. Nirgendwo in Europa ließ sich die Oktoberrevolution reproduzieren; das revolutionäre Rußland blieb international isoliert.
Drei Jahre nach dem Ende des Bürgerkriegs machte der vormalige Nationalitätenkommissar und amtierende Generalsekretär der Partei, Stalin, aus dieser Not eine Tugend und proklamierte den Aufbau des „Sozialismus“ innerhalb der Grenzen der UdSSR. Als „sozialistisch“ galt aber eine Gesellschaft, die hinsichtlich der Arbeitsproduktivität, des Lebensstandards und der Freiheit und Gleichheit der Individuen den höchstentwickelten kapitalistischen Staaten überlegen war. Stalins nationalistische Utopie war zum Scheitern verurteilt. Nachdem seine Fraktion sich in den Fraktionskämpfen der zwanziger Jahre durchgesetzt hatte, entfesselte sie den Massen-Terror, der viele Millionen Menschen verschlang, um dem von ihr proklamierten, unerreichbaren Ziel zumindest ein Stück weit näherzukommen. Die gegen die bäuerliche Mehrheit gewaltsam durchgesetzte Kollektivierung des Bodens und die nachholende Industrialisierung des Landes wurden mit einer Hungersnot (und jahrzehntelanger Mangelwirtschaft), mit der Versklavung der Kolchos-Bauern und der Disziplinierung der aus der bäuerlichen Überschußbevölkerung rekrutierten neuen sowjetischen Arbeiterklasse erkauft. Stalins Massenterror der dreißiger Jahre und die ihm folgenden Terrorwellen während und nach dem Krieg und in den letzten Lebensjahren des Despoten richteten sich gegen jedwede mögliche innere Opposition, gegen die soziale ebenso wie gegen die nationale. Isaac Deutscher hat darum von einem „politischen Genozid“ gesprochen. Tatsächlich ist es Stalin und seinen Nachfolgern, ist es der stalinisierten KPdSU und der von ihr dirigierten Geheimpolizei gelungen, die Spontaneität der sozialen Klassen, in deren Namen sie die Kontrolle über Staat und Wirtschaft ausübte, auszulöschen. Stalin hat mehr Kommunisten umbringen lassen als Hitler, und die verhängnisvolle Politik der von Moskau gesteuerten kommunistischen Parteien hat revolutionäre Entwicklungen in aller Welt erfolgreich blockiert (im China der zwanziger Jahre wie im Deutschland der frühen dreißiger Jahre, in Spanien wie in Chile, in Polen wie in Ungarn oder in der Tschechoslowakei). Die teuer erkaufte, nachholende Industrialisierung hat es der Stalinführung im zweiten Weltkrieg ermöglicht, im Bunde mit der stärksten imperialistischen Macht, den USA, Hitlers Armeen zurückzuwerfen und die osteuropäischen Staaten zu kontrollieren („strukturelle Assimilation“).
An ein „Einholen und Überholen“ der höchstentwickelten kapitalistischen Staaten war nie zu denken, weil – entgegen der Annahme der Bolschewiki – der Kapitalismus seine Möglichkeiten weder in der ersten, noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erschöpft hatte. Trotzki schrieb 1925, im Falle eines neuerlichen Aufschwungs der kapitalistischen Weltwirtschaft müsse die Sowjetunion zwar versuchen, das Tempo ihrer wirtschaftlichen Entwicklung zu steigern, habe aber (auf sich gestellt) keine Chancen, mit der kapitalistischen Entwicklung Schritt zu halten.(1) Die Stalin-Erben verzichteten auf den Massenterror und gewannen noch einmal eine Galgenfrist von zwei Jahrzehnten. Doch alle Versuche, die bürokratische Kommandowirtschaft von oben her zu reformieren, scheiterten. Seit den sechziger Jahren sanken deren Zuwachsraten, und das Wettrüsten (also die Umwandlung von Produktivkräften in Destruktivkräfte) beschleunigte den schließlichen Zusammenbruch der Staatswirtschaft. Die Nomenklatura setzte als letzte ihrer Reformen die Rückkehr zum Kapitalismus auf die Tagesordnung und konnte das Staatseigentum an den Produktionsmitteln in Privateigentum umwandeln, ohne auf irgendwelchen Widerstand der nominell herrschenden Klassen zu stoßen.
Im Unterschied zur Pariser Kommune von 1871 wurde der revolutionär begründete, bald aber „entartete“ Arbeiter- und Bauernstaat nicht schon nach kurzer Zeit militärisch zerschlagen, sondern konnte sich sieben Jahrzehnte lang halten. Der Preis, den die sowjetische Bevölkerung für die Industrialisierung und für die Aufrechterhaltung der Herrschaft der substitutionistischen Bürokratie zahlen mußte, war ein fürchterlicher. Ins Gedächtnis der Menschheit wird der als „sozialistisch“ firmierende Staat Stalins und seiner Nachfolger als eines der Menschenfresser-Regime des barbarischen 20. Jahrhunderts eingehen, als ein Regime des Mangels, der Ungleichheit, der totalitären Kontrolle, der Massendeportationen und des Massenmords. Das Projekt einer institutionellen Umgestaltung der kapitalistischen Gesellschaft, das im Jahr 2007 so aktuell ist wie im Jahre 1917, ist dadurch auf Generationen hinaus diskreditiert.
Die gegenwärtige Verfassung der Weltgesellschaft ist unhaltbar. Ein Fünftel der Menschheit lebt in irdischen Paradiesen, ein anderes Fünftel vegetiert in irdischen Höllen. Die Kluft zwischen Arm und Reich, zwischen den verelendeten Ländern und den führenden Industrienationen wächst. Die Mittel, die dazu dienen könnten, diese Kluft zu schließen, werden in Kriegen „gegen den Terror“ vergeudet, die zugleich Kriege um Einflußzonen und Bodenschätze sind. Es ist also nicht nur der von der Industrialisierung bewirkte Klimawandel, der, wie dieser Tage ein kluger Journalist schrieb, die soziale Revolution erzwingt(2), sondern es ist auch das steigende Risiko eines „nuklearen Holocaust“ und es ist das System der kapitalistischen Renditenwirtschaft, an dem Reformen, die diesen Namen verdienten, scheitern.
Die Alternative, die den Oktoberrevolutionären von 1917 vorschwebte – die Beseitigung der privaten Verfügung über die gesellschaftliche Produktion, die Abschaffung der Stellvertreter-Politik und die Überwindung von Hunger und Mangel mit Hilfe einer demokratisch kontrollierten, weltweiten Planwirtschaft – ist diskreditiert. Doch es ist die einzige Alternative. Die Oktoberrevolution war die Ausnahme, aus der sich keine Regel machen läßt. Sie ließ sich weder in Deutschland (1923), noch irgendwo sonst wiederholen. Unsere und die auf uns folgenden Generationen sind – bereichert um die Erfahrung gescheiterter Revolutionen (und gelungener Konterrevolutionen) – wieder in der Situation, in der sich die Sozialisten vor 1914 befanden. Mit dem Albtraum eines sogenannten „Arbeiterstaats“, in dem die Arbeiter nichts zu melden haben, ist auch die von ihm alimentierte, weltumspannende Organisation zur Verhinderung von Revolutionen verschwunden. Eine Blaupause für die antikapitalistische Revolution gibt es nicht. Die Wege, die aus dem Labyrinth der Gegenwart herausführen, müssen wir erst noch finden. Angesichts der Verelendung eines Fünftels der Menschheit und der unaufhörlichen Kriege denken wir – wie die Revolutionäre früherer Generationen –, daß keine Zeit zu verlieren ist. Und doch müssen wir mit der Möglichkeit rechnen, daß die Überwindung der kapitalistischen Gesellschaft – gerade so, wie einst die Überwindung der feudalen Welt – Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte in Anspruch nimmt. Die Oktoberrevolution war nur ein erster, gescheiterter Versuch, über die kapitalistische Verfassung der Weltgesellschaft hinauszukommen. Unsere Aufgabe ist es, aus diesem Scheitern zu lernen und neuartige Versuche vorzubereiten – einen Sozialismus, der seine Kinder nicht frißt.

1 „Wenn die kapitalistische Produktion in den nächsten Jahren und Jahrzehnten einen neuen, mächtigen Aufschwung nehmen sollte, dann hieße das, daß wir, der sozialistische Staat, zwar die Absicht haben, vom Güterzug auf einen Personenzug umzusteigen, und das auch tatsächlich zuwege bringen, daß wir aber in Wirklichkeit einen Schnellzug einholen müßten. Einfacher gesagt: Das hieße, daß wir uns in der grundlegenden historischen Einschätzung geirrt hätten. Das würde bedeuten, daß der Kapitalismus seine historische >Mission< noch nicht erschöpft hat, daß die sich entwickelnde imperialistische Phase keineswegs die Phase des Verfalls des Kapitalismus, seiner Konvulsionen und seiner Fäulnis ist, sondern nur die Voraussetzung einer neuen Blüte. Es ist völlig klar, daß unter den Bedingungen einer neuen, langjährigen europäischen und weltweiten kapitalistischen Wiedergeburt der Sozialismus in einem rückständigen Land unmittelbar mit den größten Gefahren konfrontiert wäre. Gefahren welcher Art? Ein neuer Krieg, den auch diesmal das durch den Aufschwung >befriedete< europäische Proletariat nicht verhindern könnte, ein Krieg, in dem unser Feind über ein kolossales technisches Übergewicht verfügt? Eine Flut von kapitalistischen Waren, die ungleich besser und billiger als die unsrigen sind, von Waren, die das Außenhandelsmonopol und danach auch andere Grundlagen der sozialistischen Wirtschaft sprengen? Das ist dann eigentlich schon eine zweitrangige Frage.“ Trotzki, Leo (1925): Kapitalismus oder Sozialismus? Eine Analyse der Sowjetwirtschaft und ihrer Entwicklungstendenzen. In: Trotzki (1997): Schriften, Bd. 3.1, Hamburg (Rasch und Röhring), S. 439.


2   Kaube, Jürgen (2007): „Es kommen härtere Tage. Der Klimawandel erzwingt die soziale Revolution.“ Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. 10. 2007, S. 37.