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Die 4. Internationale nach dem 16. Weltkongress: Wieder eine Perspektive!

Ende Februar 2010 fand der 16. Weltkongress der Vierten Internationale statt. Unser Korrespondent skizziert Verlauf und Ergebnisse. Delegierte, BeobachterInnen und Gäste aus 40 Ländern nahmen an dem Kongress teil, darunter Delegationen der russischen Sozialistischen Bewegung "Wperjod" und der Labour Party of Pakistan (LPP).

07.06.2010

Um über den 16. Weltkongress der IV. Internationale zu berichten, der am 28. Februar an der Nord­seeküste, in Oostende in Belgien, zu Ende gegangen ist, könnte man mit der Bildung einer neuen rus­sischen Sektion der IV. Internationale anfangen, gewissermaßen eine Rückkehr an die Quelle: Die IV. Internationale ist 1938 auf Initiative von Leo Trotzki im Gefolge des Kampfs und der Niederlage der Linken Opposition gegen den Stalinismus, die in den 1920er und 1930er Jahren in Russland vernichtet worden war, gegründet worden. Man könnte damit fortfahren, dass man auf die Anwesenheit von Rep­räsentantInnen zahlreicher lateinamerikanischer Organisationen eingeht, angefangen bei der Strömung „Marea Socialista“ aus Venezuela, die Teil von Hugo Chávez’ Vereinigter Sozialistischer Partei Venezuelas (Partido Socialista Unificado de Venezuela, PSUV) ist und von der der Vorschlag kam, die politische Einheit und die Aktionseinheit der internationalen Strömungen zu verstärken, um kol­lektiv auf den Vorschlag zur Bildung einer V. Internationale zu antworten, den der venezolanische Präsident gemacht hat. Man könnte unterstreichen, wie bedeutsam das Entstehen der Neuen Antika­pitalistischen Partei (Nouveau Parti Anticapitaliste, NPA) in Frankreich ist, die – welche Widersprü­che und ihre Schwierigkeiten als junge Formation sie auch haben mag – den hauptsächlichen neuen Faktor in der europäischen Politik darstellt, zusammen mit den Dynamiken, die auf anderen politischen Brei­tengraden in der deutschen Linken zugange sind.

Um einen Eindruck von dem Erfolg zu vermitteln, den der 16. Weltkongress der IV. Internationale dargestellt hat, möchte ich jedoch lieber drei andere Punkte benennen:

  • Zunächst einmal die Teilnahme. Delegierte, BeobachterInnen, Gäste aus gut 40 Ländern haben es ermöglicht, dass Debatten geführt worden sind, in die Erfahrungen aus allen Kontinenten eingeflossen sind – von Australien bis Kanada, von Argentinien bis Russland, von China bis Großbritannien, vom Kongo bis zu den USA. Dass es gelungen ist, fünf volle Tage lang an ein und demselben Ort vollständig selbstfinanziert, ohne jegliche institutionellen Zuschüsse, eine solche Menge von RepräsentantInnen von Organisationen zusammenzubringen, ist keine einfache Angelegenheit.
  • Dann der Umstand, dass zum ersten Mal in das neue Internationale Komitee (IK), das auf diesem Kongress gewählt wurde, über 40 % Frauen gewählt worden sind. Und eine ganze Reihe von Jün­geren gehört dem IK an. Das IK ist jetzt ein „föderales“ Gremium, d. h. dass die jeweilige nationale Realität über die eigenen RepräsentantInnen verfügt. Es gibt keine „Ausgewichtung“ der zentralen Organe – die Geschichte hat dieser internationalen Strömung beigebracht, dass es keine politische Linie geben kann, die von oben aufgedrückt wird, und noch weniger eine „Modellpartei“; die Zusam­mensetzung des Internationalen Komitees belegt also eine Erneuerung, was die Generationen betrifft, veränderte Mentalitäten und eine neue politische und soziale Realität.
  • Dritter Punkt: Das waren größere, zukunftsgerichtete politische und organisatorische Diskussionen. Der Kongress wandte sich gewissermaßen nach Osten, nach Asien – siehe die fundamentale Rolle der philippinischen Organisation, die bereits erwähnte Anwesenheit der russischen Genossen von der So­zialistischen Bewegung Wperjod, von Genossen der Polnischen Partei der Arbeit (PPP) als Gäste, siehe die Orientierung der Gruppe in Hongkong in China und der neuen Organisation in Japan – die sich im Aufbau befindet – auf die Bildung von Sektionen der Internationale. Vor allem aber ist die Be­teiligung einer Delegation der Labour Party Pakistan (LPP) zu nennen, einer bedeutenden Organisa­tion, deren nationaler Kongress im Januar mit einer Versammlung einen Höhepunkt hatte, an der sich mehr als 10 000 städtische Werktätige, Bauern und nicht zuletzt viele Frauen beteiligt haben. [1]

Erneuerung

Für die IV. Internationale bedeutet das eine Erneuerung, und ist es ein Zeichen für die Überwindung der Schwierigkeiten in den 1990er Jahren und im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts. Nach einer Reihe von Austritten oder Abspaltungen und einem Verlust von Perspektiven hat die Diskussion über die Möglichkeit oder wenigstens den Willen, eine „neue Internationale“ anzugehen – als Frucht eines möglichen politischen Prozesses, der durch die in Frankreich getroffenen Entscheidungen, durch die Beteiligung einer Organisation wie der in Pakistan oder die in Lateinamerika stattfindenden Debatten bereits in Gang gekommen ist –, der internen Debatte der Vierten einen neuen Impuls und neuen Schwung verliehen. Der politische Prozess, den es aufmerksam zu verfolgen gilt, ist derjenige, der im Aufbau von „neuen antikapitalistischen Parteien“, breiten Parteien mit Masseneinfluss, Gestalt ange­nommen hat. Eine Perspektive, die einen organischen internationalen Charakter hat, ohne dass sie sich automatisch in eine „Linie“ übersetzt, die man überall und sklavisch befolgen müsste.

Eine Perspektive, das soll unterstrichen werden, die mit dem Vorhaben und dem Ansatz einhergeht, die bestehende politische Strömung zu verstärken, die es nun seit über 70 Jahren gibt und die weiter­hin eine bestimmte Vitalität unter Beweis stellt. Davon zeugt, dass sie dazu in der Lage gewesen ist, einen Sitzungstag dem Klimawandel zu widmen und eine Resolution zu diesem Thema zu verabschie­den, das als ein wichtiges neues Merkmal des begonnenen Jahrhunderts und ein entscheidendes Kampffeld im Konflikt zwischen Kapital und Arbeit aufgefasst wird. Die Aufmerksamkeit für die neuen Themen und die neuen Subjekte von Konflikten war im Übrigen bereits bei dem vorausgehen­den Weltkongress zu bemerken, auf dem eine Resolution zur globalisierungskritischen Bewegung und eine weitere zur LGBT-Frage (Lesbians, Gays, Bisexuals, Transgendered) angenommen worden ist. Marxistische Organisationen, die dazu in der Lage sind, Fragen, die in der Geschichte der Arbeiterbe­wegung hoch umstritten waren, in ihr Programm zu integrieren oder sich das auch nur vorzunehmen, sind nicht allzu zahlreich gesät. Im Gegenteil: es gibt keine andere.

Selbstverständlich gilt es, die Größenordnungen richtig einzuschätzen: Wir sprechen, was ver­schiedene Teile der Welt betrifft, von kleinen politischen Organisationen, zum Teil kleinen Gruppen, doch im allgemeinen handelt es sich um politisch aktive Kollektive, die in der sozialen und politischen Realität des Landes verwurzelt sind. Der Umstand der Zugehörigkeit zu einem internationalen Rah­men hat es ermöglicht, bis jetzt eine gewisse Lebendigkeit und die Fähigkeit zur gemeinsamen Dis­kussion zu bewahren. Folglich auch, auf die anstehenden Fragen gute Antworten zu geben, wie etwa auf die mögliche Einberufung einer Debatte um eine V. Internationale durch die venezolanische Re­gierung. Der propagandistische Charakter dieses Vorschlags, und dass es komplex ist, wenn solch eine Einladung von einem Staatschef ausgeht, war allen klar. Zugleich aber, und das ist mehrfach betont worden, verleiht diese Möglichkeit der Konzeption der Internationale neue Glaubwürdigkeit und neue Sichtbarkeit, da diese Dimension in der Auseinandersetzung mit der kapitalistischen Globalisierung und deren Krise entscheidend ist. Und es ist kein Zufall, dass es neben dem Vorschlag von Chávez einen weiteren gibt, der von den US-AmerikanerInnen um ZNet ausgegangen ist; in der Liste der Un­terzeichnerInnen sind Noam Chomsky, Michael Albert, Vandana Shiva, Michael Löwy, John Pilger und viele andere Namen zu finden. [2]

Der Kongress hat also beschlossen, dass die Vierte Internationale sich an dieser Debatte beteiligen und zugleich ihre Konzeption der Internationale beibehalten wird, d. h. eines Organismus, der auf ein Programm, eine gemeinsame Perspektive (Überwindung des Kapitalismus), interne Demokratie, ge­sellschaftliches Wirken und absolute Unabhängigkeit im Verhältnis zu den Regierungen begründet ist. Zugleich ist der Aufruf von „Marea Socialista“ zu einer internationalen Versammlung in Caracas im Juni positiv aufgenommen worden. Ferner stand die Frage der sozialen Bewegungen im Zentrum der Diskussion, mit einer Unterstützung für die „Gipfelkonferenz“ zur Klimaerwärmung in Cochabamba, zu der von dem bolivianischen Präsidenten Evo Morales eingeladen worden ist; die diversen Sozialfo­ren – Sozialforum des gesamten amerikanischen Doppelkontinents („de las Americas“) in Asunción (Paraguay), Europäisches Sozialforum in Istanbul, Welt­sozialforum 2011 in Dakar (Senegal); der euro-lateinamerikanische Gipfel im Mai in Madrid und die Mobilisierung gegen die NATO im November 2010 in Lissabon. Einen neuen Impuls hat das Interna­tionale Institut für Bildung und Forschung (IIRE) bekommen, das in Zukunft mit zwei neuen „regio­nalen“ Einrichtungen zusammenarbeiten kann: mit dem IIRE Manila (Philippinen) und einem IIRE Islamabad (Pakistan).

Auf europäischer Ebene steht – abgesehen von den bereits erwähnten wichtigen Gipfelkonferenzen in Madrid und in Lissabon – an, dass der Prozess der Konvergenz der antikapitalistischen Linken wie­der in Gang gebracht werden soll; solch ein Prozess soll über verschiedene Formeln und Formen hin­aus bewirken, dass man bei den gemeinsamen Reflexionen voran kommt und vor allem gemeinsame politische Kampagnen anstoßen kann. In diesem Zusammenhang hat der Kongress sich für die Organi­sierung von thematischen Konferenzen ausgesprochen, die es möglich machen soll, dass im Hinblick auf gemeinsame Initiativen über unterschiedliche Fragen diskutiert wird. Die erste Versammlung wird dem Thema Wirtschaftskrise und insbesondere der Frage, wie wirksam auf die drei Aspekte Entlas­sungen, Angriffe auf die Rentensysteme und Angriffe auf die öffentlichen Dienste begegnet werden kann.

Salvatore Cannavò
(Der Autor gehört dem Büro der IV. Internationale und der Leitung der italienischen Organi­sation Sinistra Critica (Kritische Linke) an, die auf ihrer nationalen Konferenz im November 2009 beschlossen hat, Beziehungen der „politischen Solidarität“ zur IV. Internationale aufzunehmen und in sie ihre eigene historische Erfahrung einzubringen. Aus dem Französischen übersetzt und mit Anmerkungen von Friedrich Dorn, Quelle: INPREKORR)