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Der Finanzkapitalismus frisst seine Kinder

Kredite werden teurer, die Konjunktur schwächt sich ab, und trotzdem steigen die Börsenkurse. Kündigt sich hier bereits ein neuer Aufschwung an? Oder unterschätzen Finanzanleger das Ausmaß der im Spätsommer ausgebrochenen Finanzkrise? Stehen gar, wie in den 70er Jahren, Wirtschaftskrise und Inflation gleichzeitig ins Haus? Fragen über Fragen, die die Gesellschaft der Marktteilnehmer von höchsten Autoritäten beantwortet wissen will — den Zentralbankchefs in Tokyo, Frankfurt und insbesondere Washington.

17.12.2007

Deren ehemaliger Präsident Alan Greenspan hat dem Kapitalfetisch ein Gesicht gegeben, an dem der amtierende Zentralbankchef Ben Bernanke sowie die Zauberlehrlinge Jean-Claude Trichet in Frankfurt und Toshihiko Fukui gemessen werden. Um die Fragen zu beantworten, rufen diese den Geist Milton Friedmans an.
Dieser hatte aus seinen monetaristischen Analysen der Großen Depression Schlussfolgerungen gezogen, die in den 70er Jahren wirkungsmächtig wurden und es seither geblieben sind. Keynes‘ Argument, die Depression Ende der 20er Jahre sei durch gesamtwirtschaftlichen Nachfragemangel verursacht worden, dem durch wirtschaftspolitische Intervention beizukommen sei, stellte er die Behauptung entgegen, Fehlentscheidungen der US-Zentralbank hätten zu einer katastrophalen Geldknappheit geführt.
Infolgedessen hätten viele Geschäfte nicht wie geplant getätigt werden können, weil die zu ihrer Abwicklung notwendigen Tauschmittel — nichts anderes stellt Geld in Friedmans Weltbild dar — nicht verfügbar waren. Allgemeiner Preisverfall und Absatzstockung seien die Folge gewesen, deren Ursache ein Versagen der Geldpolitik.
Wo Keynes ein Marktversagen diagnostizierte, das er durch politische Intervention zu korrigieren suchte, argumentierte Friedman genau anders herum: Erst die Politik führe zu Störungen eines ansonsten stets zum Gleichgewicht tendierenden Marktwirtschaft.
Wenn Geldknappheit zu Deflation und Depression führen, behauptete Friedman weiter, verursacht eine großzügige Geldversorgung ungekehrt eine Überhitzung der Konjunktur. Die damit verbundene Inflation und Überproduktion sind zwar lästig, würden in einer funktionierenden Marktwirtschaft aber problemlos dadurch korrigiert, dass Unternehmen ihre Überschüsse schließlich zu niedrigeren Preisen verkaufen würden. Die Preisanpassung bewirke einen Ausgleich von Angebot und Nachfrage, dieser sei jedoch in Sozialstaaten mit starken Gewerkschaften nicht mehr möglich. Da würden Zentralbanken zur Finanzierung von Sozialprogrammen herangezogen.
Darüber hinaus würde Geld, das die Zentralbank bereitstellt, weniger den realen Wirtschaftskreislauf als eine von den Gewerkschaften losgetretene Lohn-Preis-Spirale schmieren. Gesetzlich anerkannte Gewerkschaften und Sozialstaat seien für die inflationäre Aushöhlung des ehrlich erworbenen Reichtums verantwortlich.
Unter diesen Bedingungen trat Friedman für eine restriktive Geldpolitik ein und kalkulierte dabei sogar eine "Stabilisierungskrise" ein: Die Zentralbanken müssten gegen die Begehrlichkeiten von Parlament und Regierung abgeschirmt, die Macht der Gewerkschaften gebrochen und der Sozialstaat zurückgefahren werden.
Friedmans Theorie fasste das unter den vermögenden Klassen verbreitete Unbehagen gegenüber organisierten Arbeitern und Sozialstaat in einer wirtschaftspolitischen Strategie zusammen: Unter der Führung autonomer Zentralbanken sollte der Wert des Geldes wiederhergestellt werden.

Blitzkrieg des organisierten Geldes

Die Senkung der Inflationsrate war das erste Etappenziel im Feldzug gegen die Arbeiterklasse. Eine durch Geldverknappung in den frühen 80er Jahren ausgelöste Krise führte zu massiv steigender Arbeitslosigkeit und zur Aushöhlung gewerkschaftlicher Verhandlungsmacht. In der Folge konnten Arbeiter weder die Kaufkraft ihrer Nominallöhne gegen Preissteigerungen verteidigen, noch die steigende Produktivität ihrer Arbeit in steigende Reallöhne übersetzen.
Die Mobilisierung der industriellen Reservearmee beendete den inflationären Verteilungskampf zwischen Lohnarbeit und Kapital und führte zu realen Verschiebungen der Einkommensverteilung. An die Stelle der Lohn-Preis-Spirale — oder handelte es sich um eine Preis-Lohn-Spirale? — trat eine Umverteilung vom Lohn zum Profit.
Genau genommen führte die von Friedman inspirierte Politik des knappen Geldes nicht zu einer Krise des Kapitalismus, sondern zu einer Krise der organisierten Arbeiterbewegung, die sich an Vollbeschäftigung und Sozialpartnerschaft so sehr gewöhnt hatte, dass sie vom Blitzkrieg des organisierten Geldes unvorbereitet erwischt wurde.
Friedmans eigener Logik folgend hätte die Politik des knappen Geldes nicht zu einer vorübergehenden Konjunkturkrise, sondern zu einer anhaltenden Depression führen müssen, in der mangelnder Warenumsatz schließlich auch eine Krise des Profits herbeigeführt hätte. Dazu kam es nicht, weil massive Rüstungsaufträge der Reagan-Regierung die US-Wirtschaft direkt und, über US-Importe, die Weltwirtschaft indirekt angekurbelt haben.
Darüber hinaus heizte der wachsende Reichtum der vermögenden Klassen deren Ausgabenlust an. Während sich die US-Mittelklasse demonstrativ dem Konsum hingab, investierte das organisierte Geld am liebsten in sich selbst.
In dem Bemühen, den lästigen Produktionsprozess und insbesondere dessen ungeliebten Kern, die auszubeutende aber leider auch eigenwillige lebendige Arbeitskraft zu umgehen, verschob es die Akkumulation von der Güter- und Dienstleistungsindustrie zum Finanzsektor. An dessen Horizont zeichneten sich Renditen ab, deren Realisierung anstelle des Managements von Produktions- und Zirkulationsprozessen nur noch einen Anruf beim befreundeten Broker erforderte.
Das Herz der Wirtschaft schlug nicht mehr in den Fabriken entlang der Mainstreet, sondern an der Wall Street. Ihr Rhythmus wurde von der Zentralbank in Washington kontrolliert, die unter Alan Greenspan zum Herzschrittmacher der Wall Street wurde.
Mit seiner Politik der nahezu ungehemmten, monetaristischen Grundsätzen Hohn sprechenden Geldausweitung hielt er die Finanzinvestoren bei Laune. Um die Einkommensansprüche der Wall Street zu befriedigen, trieb das im Industriesektor verbliebene Management die Arbeiter zu immer schnellerer und längerer Mehrwertproduktion an.
Um den Mehrwert zu realisieren, musste die Mittelklasse kaufen, kaufen, kaufen. Trotzdem reichte die Beschleunigung von Produktions- und Zirkulationsprozess nicht aus, um die vom organisierten Geld geforderten Profite in seine Taschen zu spülen. Die erwarteten Profite, mithin die Wertpapierkurse, stiegen schneller als die realisierten Profite. Die Folge war eine Wertpapierinflation.
Der real praktizierte Monetarismus, der mit der monetaristischen Theorie nicht übereinstimmt, hat also nicht zum Ende der Inflation geführt, sondern zu deren Verschiebung von den Märkten für Güter und Dienstleistungen zu den Finanzmärkten.
Nicht realisierbare Renditeansprüche (Fehlspekulationen) haben seit den 80er Jahren zu einer Welle von Finanzkrisen geführt. In deren Verlauf mussten nichtrealisierbare Einkommensansprüche mehrfach zurückgeschraubt werden. Um solche Verluste gering zu halten, wurde gleichzeitig das Arbeitstempo weiter beschleunigt und eine neue Welle kapitalistischer Landnahme in Angriff genommen. Damit wurde stets auch der nächste Börsenaufschwung eingeleitet und der nächste Börsenkrach vorprogrammiert.
Die theoretischen Erben Friedmans, dessen Ideen für die Organisation des großen Geldes als führende Fraktion innerhalb der Bourgeoisie so wichtig gewesen waren, plädieren inzwischen für eine Beschneidung geldpolitischer Interventionen und einen entschlossenen Kampf gegen die Wertpapierinflation. Ideen von Friedrich Hayek und Joseph Schumpeter aufnehmend, plädieren sie für eine Zurückdrängung oder völlige Aufgabe staatlicher Geldpolitik und betonen stattdessen die Notwendigkeit von Kapitalvernichtung als Bestandteil kapitalistischer Reinigungskrisen.
Solche Ideen waren unter den vermögenden Klassen wohl gelitten, solange es gegen die Besitzstände einer verbürgerlichten Arbeiterklasse ging. Seit der Finanzkapitalismus jedoch droht, seine eigenen Kinder zu fressen, steht staatliche Protektion wieder hoch im Kurs.
Die zwischen Kreditschulden und Wertpapierbesitz zerrissene Mittelklasse sucht vor allem Schutz vor sich selbst. Geldpolitisch begleitete Wertpapierinflation erlaubt ihr die Aufrechterhaltung kollektiver Vermögensillusionen, was umso wichtiger ist, je öfter der Gerichtsvollzieher an einzelne Haustüren klopft.
Großes Geld und konzentrierter Produktionsmittelbesitz wappnen sich gegen die Angriffe einer möglicherweise vom monetaristischen Glauben abfallenden Mittelklasse und einer ebenso möglicherweise gegen Arbeitshetze und miserable Lebensbedingungen revoltierenden Arbeiterklasse.
Aus dieser Perspektive ist der von George Bush erklärte Krieg gegen den Terror auch ein Präventivkrieg gegen die Ausgebeuteten, Unterdrückten und Widerständigen im eigenen Land. Die Markteuphorie der 90er Jahre, die Alan Greenspan zum personifizierten Kapitalfetisch machte, ist lange vorbei. Seine Nachfolger sind nur noch blasse Charaktermasken, die sich die mediale Aufmerksamkeit mit Militärs, Juristen und Polizeichefs teilen müssen.
Hat eigentlich mal jemand behauptet, in einer entfesselten Marktwirtschaft stürbe der Staat ab?

Ingo Schmidt

(Quelle: SOZ, Dezember 2007)